Kennung: 136

Stein am Rhein, 23. Juni 1884 (Montag), Brief

Autor*in

  • Plümacher, Olga

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Stein a/Rh den 23. Juni 1884.


Mein lieber Franklin!

Herzlichen Dank für Deinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Olga Plümacher, 21.6.1884., den ich gesternden 22.6.1884. erhielt. Ich glaubte wirklich ich sei Dir einen Brief schuldig, und hätte Dir auch schon lange geschrieben, wenn ich erstens Deine Adresse nicht erst vor 2 Tagen von Deiner Mutter erhalten hätte, und wenn ich zweitens nicht erst hätte mein BuchOlga Plümachers Abhandlung „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart. Geschichtliches u. Kritisches“ wurde am 14.6.1884 unter den neu erschienenen Büchern angezeigt [Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Jg. 51, Nr. 137, 14.6.1884, S. 2754 (Sp. 3)]. wollen einbinden laßen, damit Du es angenehmer lesen könnest, als en brochure(frz.) ungebunden; zum Ende des 19. Jahrhunderts gab es noch zahlreiche Bücher, die als Broschüre erschienen und beim Buchbinder individuell eingebunden wurden., wo bei größeren Büchern gewöhnlich die Bogen auseinander fallen, wenn man die Blätter aufschneidet. Also hier ist nun das lang erwartete Machwerk! Lese es gelegentlich und kritisire es rücksichtslos, es soll mir Freude machen Deine Meinung zu hören, auch wenn sie | tadeln muß, denn „das u/U/nfehlbarseinMit dem Ersten Vatikanischen Konzil (1870) war die Unfehlbarkeit des Papstes im Amt, das heißt in christlichen Glaubens- und Sittenfragen, als Dogma verkündet worden. überlaßen wir dem Papst“ – wie Hartmann zu sagen pflegtOlga Plümacher war persönlich mit dem in Lichterfelde bei Berlin lebenden Philosophen Eduard von Hartmann bekannt; sie korrespondierte und besuchte ihn.. Das Buch hat mir gestern schon einen Brief eingetragen, der mich recht heiter stimmte. Schreibt mir da ein Herr Dr. August SiebenwitzSchreibversehen, statt: Siebenlist. aus Preßburg: er hätte mein Buch mit größtem Interesse und Vergnügen gelesen, aber auch mit größtem Befremden; denn; warum in aller Welt schriebe ich „keine Sterbenssylbe“ von seinem großen WerkAugust Siebenlists 447 Seiten umfassende Abhandlung „Schopenhauer’s Philosophie der Tragödie“ war 1880 bei Carl Stampfel in Preßburg und Leipzig erschienen.Schopenhauers Philosophie der Tragödie“? Er bitte mich dringend ihm doch brieflich mitzutheilen, warum ich ihn übergangen habe. Nun, ich habe dem guten Manne den Wunsch erfüllt und ihm geschrieben, daß ich einen sehr triftigen Grund gehabt: ich hätte eben bis zur Stunde nichts von der Existenz seines Buches | gewußt; wenn übrigens mein Buch eine zweite Auflage1888 erschien eine zweite Ausgabe des Buchs. erleben sollte, so wollte ich ihn berücksichtigen, falls sein Werk sich der Oekonomie meines Planes einordnen laße. – Gestern war ein guter Tag; außer Deinem Briefe (und dem erheiternden des Herrn Siebenwitz) erhielt ich auch eine sehr schöne, wohlgelungene Photographiedie Fotografie von Hermann Plümacher, der in Heilbronn eine Kaufmannslehre begonnen hatte, mit seinen Freunden ist nicht ermittelt. meines Jungen, zusamen mit zwei Freunden; beides hübsche, intelligent-blickende junge Männer; die „drei muntere Bursche“ bilden ein hübsches Kleeblatt, denn in dieser Weise sind sie aufgestellt: zwei sitzend, der Kleinste, zwischen und hinter ihnen stehend. – Aber auch sonst noch war es ein angenehmer Tag. DagmarOlga Plümachers Tochter Dagmar Plümacher. war den Tag über fort, und da das Wetter äußerst lieblich war, so gedachte ich mir einmal in freier Luft gütlich zu thun, ganz stille | und friedlich für mich allein. Ich setzte mich also im Laufe des Nachmittags in den Bahnzug und fuhr nach dem Dörflein Mannebachalternative Schreibweise im 19. Jahrhundert, statt: Mannenbach; ein Dorf im Kanton Thurgau, am Südufer des Untersees (Bodensee), keine 17 Kilometer von Olga Plümachers Wohnort Stein am Rhein entfernt und durch eine am Ufer gelegene Bahnstrecke verbunden., wo die N Bonabarte’salternative Schreibweise im 19. Jahrhundert, statt: Bonaparte’s. Charles Louis-Napoléon Bonaparte, der spätere Kaiser Napoleon III., wurde 1832 zum Ehrenbürger des Kantons Thurgau ernannt, nachdem er eine Ehrenbürgerschaft der Gemeinde Salenstein-Mannenbach – sie hätte seinen Verzicht der französischen Staatsbürgerschaft bedeutet – abgelehnt hatte. Seine Mutter Hortense Beauharnais, Stieftochter Napoleon I. und von 1802 bis 1810 Ehefrau ihres Stiefbruders Louis Bonaparte, hatte Schloss Arenenberg in Mannenbach 1817 käuflich erworben und zu ihrem und ihres Sohnes Wohnsitz gemacht. Bürger sind. Von dort stieg ich nach dem Schlößchen Arenabergalternative Schreibweise im 19. Jahrhundert, statt: Arenenberg. hinauf, um mir wieder einmal die Bilder jener vergangenen Größen zu betrachten, zugleich aber auch mich an der herlichen Aussicht zu weiden, die man von Arenaberg aus über den UnterseeTeil des Bodensees; begrenzt von den Städten Stein am Rhein, Radolfzell und Konstanz-Kreuzlingen, wo das Wasser in den Obersee fließt. hin genießt. Das Gestade ist ein Wald von Obstbäumen, besonders Mannebach liegt förmlich verstekt und verborgen in einem Hain schöner Nußbäume. Gerade vis-a-vis(frz.) gegenüber. des Arenabergs dehnt sich die Insel ReichenauhSchreibversehen, statt: Reichenau. mit ihren drei Dörfern: Ober- Mittel- und Unterzell, ihren zwei uralten KirchenDie Insel Reichenau beherbergt drei mittelalterliche Kirchen: die Basilika St Peter und Paul (Unterzell), die Kirche St. Georg (Oberzell) und das zum Kloster Reichenau gehörende Münster St. Maria und Markus (Mittelzell). und dem alten weithin leuchtenden SchloßeGemeint sein dürfte das Kloster Reichenau (siehe oben).. Darüber hinaus liegt die | Einbuchtung des Radolfzeller-Sees, im Hintergrund die Berge des Höhgaues; im Vordergrund aber Dorf an Dorf und Schloß an Schloß, alles von Reben und Obst dicht bekränzt. Es war auch eine herliche Beleuchtung, wie ich sie ganz besonders liebe: der Himmel war leicht bewölkt; gerade genug, daß man weder von grellem Licht noch von Hitze belästigt wurde, und doch nicht so stark, daß dustere Schatten auf die lachende Gegend fielen. Alles lag in silbernem Dufte da, kühl, weich und wonnig.

