Briefwechsel

von Frank Wedekind und Bertha Jahn

Bertha Jahn schrieb am 14. September 1884 in Lenzburg folgende Visitenkarte
an Frank Wedekind

Bertha JahnBertha Jahn, Mutter von 4 Kindern, seit Herbst 1882 verwitwet, war Besitzerin der Lenzburger Löwenapotheke. Sie las Heine, schrieb Gedichte und wurde zur vertrauten Kritikerin von Wedekinds literarischen Projekten. Zahlreiche Manuskripte Wedekinds sind mit kritischen Anmerkungen von ihrer Hand versehen. Im Herbst 1884 – nach Minna von Greyerz’ Umzug nach Dresden – entwickelte sich eine erotische Beziehung zwischen Bertha Jahn und Wedekind.

Bertha Jahn schrieb am 15. September 1884 in Lenzburg folgenden Zettel
an Frank Wedekind

Geehr. Hr. Wedekind

Wenn Sie die Erzählung an der wir gestern unterbrochen wurden, fortsetzen wollen u. gern einen SpaziergangVon Lenzburg nach Hendschikon gelangt man nach einem etwa einstündigen Fußweg von circa 4 Kilometern. machen, so begleiten Sie mich zum Hendschikonerortsübliche Bezeichnung für Hendschikener. Bahnhof, wo ich 5 ½ Uhr einsteige, um mit Bekannten nach Lenzburg zu fahren, die mich einen Augenblick sehen wollen. Vom Lenzb. Bahnhof gehts dann direkt nach Hause. Wenn Sie Ihre Beichte drückt, können Sie beichten.

Mit achtungsvollem Gruß

B. J.

Frank Wedekind schrieb am 16. September 1884 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Bertha Jahn

[Hinweis in Bertha Jahns Zettel an Wedekind vom 16.9.1884 aus Lenzburg:]


Tausend Dank für die lieben Zeilen [...]

Bertha Jahn schrieb am 16. September 1884 in Lenzburg folgenden Zettel
an Frank Wedekind , Frank Wedekind , Frank Wedekind , Frank Wedekind , Frank Wedekind , Frank Wedekind

D:!

!!. [Symbol] das ist wahr u. bleibt wahr! Vorerst muß ich bitten daß Sie das Privatim(lat.) das Nichtöffentliche, das Geheime. nicht offen in den Brief legen, das hat ja keinen Zweck, zusammengefaltet, verklebt, mit der Aufschrift „privatim“. Tausend Dank für die lieben Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Bertha Jahn, 16.9.1884. [Symbol]! Wie habe ich mich gefreut, doch da mir die Zeit fehlt bekommen Sie nur flüchtig Antwort, d. h. eigentlich heute keine, das Dessert kommt morgen. InliegendDie Beilage ist nicht überliefert. nur die Hyrogr/l/iphenSchreibversehen, statt: Hieroglyphen., bitte zu copiren u. den Zettel zu zerreißen, wohlverstanden? Das „Privat“ ging nach Wunsch in Flammen auf, nicht wahr, Sie thun das auch? Also auf morgen, ich habe Ihnen Vieles zu sagen. – – oft u. viel I. v. C. – Gute Nacht! [Symbol]! O! D. E.Erika; Pseudonym Bertha Jahns. [Symbol für Küsse] / Schreiben Sie mir ob Alles vernichtet ist.!

Frank Wedekind schrieb am 18. Oktober 1884 in Lenzburg folgenden Brief
an Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn

Seiner lieben TanteBertha Jahn, die verwitwete Inhaberin der Lenzburger Löwenapotheke, war mit Wedekind mindestens seit Herbst 1883 befreundet, stand mit ihm aber in keiner verwandtschaftlichen Beziehung. Seine Poesien versah sie, die selbst dichtete, mit kritischen Anmerkungen. Im Herbst 1884 entwickelte sich zwischen ihr und dem 25 Jahre jüngeren Studenten eine Liebschaft, die offenbar immer wieder aufflackerte, ehe sie nach 3 Jahren endgültig beendet wurde. Wedekind nannte sie seine erotische Tante.

