Briefwechsel

von Lina Renold und Frank Wedekind

Frank Wedekind schrieb am 15. Dezember 1883 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Lina Renold

[Hinweis in Lina Renolds Brief an Wedekind vom 16.12.1883 aus Aarau:]


Ihren werthen Brief habe ich erhalten u beeile ich mich Ihnen eine Antwort zu senden.

Lina Renold schrieb am 16. Dezember 1883 in Aarau folgenden Brief
an Frank Wedekind

Aarau d. 16 Dez. 83


Geehrter Herr!

Ihren werthen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Lina Renold, 15.12.1883. habe ichDie aus Aarau stammende Schülerin Lina Renold lernte Wedekind durch ihre gelegentlichen Besuche bei „Frl. Huber“ kennen [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.7.1884], vermutlich eine Verwandte von Wedekinds Zimmerwirtin Frau Regula Huber-Aschmann (Zollrain 88 in Aarau). erhalten u beeile ich mich Ihnen einen Antwort zu senden.

Es freut mich, dasSchreibversehen, statt: dass. Sie die Wahrheit so ungeschminkt heraussagten, mir die Punkte nannten, wo ich noch fehle, mir aber auch Rath ertheilten, wie ich es machen müsse.

Besten Dank für Ihre „deutsche Metrikein Lehrwerk wie etwa der für Gymnasien empfohlene „Abriss der deutschen Metrik und Poetik nebst metrischen Aufgaben“ (Dresden, Höckner 1864) von Eduard Niemeyer. Die 5. Auflage war 1883 erschienen.[“], die ich jetzt studiren will.

Das Drama, von welchem ich Ihnen sagte, mache ich noch nicht, denn ich möchte mich im FersmassSchreibversehen, statt: Versmaß. noch üben; beiliegendes GedichtIm Konvolut befinden sich 12 Gedichte Lina Renolds. Welches davon sie hier überschickte, ist unklar. mögen Sie | beurtheilen.

Nochmal herzlichen Dank für die guten Rathschläge, die Sie mir gegeben haben, welche ich so gut wie mir möglich ist erfüllen werde.

Grüsst Sie freundschaftlich
Ihre
Lina Renold

Lina Renold schrieb am 21. Februar 1884 in Aarau folgenden Brief
an Frank Wedekind

Aarau d. 21 F.


Werther Herr!

Schicke Ihnen hier einige GedichteIm Konvolut befinden sich 12 Gedichte Lina Renolds. Welche davon sie hier überschickte, ist unklar., die Arbeit dieser Woche. Sie mögen dieselben gefl. prüfen u es würde mich freuen, wenn Sie nächstens Zeit hätten, einige Worte zu schreiben u mir die Fehler darin mitzutheilen.

Die Gedichte mögen Sie wenn Sie wollen behalten.

In der „deutschen MetrikDas Lehrwerk, das Wedekind Lina Renold zum Selbststudium gegeben hatte [vgl. Lina Renold an Wedekind, 16.12.1883]. Es dürfte sich um ein Schulbuch wie etwa der für Gymnasien empfohlene „Abriss der deutschen Metrik und Poetik nebst metrischen Aufgaben“ (Dresden, Höckner 1864) von Eduard Niemeyer gehandelt haben. Die 5. Auflage war 1883 erschienen.“ studire ich fleissig, bin leider, aber noch nicht fertig. | Sie werden bald wieder von mir hören, denn ich dichte jetzt mehr, als im Winter, die Natur, der anbrechende Frühling, die schönen Tage, wo ich viel spatziren kann, stimmen mich auch eher dazu.

Diesen Brief schliesse ich mit der Hoffnung, dass ich in einiger Zeit ein Gedicht oder sonst Etwas von Ihnen lesen werde.

Unterdessen meinen freundlichen
Gruss
Lina Renold.

Frank Wedekind schrieb am 15. März 1884 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Lina Renold

[Hinweis in Lina Renolds Brief an Wedekind vom 16.3.1884 aus Aarau:]


Mit viel Freude u Dank nehme ich Ihren PrologHinweis auf das hier erschlossene Begleitschreiben zum zugesandten Sonderdruck von Wedekinds „Prolog zur Abendunterhaltung der Kantonsschüler“ (1884). an [...]