Im Schloße habe ich recht sehr gewünscht, daß Du und mein Junge mit dabei sein möchtest.

Bevor Du nach Deutschland gehstWedekind begann zum Wintersemester 1884/85 ein Jurastudium an der Ludwig-Maximilians-Universität in München., solltest Du doch wirklich noch einmal zu mir kommen. Für längere Zeit wäre es Dir ja natürlich langweilig, aber | zwei- oder dreimal vierundzwanzig Stunden glaube ich würdest Du Dich mit der „philosophischen Tante“ ganz ordentlich amüsiren, wenn wir nach den vielen schönen Orten der Steiner Nachbarschaft unsere Entdeckungsreise machten. ArenabergÜber die Sammlungen des Schlossmuseums Arenenberg – 1855 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, 1906 dem Kanton Thurgau geschenkt – heißt es noch heute in der Selbstdarstellung: „Das Napoleonmuseum verfügt über eine umfangreiche Sammlung an Gemälden, Möbeln, Kleingegenständen, Geschirr, Graphiken, Autographen und Büchern aus dem Besitz von Kaiserin Joséphine, Königin Hortense sowie Prinz Louis Napoléon.“ [https://napoleonmuseum.tg.ch/de/napoleonmuseum/wissenschaft/sammlungen.html/8837; abgerufen am 13.4.2024] enthält eine ziemliche Anzahl Gemälde der berühmtesten Maler der/s/ ersten Drittels dieses Jahrhunderts; meistens Pa/o/rtraits der Napoleoniden, aber auch zwei große LandschaftenDie beiden Aquarelle von Alexandre Calame hängen im Billard- und im Musiksalon [freundliche Auskunft Christina Egli, Stellvertretende Direktorin des Napoleonmuseums Thurgau (Schloss Arenenberg), email vom 3.7.2024]. von Calame und etwas MytologieSchreibversehen, statt: Mythologie.. Mich intressiren nur die Portraits. Wie predigt da alles die Vergänglichkeit in diesen Räumen; warlichSchreibversehen, statt: wahrlich. das ist auch ein Capitel aus dem großen „Pessimismus-Buch“ der Weltgeschichte dieses Schlößlein am Ufer des Untersees.