Frau Bertha Jahn

in kindlicher Ergebenheit der dankbare Neffe

Franklin. 18.X.84. |


Ein Lied, ein Lied! – Mein Herz will überfließen;
S/D/ie Seele schwingt sich jauchzend himmelan. –
Ein Lied, worin die Freude sich ergießen,
das Lied sich senken und begraben kann!
Sing mir – heut will die ganze Schöpfung singen:
Rings um mich her, wohin mein Auge sieht,
Hör’ ich die schönsten Melodien erklingen. –
Sing mir, o Poesie, ein frohes Lied! –


Nicht, wie die Kunstpoeten aller Zeiten,
In strengem Rhythmus, engem Sylbenmaß,
Mit Wortabwägen und mit Kleinigkeiten,
Besteig, o Göttin, heute den ParnaßBerg in Griechenland; in der griech. Mythologie der Sitz der Götter.!
Verlaß den Pfad der leeren Reimerei!
Frisch, froh und frei
In lieben, leichten, zügellosen Stanzenital. Strophenform.
Laß jetzt die Geister Deiner Muse tanzen! – |


Was soll dem Jüngling all’ der Flitterkram,
Worein Philister ihre Verse ketten? –
Ein freies Wort, das aus der Seele kam,
Verschmäht den Zwang von zierlichen SonettenGedichtform.;
Ein himmelstürmender Gedanke bricht
Die engen Schranken jeder Form zusammen,
Und auf dem freien Götterangesicht
Sprühe feuerathmend der Begeistrung Flammen. –


Was ist es, das den Menschen glücklich macht?
Für welche Gunst soll ich den Schöpfer preisen?
Ist’s Geld und Gut, ists hohe Königspracht?
Ist’s Tugend, ists der kluge Sinn des Weisen? –
Beim Himmel, nein! Mein Glück muß tiefer sein!
Es ist des Lebens gold’ner Sonnenschein,
Es ist – o selig alle, die es fanden! –
Ein großes Herz, das unser Herz verstanden. –


Am grünen Bergeshang stand eine Wiege,
Drin lag ein frohes, unschulds volles Kind; |
Blau war sein Aug’ und herrlich seine Züge,
Wie sie bei überird’schen Wesen sind.
Und rings im Kreise standen schöne Frauen,
Wie Sterne um der Sonne Glanz geschaart,
Das Kind zu segnen und es anzuschauen
Und zu beschenken für die Pilgerfahrt.


Und in den Kreis trat eine schöne Frau,
War eine Göttin aus dem Heidenthume;
Blond war ihr wallend Haar, ihr Auge blau,
Am Herzen trug sie eine weiße Blume;
Und sprach: „Ich bin die große Göttin Herthagermanische Göttin der Fruchtbarkeit (Mutter Erde).,
Dich hab’ ich mir zum Pathchen auserwählt.
Und daß Dich stets mein starker Geist beseelt,
Geb’ ich Dir meinen zweiten Namen Berthadie Glänzende; in der germanischen Mythologie auch Berchta (Perchta), Hulda, Frau Holle (Mutter Erde), Hertha genannt: „Hulda, Frau Holle, der Name einer thüringhessischen Gottheit [...]. Es soll auch ein Beiname der Hertha sein, und es ist nicht unmöglich, daß diese germanische Göttin in gewissen Provinzen so genannt wurde. [...] In einigen Gegenden heißt sie auch die wilde Prechta, die wilde Bertha, [...] und denen, die ihr Wohlergefallen erregen, erscheint sie als weiße Frau“ [Damen Conversations Lexikon, Bd. 5, 1835, S. 348f.]..“


Ein ernstes Weib tritt in des Kreises Mitte
Und ihres Segens Zauber sich bewußt
Naht sie der Wiege sich mit leichtem Schritte
Und küßt das Kind auf seine junge Brust: |
„Dir sei ein großes, edles Herz beschehrt,
Wie eine Laute reich und klar besaitet.
Es mach’ Dich glücklich, froh und hochgeehrt,
Wenn’s Dir auch manchen herben Schmerz bereitet.“


Ein edles Herz, das Menschen lieben kann,
Sie zu begreifen weiß, selbst wenn sie fehlen –
Ein edles Herz, das mit sich himmelan
Uns trägt zum höchsten Fluge schöner Seelen –
Ein edles Herze ist ein tückisch Gut,
Ihm ist gar manches/r/ schwere Kampf beschieden.
Allein was ihm die Welt auch Leides thut;
Es trägt im Innern einen tiefen Frieden. –