Lina Renold schrieb am 16. März 1884 in Aarau folgenden Brief
an Frank Wedekind

Aarau d. 16 M. 1884


Werther Herr!

Mit viel Freude u Dank nehme ich Ihren PrologHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zum übersandten Prolog; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Lina Renold, 15.3.1883. – Es dürfte sich um ein gedrucktes Exemplar von Wedekinds „Prolog zur Abendunterhaltung der Kantonssschüler“ handeln, den der Autor am Kantonsschülerfest (1.2.1884) mit großem Beifall vorgetragen hatte [vgl. KSA 1/I, S. 114-117 und KSA 1/II, S. 1983ff.] und der in einer Auflage von einigen hundert Exemplaren im Aarauer Verlag H. R. Sauerländer erschienen war [vgl. Karl Heinrich Remigius Sauerländer an Wedekind, 13.2.1881]. an u werde mir sogar erlauben, denselben an auswendig zu lernen. Obwohl mir, noch nie vergönnt war, ein Kind Ihrer Muse zu lesen, so glaube ich doch, aus diesem ersten den Genius, der daraus leuchtet zu erkennen u weiss nicht, ob ich Ihnen noch ein Gedicht von mir schicken darf.

Das beigelegte epische Gedicht „Hülfe“ ist nur ein schwacher fast unerkennlicher Schatten. Die Religion, die den Bela|denen Trost u Hülfe bringt, vermag ich nicht, in ihren/m/ schönen, reinen Lichte darzustellen, wie sie es in Wirklichkeit ist; ich finde nicht Worte, wieSchreibversehen, statt: wie ich. gern möchte.

Es ist mir leider wahrscheinlich nicht möglich vor den nächsten Feriendie Ferien nach den Jahreszeugnissen des Schuljahrs 1883/84; sie begannen nach der Zeugnisübergabe am 10.4.1884. noch viel in Poesie zu arbeiten, denn die Schule fordert ihre Pflicht; jedoch damit ich nicht ganz ‚prosaisch‘ werde, lese ich jeden Tag aus den Werken Schiller’sUm welche Werkausgabe es sich handelt, ist nicht ermittelt..

Wie ich höre, werden Sie bald nach Ende dieses Schulju/a/hres Ihre Heimath verlassenWedekind studierte ein Semester neuere Sprachen an der Académie de Lausanne, ehe er zum Wintersemester 1884/85 an der Universität in München für Jura immatrikuliert wurde., um sich in Ihrem Berufe gänzlich auszubilden u | es thut mir wirklich sehr leid, wenn ich schon so früh meinen Lehrer verlieren muss! .....

Oft werde ich an Ihn denken u den Prolog u die guten RätheRatschläge. lesen u studiren.

Indessen hoffe ich, dass der Ewige, Ihre Muse krönen werde u Ihnen vergelten was Sie mich gelehrt haben u ......

Meinen freundschaftlichsten
Grusse
Lina Renold


[Beilage:]


Hülfe.


1. Die Flocken fallen leise nieder,
Sie decken leicht die öde Erde zu.
Und manches arme Herze wieder
Entfindet(schweiz.) Empfindet. tief die Jahreszeit der Ruh!


2. So jene Wittwe mit dem Kinde,
Das halberstarrt an ihre Brust sie drückt.
Ganz kraftlos geht sie, nicht geschwinde
Einher, von ihrer lieben Last gebückt.


3. O Gott! sie seufzet leis, nur lieise,
Wie kalt u mitleidsloskorrigiert (mit Korrekturzeichen für Zusammenschreibung) aus: mitleid los. die Herzen sind;
Ach, überall in schlechter Weise
Verstieß man mich, als Brod ich fleht fürs Kind.


4. O Gott! erhöre mich u wieder
Leicht pocht sie an des Reichen Thür, doch bald
Barsch abgewiesen fortwankt wieder,
Wie sie gekommen, mit dem Kinde, kalt.