Das schönste BildEine aus dem Jahr 1797 stammende Fassung oder Vorstudie des Ölgemäldes „Bonaparte au Pont d’Arcole“ („Bonaparte an der Brücke von Arcole“ bzw. „Napoleon auf der Brücke von Arcole“) von Antoine-Jean Gros [vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bonaparte_an_der_Br%C3%BCcke_von_Arcole]. dünkt mich Napoleon der erste auf der Brücke | von Arkol mit der Fahne in der Hand. Man sieht nichts als den Kopf, alles andere verschwindet vor dem Lichte des Genius, welches der Malerder Historienmaler Antoine-Jean Gros. verstanden hat hier auf die Leinwand zu zaubern. Napoleon ist hier noch ganz jung, noch ganz mager, das bloße Gesicht, mit den dunkel umrandeten, brennenden Augen ist wie aus Elfenbein genittenSchreibversehen, statt: geschnitten.; hier ist noch keiner jener harten Züge wahrzunehmen, die später, als N. stark zu werden anfing die häßlichen Eigenschaften seines Charakters andeuteten; hier ist er eben nur das Welteroberer-Genie. Eigenthümlich ist es, daß die schweisfeuchten Haare, die der Wind in die Stirne bläst dunkelblond gemalt sind. Ist das eine Phantasie des Malers, oder war N. I in der Jugend hell, wie auch sein SohnNapoleon Franz Joseph, legitimer Sohn von Napoleon I mit Marie-Louise von Österreich; 1811-1814 trug er den Titel ‚König von Rom‘ (väterlicherseits), 1814-1817 ‚Prinz von Parma‘ (mütterlicherseits), seit 1818 Herzog von Reichstadt (seitens des Großvaters Kaiser Franz I), zudem vom 22.6. bis 7.7.1815 Napoleon II, Kaiser der Franzosen. Er starb 21-jährig an Tuberkulose., der | Herzog von Reichstadt, blond war, und wie Napoleon der III.Charles-Louis-Napoléon Bonaparte, Neffe Napoleon I., Sohn von dessen Bruder Louis Bonaparte und Hortense des Beauharnais, der Stieftochter Napoleon I.; er wuchs im Schloss Arenenberg auf, war 1848-1852 französischer Staatspräsident und 1852-1870 als Napoleon III. Kaiser der Franzosen. es nach allen Berichten, die ich hörte von Leuten die ihn persönlich gekannt haben, es gewesen sein soll, obgleich er dagegen hier auf einem BildePrinz Louis Napoleon auf Arenenberg, Gemälde von Felix Cottrau aus dem Jahr 1832 [vgl. Hugentobler 1966, Tafel 13 (bei S. 41)]. sehr dunkel, fast schwarz erscheint. Es ist übrigens merkwürdig: auch die Haarfarbe ist der Mode unterworfen; und wenn nun eine Farbe gerade in der Mode ist, so ist auch bei den modischen Malern die Neigung vorhanden die Leute ein bischen dunkler oder ein bischen heller zu malen, je nach dem, um sie dem Mode-Ideal näher zu bringen. In den 30.er Jahren waren die Schwarze „Locken“ – „mild, dicht und weich“ in die Stirne „geweht“ die Mode – und ich glaube, daß Byrons Heldender „Byronic Hero“, ein literarischer Archetyp – Antiheld mit einer von Weltschmerz geprägten pessimistischen Lebenshaltung, zynisch, kulturmüde, lebensüberdrüssig, immoral, narzisstisch –, den der englische Romantiker George Gordon Byron schuf. Über die Haarpracht der literarischen Figuren heißt es in den (übersetzten) Verserzählungen Byrons: „Es wallt ihr bläulich schwarzes Haar / In Locken, wenn’s entfesselt war,“ [Der Giaur. Fragment einer türkischen Erzählung von Byron. Aus dem Englischen übersetzt von Friederike Friedmann. Leipzig 1834, S. 28] oder „Die dunkle Wang’, die Stirne hoch und bleich / Beschatten Locken schwarz und wild und weich.