Jetzt naht ein w/W/eib in seiner Schönheit Blüthe,
Schlank, leicht und hoch, von reizender Gestalt,
Zur Seite jener Wiege macht sie halt –
Es war die mächt’ge Göttin Aphroditein der griech. Mythologie die Göttin der Schönheit, sinnlichen Liebe und Verführungskunst..
Weiß Gott! Sie schwebte her als wie ein Engel,
Doch trug sie heidnisch, griechisches Gewand,
Und an der marmorweißen, zarten Hand
Folgt ihr ein kleiner, ungezog’ner Bengelin der röm. Mythologie Amor (auch: Cupido), röm. Gott der Liebe und Sohn der Venus (bzw. Aphrodite).. |


Drauf küßte sie das Mädchen lang und viel
Und blickt’ es an und segnet’ es und lachte:
„Ich schenke Dir ein griechisches Profil
Und alles, was mich selbst zur Göttin machte!“ –
Und wie sie noch so zärtlich kosen thät,
Zog Amor heimlich schmunzelnd und in Eile
Aus seinem Gurt den schärfsten seiner Pfeile
Und practizirt ihn meuchlings unter’s Bett.


Frau Venus trat zurück und ahnte nichts
Von allem, was ihr kleiner Schelm pexiretanstellt.. –
Sieh da, erschien im Glanze höhern Lichts
Voll Würdigkeit und stolzen Angesichts
Als Diamant, der eine Krone zieret
Die Göttin Poesie von PhöbusBeiname des Appollon, des griech. Gottes der Künste. selbst geführet.
Sie schwebt daher und alle andern neigen
Sich ehrfurchtsvoll und halten tiefes Schweigen.


Umflossen von dem hellsten Glorienschein,
So tritSchreibversehen, statt: tritt. sie mitten in den Kreis hinein; |
Und überreicht dem lieben, zarten Kinde
Vom eignen Haupt das schönste Angebinde.
Es war, umstrahlt von nieerloschnem Glanz,
Ein frischer immergrünern Lorbeerkranz;
Und Phöbus, der von Milde niederschaute,
Legt auf das Lager seine gold’ne Laute. –––


So wurdest Du zur Priesterin geweiht
Der edeln Kunst, die alle Menschen loben;
So hast Du immer schon und hast uns heut
Durch Deinen Sang zu Dir emporgehoben;
So hast Du milde Streiche ausgetheilt,
Wie einst dem Pfaffenthume Doctor Luther,
Hast manchen wunden Fleck in uns geheilt,
Großmüthig doch gestreng als LöwenmutterAnspielung auf die Löwenapotheke, die Bertha Jahn nach dem Tod ihres Mannes weiterführte.. –


Ich aber stehe hier in dieser Stube
Ganz einsam unter wilder LöwenbrutGemeint sind die vier Kinder Bertha Jahns, Viktor, Lisa, Hanna und Ernst.; –
Wie einst uns dem Daniel in der Löwengrubenach der gleichnamigen biblischen Geschichte [vgl. Daniel 6, 1-29].
So sind auch mir die Löwen alle gut. |
Der Löwenmutter bring’ ich meinen Gruß
Und lebe ganz nach ihrem Wunsch und Willen;
Denn wie man mit den Wölfen heulenRedewendung; sich dem Reden oder Handeln der Mehrheit anschließen. muß,
Will ich auch gerne mit den Löwen brüllenals Redewendung ‚Gut gebrüllt, Löwe‘ aus Shakespeares ‚Ein Sommernachtstraum‘ bekannt; nachempfunden sein könnte der Zweizeiler einer anderen Quelle, in der es heißt: „man muß eben mit den Wölfen heulen und mit den Löwen brüllen!“ [Graf Hermann. Drama in fünf Aufzügen von Alexander Dumas. Für die deutsche Bühne bearbeitet von A. E. Badaire. Prag 1868, S. 18]..


Allein vor wem ich sonst noch grüßenSchreibversehen, statt: grüßend. steh’
Mit ++/ehrfurchtsvollem, kindlichem Gebahren,
Das ist des Hauses wunderschöne Fee,
Im weißen Kleid mit herrlich schwarzen Haaren.
So ruf ich donnernd Hoch mit frohem Sinn,
Ein dreifach Hoch der großen Dichterin!
Ein dreifach Hoch dem schönen Geist des Hauses!
Und heb’ mein Glas und trinke bis es aus is. –

[Endeschnörkel]]

Frank Wedekind schrieb am 28. Oktober 1884 in Lenzburg folgende Visitenkarte
an Bertha Jahn

Bertha Jahn |


Zur Erinnrung an manche schöne StundeDie einen Abschied andeutende Visitenkarte („Zur Erinnerung an“) könnte auf die leidenschaftliche Beziehung, die zwischen Bertha Jahn und Frank Wedekind im September 1884 entstanden ist, anspielen. – Möglicherweise verweist die Karte auch auf Wedekinds Weggang von Lenzburg im Frühjahr 1884 nach Lausanne, vor dem eine freundschaftliche Annäherung zwischen ihm und der Apothekerwitwe schon stattgefunden haben dürfte, wie eine schriftliche knappe Charakterisierung Frank Wedekinds nahelegt [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 25.6.1884].!