5. Noch einen Blick der Stadt zu werfend,
Wo alles still, geschäftig geht den Weg;
Und läuft dann, ihren Schritt verschärfend
Den Feldern zu u über einen Steg. |


6. Sie setzt sich, hinter jenem Walde
Die Sonne gehet unter, goldnen Strahl
Sie fie f wirft auf Flur, verschwindet balde;
Im Herzen graben Wunden sich wie Stahl.


7. Da tönen feierlich die Golocken,
so schön, so rein durch Hain u Felder hin,
Und auch hernieder fall’n die Flocken
Viel stiller, ruh’ger, weiche wird der Sinn.


8. Es steigt vor ihrem Aug’ die Jugend,
Die schöne, sel’ge auf, wo sie nur rein
Und freudig gieng die Bahn der Tugend,
Gar nichts gewußt von Sorgen, Schmerz u Pein.


9. Im matten Auge glänzen Thränen,
Sie schaut hinauf zum ewig blüh’nden Zelt,
Dann auf ihr Kind mit tiefem Sehnen,
Sie blicket stillbefriedigt auf die Welt.


10. Es wird das Kirchenläuten ferne,
Ihr bald zum mächtig rauschenden Choral;
Vertrauungsvoll zu jenem Sterne
Aufblickend, schlummert sie zum letzten Mal. |


11. Die heil’gen sanften Tön’ verklingen,
Der Todesengel niedersteigt im Flor,
Von ihm gestärkt, getragen schwingen
Die Seelen jauchzend sich zu Gott empor.


––––––

Lina Renold schrieb am 10. April 1884 in Aarau folgendes Briefgedicht
an Frank Wedekind

Poesie.


In der Welt u ihrem rauhen Treiben,
Ihren Sorgen, ihrem Jagen nur nach
Glück u Ehre, nach dem Schönen, Reinen.
Mancher fraget nichts, gar nichts mehr dem nach;
Diese Welt hat ihm das tiefenSchreibversehen, statt: tiefe. Fühlen
Seiner Seele, nach dem Idealen,
Schönen, Göttlichen geraubt, in schwühlen
Dämpfen ist, sie, fremd dem Genialen.


O, wie glücklich, selig, der durchdrungen,
In der Seele ist, für dieses Hohe;
Freudig u begeistert u errungen
Frei den Schatz, und dessen Geist ihn frohe,
Leicht geschwinde trägt auf gold’nem Flügel
In das ewig grüne, schöne Land, sie
Alle Meere überwindend Hügel
Lieblich kränzte Göttin Poesie. |


Glücklich! der aus ihrem schönen Füllhorn
Knospe, Blümlein nur erhält, er darf’s nun
Pflegen, Göttin sah ihn an, ihr Füllhorn
Bringt ihm mehr nah Blumen u ihr fragt nun
Freudetrunken, liebeglühend singet
Er als Dichter ihr zu Füßen Lieder;
Ewig durch den großen Tempel klinget
Jeder Ton, dem Lauschenden dann wieder.


Dort, im schönen Thal wo ewig blühet,
Ueppige Natur u Wind leicht fächelt,
Goldne Frucht durchs dunkle Laub erglühet,
Wo der Himmel ewig blau ist, lächelt,
Hier, Du Göttin thronst mit gold’ner Leier,
Lorbeerkranze in dem Haar u alle
Sänger, die um Dich geschaart zur Feier
Freudig singen sie in kräft’gem Schalle. |


Ja sie dichten, singen ihrer hohen
Herrin u doch singen sie nur Eines,
Alle nur der Einen, Schönen, Frohen
Göttin, ihr nur Kranz sie winden, keines
Dieser Blümchen geht verloren, dienen
Alle Dichter, singen nur der Liebe
Göttliche u reine Harmonien
In dem tiefsten, liebesglühnsten Triebe.


O; daß ich doch hätte Flügel, Schwingen,
In das wunderbare Land zu kommen
Und der Göttin zu den Füßen singen;
O! daß ich der reinen, warmen Sonnen
Strahlend Licht, auffassen könnt’ im Herzen,
Einen schwachen Strahl, ein matter Glanz nur;
Doch mir ist’s noch nicht vergönnt, mit Schmerzen
Tief anbetend, suche ich des Scheines Spur! |


Meinen herzlichen Grussan Wedekind, dem Lina Renold das Gedicht sendet.
Lina Renold