“ [Der Korsar. Eine Erzählung von Lord Byron. Frei übersetzt von Adolf Seubert. Leipzig (um 1875), 1. Gesang, Strophe Nr. 9, S. 13], Giaur, Korsar u.s.w. sehr mitbestimmend für | für diese Mode waren. Auf diesem Bild ist der Prinz Louis (wie man damals den spätern Napoleon III nante) ganz romantisch aufgefaßt: in einer Schnee- Sturm- und Mondschein-Nacht steigt er, den Hut in der Hand, die „schwarzen Locken“ vom „Sturm“ verweht den Schloßberg hinauf, den – natürlich auch schwarzen – schnaubenden Gaul am Zügel führend. – Aus derselben Zeit ungefähr ist ein Bild„Königin Hortense auf Arenenberg“ (Öl auf Leinwand, 162 x 116,5 cm), Gemälde von Felix Cottrau aus dem Jahr 1834 [vgl. Hugentobler 1966, Tafel 14 (bei S. 48); https://www.akg-images.de/archive/Konigin-Hortense-auf-Arenenberg-2UMEBMG6RM8S.html]. der Königin HortenceHortense de Beauharnais, Stieftochter und Schwägerin Napoleon I., Königin von Holland und Mutter von Napoleon III., erwarb 1817 Schloss Arenenberg, wo ihre Söhne aufwuchsen., das sie in Lebensgröße und ganzer Figur am Piano sitzend zeigt. Wenn man einen Sohn hat der im Mondschein mit einem schwarzen GausSchreibversehen, statt: Gauls. herum irrt, so ist man gewöhnlich nicht mehr jung; die Hortence war damals schon sehr „fadet flower(engl.) verblüht.“; das Gesicht etwas scharf und farblos. Deßhalb setzte sie der MalerFelix Cottrau. in die Nähe einer farbigen Glasscheibe, so daß | man das Gesicht jetzt durch den rosigen Lichtstreif hindurch sieht, der von der Scheibe hervorgerufen, schräg durch’s Gemach geht. Das Bild ist ganz für virtuos gemalt, die Lichteffecte, der Atlaß, der Sammt, die Juwelen, alles merkwürdig schön „gemacht“; das ganze Bild aber in der Gesuchtheit der Beleuchtung und der Abgeschmaktheit des Costüms – es soll à la MarieSchreibversehen, statt: Maria. Stuart sein – wirkt widerwertigSchreibversehen, statt: widerwärtig.. Dagegen ist ein anderes Bildvermutlich das Gemälde „Königin Hortense“ von François Pascal Simon Gérard aus dem Jahr 1805 [vgl. Hugentobler 1966, Tafel 1 (beim Titelblatt)]. von ihr, auch ganze Figur, als ganz junge Frau, im sogenant griechischen Gewande der Jahre 1790 – 1810 sehr anmuthig und auch exelentSchreibversehen, statt: excelent. gemalt. Von Winterhalter, dem berühmten Damen-Maler der 50er und 60er Jahre unseres Jahrhunderts, ist ein Portrait der Kaiserin„Kaiserin Eugenie“ von Franz Xaver Winterhalter, entstanden 1861 [vgl. https://commons.wikimedia.org/wiki/Eug%C3%A9nie_de_Montijo?uselang=de]. Eugenie, aus der ersten Zeit ihrer Ehe, da. Es ist schier von hinten aufgenommen, | so daß sie den Kopf etwas wenden muß, damit man nur eben das Profil rein sieht. Wie schön ist sie aber! Ganz weiß, wie eine weiße Rose, nicht mehr Farbe auf der zarten Wange als eine weiße Rose im innersten Kelche hat; das goldige Haar nachläßig in ein paar Locken aufgesteckt, kein Schmuck, als eine Reihe großer Perlen um den marmor weißen Hals – und das alles hingemalt, so leicht, wie nur mit ein paar Pinselzügen auf einem ebenfalls ganz leichten, silberhellen Hintergrund. Ein Bild vom PrinzenEs dürfte sich um das 1874 von Jules Joseph Lefebvre gemalte Portrait „Lulu“ handeln, das Eugene-Louis-Napoleon Bonaparte – nach seiner Proklamation als Napoleon IV. –18-jährig im Gesellschaftsanzug mit Cordon zeigt (aus dem Jahr 1878 stammt ein ganz ähnlich arrangiertes Portrait von ihm).Lulu“, als Jüngling von 19-20 Jahren gemalt, im Gesellschaftsanzug mit dem Cordon der EhrenlegionGroßes Band und Orden der Ehrenlegion; höchste Klasse des von Napoleon Bonaparte 1802 eingeführten französischen Verdienstordens., ist nur ansprechend, d.h. rührend wegen dem TraurigenEugene-Louis-Napoleon Bonaparte starb 23-jährig am 1.6.1879 als Freiwilliger der britischen Armee während des Zulukriegs in Südafrika., was sich an die Erinnerung an diesen Jungen knüpft. Das Bild