Frank Wedekind und schrieben am 6. November 1884 in München folgenden Brief
an Bertha Jahn

München 6.XI. 84.


Liebe Tante,

In heiterster Gesellschaft und mit sehr schlechtem Humor kam ich vor acht Tagenetwa am 29.10.1884; die Vorlesungszeit begann an der Ludwig-Maximilians Universität im Wintersemester 1884/85 am 3.11.1884 [vgl. Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Winter-Semester 1884/85, S. 2]. in München an. Die ÜbrigenWalther Oschwald, der wie Frank Wedekind in München ein Studium der Rechte aufnahm, und Armin Wedekind, der in München sein Medizinstudium fortsetzte. spielten Karten im Coupée und überließen mir das heftige Bedauern, es nicht zu können; und die Gedanken, in die mich die Langeweile versenkte, waren eben nicht die rosigsten. Das gab sich aber alles schon beim Aussteigen, denn CalameLouis (Ludwig) Calame studierte seit Sommer 1882 an der Königlichen Kunstgewerbeschule in München (Dekorationsmaler). Mit seinen jüngeren Geschwistern war er nach dem Tod seiner Eltern (1777) von Verwandten (Emma Bertschinger, geb. Hünerwadel) in Lenzburg aufgenommen worden und hatte bis 1880 die Bezirksschule in Lenzburg besucht. Sein Bruder Albert war mit Frank Wedekinds Bruder William Lincoln befreundet. – Louis Calame wurde 1887 Lehrer an der Kunstgewerbeschule Köln und 1897 Professor für Stillehre, gewerbliches Zeichen und Malen am Technikum Winterthur. und H Franz HolperFranz Holper studierte an der Kunstakademie München. Er war ein Sohn von Bertha Jahns Schwägerin Emma Holper, geb. Jahn, in München. empfingen uns, WalterWalter Oschwald, Frank Wedekinds Jugend- und Schulfreund aus Lenzburg, war Neffe Bertha Jahns; 3 Jahre lang besuchte er mit Ludwig Calame dieselbe Klasse der Bezirksschule Lenzburg. besorgte die Vorstellung und wenige | Minuten später saßen wir schon hinter Münchner Bier, sprachen von München, und s. w. via Lindau Romanshorn von Lenzburg, von den Fenstern im 2. Stock vorn heraus; ich bekam Gelegenheit Ihre werthen Grüße zu melden und vergaß dabei keineswegs der speciellenLisa Jahn hatte sich bei einem Besuch in München in ihren Cousin Franz Holper verliebt [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 16.7.1884]. von Frl. Lisa, und mir war bei alledem ganz heimisch zu Muthe. – Herr Holper machte auf mich einen ganz vortrefflichen Eindruck, und ich wünsche nichts, inniger, als daß dies auf Gegenseitigkeit beruhen möchte. Seine Augen und das charakteristische Minenenspiel im Sprechen kam mir sofort ganz bekannt vor; erinnerte es mich doch an die hochwerthe Familie Jahn in Lenzburg sowohl im Allgemeinen, wie auch im Besonderen. Die drei Briefe und die Photographien, die ich bei mir trug, erlaubtSchreibversehen, statt: erlaubte. ich mir, ihm +/g/leich ein|zuhändigen; leider konnt’ ich letzten Sonntagden 2.11.1884. meine beabsichtigte Visite nicht machen, da mein Koffer noch nicht angekommen war. Morgen oder übermorgen wird mich Walter wol hinführen und wir werden dann unsere Aufträge zusammen ausrichten. Da ich Herrn Holper seit jenem Abend nicht wiedergesehn und ebenso wenig Calame, so fand ich auch keine Gelegenheit, nach Thierköpfen zu fragen. Aber ich hoffe, Ihnen bei Nächsten/m/ darüber Nachricht geben zu können. –

München ist eine pompöse Stadt, in der ich die ersten drei Tage wie ein Träumender umherirrte und vor lauter Eindruck nicht zum Ausdruck kam, so daß Walter und Armin die Köpfe zusammensteckten und meinten, der Abschied von Zuhause müsste mir doch recht schwer geworden sein. Jetzt hab ich mich schon ein wenig besser hineind/g/efunden und | besuche tagtäglich einige Kirchen und mehrere Paläste, ohne damit zu Ende zu kommen. Die Krone von allem ist aber doch das Theater. Im Nationaltheater waren wir zwar noch nicht, denn seine Majestät der König sind hier und lassen sich darin privatim vorspielen und vortanzen. Dagegen waren wir erst gestern wieder im Residenztheater, einem wahren Juwel, einem schimmernden Opal, der hundert schöne Farben spielt. Es wurde ein Lustspiel von Benedix ganz ausgezeichnetAm 5.11.1884 (7 bis 9 Uhr) wurde im Königlichen Residenztheater „Wegen Unpäßlichkeit des Herrn Herz statt des angezeigten Stückes ‚Das Stiftungsfest‘: Das Gefängniß. Lustspiel in vier Aufzügen von Roderich Benedix“ gespielt „In Scene gesetzt vom K[öniglichen] Regisseur Herrn Richter.“ [Königliches Hof- und National-Theater (München): Königliches Hof- und Nationaltheater. 1884, S. (674)] gegeben, so daß es mich lebhaft an Lenzburg erinnerte. Aber nächsten SonntagAuf dem Theaterzettel wurde für Sonntag, den 9.11.1884, Friedrich Schillers Trauerspiel „Maria Stuart“ im Hoftheater angekündigt [vgl. Königliches Hof- und National-Theater (München): Königliches Hof- und Nationaltheater. 1884, S. (674)], das anlässlich des „25-jährigen Bestehens der deutschen Schiller-Stiftung zu deren Besten[ a]ußer Abonnement mit ermäßigten Preisen“ [ebd., S. (686)] ebenfalls unter der Regie Richters aufgeführt wurde. ist „Maria Stuart“, und da freu’ ich mich schon jetzt auf die lebhafte Überzeugung, daß selbst die größte Meisterschaft an einem/n/ lebhaften schönen Eindruck aus früher JugendzeitDas Lenzburger Laientheater hatte 1876 Schillers Schauspiel mit der offenbar begnadeten Laiendarstellerin Fanny Oschwald-Ringier, der Schwester Bertha Jahns, in der Hauptrolle aufgeführt. Das mit großem Eifer einstudierte Drama wurde „ein Höhepunkt in der Theatergeschichte Lenzburgs [...] Von weit her kamen zu diesem Anlaß Zuschauer, die des Lobes voll waren über diese erstaunlich gute Leistung.“ [Martha Ringier: FANNY OSCHWALD-RINIGER 1840-1918. In: Lenzburger Neujahrsblätter, Bd. 13, 1942, S. 14] nicht heranreicht.

Walter Oschwald haben mein Bruder und ich sehr viel zu danken, denn er ging | uns in jeder Beziehung so hülfreich zur Hand, daß ich mir kaum denken kann, wie wir ohne seine Führung uns zurecht gefunden hätten. Gestern waren wir zu Dritt in der Gräflich Schack’schen GallerieDie Gemäldesammlung des Grafen Adolf Friedrich Schack befand sich in seinem Palais an der Brienner Straße 19 und war seit 1865 öffentlich zugänglich [vgl. https://www.pinakothek.de/de/sammlung-schack].. Leider kann ich Ihnen, liebe Tante, nichts davon erzählen, denn vor lauter Bäumen von konnt’ ich factisch den Wald nicht sehn und muß jedenfalls noch einige Mal dadurch wandeln bis ich im Kopf behalte, was mir gefiel und auffiel. – Überhaupt wär’ ich Ihnen, hochverehrte Tante, sehr dankbar, wenn Sie mir Berichte über all’ das Schöne, womit die hohe Kunst mich überhäuft, erlassen würden; denn einmal ist mir das Briefpapier viel zu lieb, als daß ich es an Dinge verschwenden möchte, die man auf jeden/m/ schlechten Druckbogen besser liest, und sodann werden Sie ja das alles mit eigenen Augen sehen, wenn Sie über kurz oder lang nach München kommen, und da möcht’ ich | Ihnen dann nicht durch mein unreifes Geplauder schon der/n/ ersten Eind/D/ruck verdorben haben. –