war noch nicht | da, als ich das letzte mal auf Arenaberg war, und ich war neugierig darauf, weil man mir gesagt hatte, es gleiche dem HermannOlga Plümachers Sohn.. Die Ähnlichkeit ist aber nicht groß; beides sind eben hübsche junge Leute, mit dichtem Haar und feinen Brauen und gutem Gesicht. Der Prinz aber ist feiner in den Zügen, aber hat weniger Festigkeit in Mund und Kinn. – Doch genug nun! Es ist noch so viel ansprechendes und interessantes da zu sehn, daß ich noch manchen Briefbogen damit füllen könnte es zu erwähnen, und vielleicht langweilte Dich das nur – denSchreibversehen, statt: denn. Bilder und Büsten, überhaupt Kunstwerke, kann man ja doch nicht beschreiben. Interessirst Du Dich aber für das hier eingesargtezur Aufbewahrung verschlossene. Stückchen Geschichte, nun so komme eben einmal und sieh’ es Dir an. – Den „TraumVon ihrem philosophischen Traum, den Wedekind in Verse wandeln sollte, schrieb Olga Plümacher erstmals am 20.2.1884. Sie schickte eine Abschrift mit dem nächsten Brief [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 30.6.1884].“ habe ich irgend wie verlegt, will ihn | aber suchen und ihn Dir senden. Must Dir aber ja keine Gewalt anthun: wenn er Dich nicht wirklich lockt ihn in metrische Form zu bringen, so thue es ja nicht, oder benutze ihn nur als Anregung und mache etwas ganz anderes daraus. Mir liegt an der Sache weiter gar nichts dran, als daß es eben ein halbwegs gescheiter Traum war, was nicht gar zu oft vorkommt. Ich glaube Rückert sagt „den Traum magstDas Zitat („den Traum magst Du einen Spiegel nennen, darin kannst Du Dich selbst erkennen“) ist nicht ermittelt. Der Topos war lange bekannt: Der vielgelesene Volksaufklärer Franz Xaver Schmidt schrieb 1860: „So ist also der Traum im Grunde betrachtet ein Spiegel, den dir Gott vorhält, damit du dich selbst erkennen mögest.“ [(Franz Xaver Schmidt-Schwarzenberg:) Quellwasser für das deutsche Volk. Zwickau 1860, S. 51] und der Philosoph Franz Anton Nüsslein fragte auf Immanuel Kant bezugnehmend schon 40 Jahre zuvor: „Ob der Traum ein Spiegel sey, in welchem sich der Mensch selbst erkennen könne?“ [Franz Anton Nüsslein: Grundlinien der allgemeinen Psychologie zum Gebrauche bey Vorlesungen. Mainz 1821, S. 136] Du einen Spiegel nennen, darin kannst Du Dich selbst erkennen – “; wenn das so schlechtweg wahr wäre (wie es Gott lob nicht ist), so wäre ich ein böses wüstes Weib; denn in de im Traum raufe ich mich zuweilen mit den Leuten und habe auch schon Leute umgebracht. Nur in sofern ist der Traum allerdings ein Spiegel, als er | verzerrt repedirtSchreibversehen, statt: repetirt; von repetere (lat.) wiederholen; durch Wiederholung lernen. was einem im Laufe des Tages durch den Kopf geht. So habe ich schon öfters im Traume ein ganz neues phil. System aufgestellt: wenn ich dann aufwachte, und ich mochte mich noch an Einzelnes da davon erinnern, so war es nichts als Bruchstücke der Phil. d. Unb.Eduard von Hartmanns sehr erfolgreiche Schrift „Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung“ (Berlin 1869), die 1882 in 9. Auflage erschienen war. Nein, ich halte gar nichts auf dem Träumen, und bin froh, wenn ich des Nachts recht tief in Nirvana„(‚das Erlöschen‘), bei den Buddhisten (und überhaupt in allen auf philosophische Spekulation gegründeten Religionssystemen der Inder) das höchste Ziel des menschlichen Strebens, das nur durch Erlangung der höchsten Erkenntnis und die Loslösung von allem irdischen Begehren erreicht werden kann.“ [Meyers Konversationslexikon. 6. Aufl., Leipzig 1905-1909, Bd. 14, S. 708] versinke.