Hoffentlich ergeht es Ihnen, liebe Tante, und all’ den Ihrigen recht wohl und herrscht strahlt d noch immer ungetrübt der milde Sonnenschein in der traulichen LöwengrubeAnspielung auf eine Strophe in Wedekinds Widmungsgedicht „Seiner lieben Tante Frau Bertha Jahn [...]“: „Ich aber stehe hier in dieser Stube / Ganz einsam unter wilder Löwenbrut; – / Wie einst dem Daniel in der Löwengrube / So sind auch mir die Löwen alle gut.“ [Wedekind an Bertha Jahn, 18.10.1884]. Gemeint sein dürfte Bertha Jahns Haus, die Löwenapotheke in Lenzburg, sowie die Familie Jahn, die verwitwete Bertha Jahn mit ihren vier Kindern Viktor, Lisa, Hanna und Ernst.. Hier in München giebt es zwar auch eineEine Löwenapotheke gab es in München in der Utzschneiderstraße 14, Besitzer Alfons Buchner [vgl. Adreßbuch für München, 1884, Teil IV, S. 10] Auch gibt es eine Straße mit Namen ‚Die Löwengrube‘ in München, die aber keine auffälligen Einträge zeigt [Adreßbuch für München, 1884, S. 284-286] Schließlich könnte Wedekind auch auf Löwenbräu, die älteste Münchner Brauerei in der Nymphenburgerstr. 72, oder den Bayrischen Löwen in der Bayerstr. 3 von Anna Mathäser Bezug genommen haben [vgl. Adreßbuch für München, 1884, Teil IV, S. 20]., aber Daniel‚Daniel in der Löwengrube‘ gehört zu den beliebten biblischen Erzählungen. Mit Gottvertrauen gelingt es Daniel, der über Nacht in einer Löwengrube gefangen gehalten wird, am nächsten Morgen unversehrt frei zu kommen [vgl. Daniel 6]. ist noch nicht hineingegangen. Das Bier soll dari/ort/ nicht so gut sein, wie an anderen Orten und die Löwen wahrscheinlich auch nicht. – Tausend Grüße an Sie, liebe Tante, und Ihre ganze hochwerthe Familie. Meine Empfehlungen an Frl. Lisa und einen recht schönen Extragruß an Hanna, die lustige Komödiantin. Grüßen Sie mir auch Lenzburg, das süße, sonnige Städtchen, und Herrn Schrödernicht identifiziert; möglicherweise der Nachfolger Adolf Spilkers in der Löwenapotheke Lenzburg., erlaub’ ich mir, e/f/ür seinen sinnigen Scherz ein ganz Specielles in Münchner Bier zu vorzukommen. – Ich bin in kindlicher Ergebenheit Ihr dankbarer Neffe Franklin.


[Am rechten oberen Rand von Seite 1 um 90 Grad gedreht:]

Für den Fall, daß Sie, liebe Tante mich vielleicht einmal mit einigen freundlichen Worten beehren wollen, gestatte ich mir, Ihnen meine Adresse hier beizufügen.

F W.
Türkenstraße 30. Rückgebäude.
München.

Frank Wedekind schrieb am 20. November 1884 in München folgenden Brief
an Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , [Herr] Hansen

II Es ist gewiß etwas Hohes Erhabenes um den Pagendienstder Dienst junger Adeliger am Fürstenhof: „Als das Ritterwesen sich [...] ausbildete, erhielten die Pagen den Rang von Lehrlingen, und zwar mußte jeder, um einst die Ritterwürde zu erlangen, die Pagenlaufbahn betreten. [...] Den Damen war es vorbehalten, die Pagen im Katechismus, in den hergebrachten Höflichkeitsformen und in der Verehrung Gottes und der Damen zu unterrichten.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 12. Leipzig 1888, S. 608] Hier wohl in Anspielung auf das erotische Verhältnis, das sich zwischen Wedekind und der 25 Jahre älteren Bertha Jahn vor seiner Abreise aus Lenzburg entwickelt hatte.. Ich wenigstenSchreibversehen, statt: wenigstens. kenne keine tiefere Religion unter den Menschen. Nur der Mariencultus der katholischen Kirche kommt ihm in gewisser Beziehung sehr nahe, und darum geh ich hier auch recht viel in die Kirche und bete zu meiner Himmelskönigin, sie möge mir meine Sünden vergeben, mich nicht verlassen und zu mir kommen, mich zu trösten in den Stunden der Trauer und Verlassenheit. – Weiß der Himmel, ich fühle mich sehr oft recht einsam hier in dem dichten Menschengewühle, und da es keine stillen Wälder giebt, keine hohen freien Berge, oder lauschige Gärten, so tret’ ich in die nächste Kirche ein, kniee nieder unter den andächtigen Säulen auf einer der hintersten Bänke und berge mein Gesicht in beide Hände. – |


III Der wilde Knabe von früher ist jetzt zahm geworden, ganz zahm. Seit er nicht mehr an der Hand seiner hohen Gebieterin an Kraters Abgrund Blumen pflücken t/d/arf, hat er überhaupt keine Freude mehr an den Blumen. Überhaupt wird geraume Zeit verfließen, bis ich die alte Geisteselastizität wieder gewonnen habe. Sei es, daß ich mich erst an solche Entbehrungen gewöhnen muß, oder daß mich die Masse der neuen Eindrücke auf mich selbst beschränkt. Ich machte hier an einigen Freunden WaltersWalther Oschwald, Frank Wedekinds Jugend- und Schulfreund aus Lenzburg, war der Neffe Bertha Jahns und studierte ebenfalls Jura in München. sehr interessante und angenehme Bekanntschaften. Aber mich halten sie alle für ein Schaf und einen großen Dummkopf, weil ich absolut nicht mitsprechen kann und immer stumm dasitze. Auch kann ich nicht sagen, daß ich mich schon jemals


[von Bertha Jahns Hand ergänzt:]

gut amüsirt hätte hier. Ich bin eben andere Gespächewohl Abschreibfehler, statt: Gespräche. gewohnt, – bin verwöhnt! –

Bertha Jahn schrieb am 22. November 1884 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

Frank Wedekind schrieb am 18. Dezember 1884 in München folgenden Brief
an Bertha Jahn

18 Dec. 84.


Hochverehrte Tante.