Adieu nun lieber Franklin! Siehst Du, meine Dinte schlägt auch durchs Papier – es wird eben alles schlecht, billig und auf den Schein heut zu Tage gemacht. – Ja so, jetzt hätte ich Dir noch über NeuhausLesart unsicher; gemeint sein dürfte Neuhausen (heute, Neuhausen am Rheinfall), das von Stein am Rhein 20 Kilometer rheinaufwärts gelegen – wie Arenenberg – ein attraktives Ausflugsziel ist. schreiben sollen – das ist aber ein zu langes Thema, da will ich es auf ein ander mal verschieben. Bleibe gesund und vergnügt und glaube an Dich selbst, und denn: „der Glaube ist es der den Willen beschläußetsagt ParacelsusZitat („der Glaube ist es der den Willen beschläußet“) nach Eduard von Hartmann: „denn wie Paracelsus wunderschön sagt: ‚Der Glaube ist’s, der den Willen beschleusst.‘“ [Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Versuch einer Weltanschauung. Berlin 1869, S. 138].. – d.h.ab hier im Querformat (um 270 Grad gedreht) am linken Rand fortgesetzt. wer nicht glaubt, daß er etwas tüchtiges werden könne, der will Behalte liebab hier im Hochformat (um 180 Grad gedreht) am Kopf der Seite beendet. Deine alte Tante
O. Plümacher.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 7 Blatt, davon 14 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. 3 Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21,5 cm. Rautiertes Papier. 1 Einzelblatt. 13,5 x 21,5 cm. Alle gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben. Seite 14 ist im Hoch- und Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Die hinteren Doppelblätter und das Einzelblatt sind durchnummeriert; Seite 5 („2 B.“), Seite 9 („3 Bl.“), Seite 13 („4 Bl.“) – (hier nicht wiedergegeben). Zu den orthographischen Besonderheiten Olga Plümachers gehört die Schreibung einfacher statt doppelter Konsonanten (zusammen, statt: zusammen; herlichen, statt: herrlichen; verstekt, statt: versteckt; schweisfeuchten, statt: schweissfeuchten; nante, statt: nannte; sogenanter, statt: sogenannter – und umgekehrt: Atlaß, statt: Atlas; Sammt, statt: Samt) sowie die Schreibung von Worten ohne Dehnungs-H (warlich, statt: wahrlich). Als Schreibversehen werden hier nur zweideutige Schreibungen angemerkt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Stein am Rhein
    23. Juni 1884 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    Stein am Rhein
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lausanne
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 130
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Olga Plümacher an Frank Wedekind, 23.6.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (08.02.2025).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

04.07.2024 18:30