Sie zürnen mir gewiß ein wenig, daß ich Ihre freundlichen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 22.11.1884. so lange unbeantwortet lasse. Aber verzeihen Sie mir; Den Tag über bin ich im Colleg und am Abend, wo sich am besten Briefe schreiben lassen meist im Theater. Ich habe mit großer Freude vernommen daß es Ihnen und den Ihrigen im allgemeinen wohl ergeht und daß Sie alle gesund sind, wenn ich auch bedaure, daß der stille Friede des LöwenzwingersAnspielung auf Bertha Jahns Haus, die Löwenapotheke in Lenzburg, das sie mit ihren vier Kindern Victor, Lisa, Hanna und Ernst bewohnte. In Wedekinds Briefgedicht „Seiner lieben Tante Frau Bertha Jahn [...]“ schrieb er: „Ich aber stehe hier in dieser Stube / Ganz einsam unter wilder Löwenbrut; – / Wie einst dem Daniel in der Löwengrube / So sind auch mir die Löwen alle gut.“ [Wedekind an Bertha Jahn, 18.10.1884]. durch so bedeutende Veränderungengemeint ist vermutlich die Abreise Adolf Spilkers zum 1.10.1884 nach Oldenburg [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 1.7.1884], der Bertha Jahns 1882 verstorbenen Ehemann Viktor Jahn als Apotheker in Lenzburg vertreten hatte. ein wenig gestört wurde. Meinen, b wärmsten Dank für die Theilnahme mit der Sie sich | nach meinen StudienWedekind war in München als Jurastudent eingeschrieben. erkundigen. Offen gestanden: ich studire nicht viel, weil ich dabei bedeutend mehr lerne als wenn ich viel studiren würde. Dies Paradoxon wird Ihnen begreiflich werden, wenn s/S/ie die Annehmlichkeiten der g/G/roßstadt bedenken. Ich gehe sechs bis sieben Mal per Woche ins Theater und habe schon viel Schönes gesehen. Am meisten freute ich mich auf die Aufführung von Maria StuartFriedrich Schillers Trauerspiel „Maria Stuart“ wurde am Königlichen Hof- und Nationaltheater München zuletzt am 14.11.1884 gespielt, „[a]us Anlaß des 25-jährigen Bestehens der deutschen Schillerstiftung [...] mit ermäßigten Preisen“ [Königliches Hof- und National-Theater 1884 [Theaterzettel], S. (687)]. Die Veranstaltung war zunächst für den 9.11.1884 angekündigt worden.; aber sei es, daß ich sie zu kritisch betrachtete, oder von Lenzburg her verwöhntIn Lenzburg war „Maria Stuart“ von einem Laientheater 1876 mit großem Erfolg aufgeführt worden; die Titelrolle spielte Bertha Jahns Schwester Fanny Oschwald [vgl. Martha Ringier: Fanny Oschwald-Ringier 1840-1918. In: Lenzburger Neujahrsblätter, Jg. 13, 1942, S. 14]. war, sie hinterließ nur wenig e/E/indruck. Auch die Königin Elisabeh/t/hDie Rolle der Elisabeth, Königin von England, in Friedrich Schillers Trauerspiel „Maria Staurt“ wurde in München von der Schauspielerin Rosa Herzfeld-Link verkörpert. ärgerte mich, weil sie kein Zungen-RIn der zeitgenössischen Stimmlehre galt das Zungen-R noch als Ausspracheideal, man unterschied „das Zungen-R (oder das reine) und das Gaumensegel-R (oder das unreine). Bei ersterem ist die Zungenspitze der vibrierende Teil [...] Aus der Bezeichnung ‚das reine‘ geht hervor, daß wir nur das Zungen-R als das richtige erkennen. Trotzdem das Zungen-R sehr schwer zu bilden ist (denn es erfordert einen gewissen Grad von Energie und Beweglichkeit der Zunge, besonders ihrer Spitze), muß man doch mit aller Kraft nach dessen Erreichung streben, da es unerläßlich ist, wenn wir Anspruch auf eine deutliche, schöne Sprache machen wollen; ja es ist gar nicht möglich in der Kunst, wie überhaupt in der öffentlichen Rhetorik, ohne dieses R. mit großem Erfolge zu wirken.“ [Oskar Guttmann: Die Gymnastik der Stimme, gestützt auf physiologische Gesetze. Leipzig 1882, S. 127] Wedekind hielt an diesem Ideal fest, auch als es zu verschwinden begann. In dem Glossarium „Schauspielkunst“ (1910) schrieb er: „Als ich kürzlich in Düsseldorf auftrat, erregte ich bei den Schauspielern allgemeines Kopfschütteln und Achselzucken, weil ich Zungen-R sprach“ [KSA 5/II, S. 374]. Wedekind sprach das Zungen-R nicht nur bei seinen Auftritten als Schauspieler und Liedersänger, sondern kultivierte es auch in der Alltagsunterhaltung: Zeitgenossen berichten, Wedekind habe sich „in gewählter Redeweise, die einem keinen Buchstaben unterschlug, aber dem R – einem theaterhaft hervorgerollten Zungen-R – noch eine ganz besondere Sorgfalt widmete“ [Holm 1932, S. 58f.], ausgedrückt und „entgegen dem Stil seiner Zeit ein hochdramatisches, einstudiert rollendes Zungen-R“ gesprochen [Martin Kessel: Romantische Liebhabereien. Sieben Essays nebst einem aphoristischen Anhang. Braunschweig 1938, S. 75]. aussprach und über den schlechten Seiten ihrer Rolle allen königlichen Anstand vergaß. – In der hiesigen Oper hab ich an mir selber die unangenehme Entdeckung gemacht, daß | ich kein Musikverständniß besitze. Es wird Ihnen das nicht minder überraschend vorkommen, als mir selber. Aber wenn ich Ihnen sage, daß ich mit wahrer Entrüstung eine sehr gute Aufführung von Wagners Meistersingerndie letzten Aufführungen von Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Königlichen Hof- und Nationaltheater München fanden am 27.11. und 14.12.1884 statt. verließ und mich meiner Lebtag noch nie so sehr gelangweilt habe, wie gestern AbendAnlässlich von „Beethovens Geburtstags-Feier“ [Königliches Hof- und National-Theater 1884 [Theaterzettel], S. (773)] wurden am 17.12.1884 das Festspiel „Die Ruinen von Athen“ und die Oper „Fidelio“ gespielt. in BethofensSchreibversehen, statt: Beethovens. Fidelio, so bleibt leider Gottes keine andere Lösung übrig. Nur die Coloratursängerin BastaDie Sopransitin Marie Basta vom Königlichen Hof- und Nationaltheater München, wo sie von 1880 bis 1888 engagiert war, war zuletzt am 11.12.1884 als Susanne in Mozarts Oper „Figaros Hochzeit“ zu hören. mit ihrer zwar scharfen und sehr gelenkigen Stimme hör’ ich ganz gern und gerathe deshalb mit WalterBertha Jahns Neffe Walther Oschwald, mit dem Wedekind die Matura abgelegt hatte und nun in München Jura studierte., dessen Enthusiasmus der umfangreichen PrimadonnaAls Primadonna der Münchner Hofoper galt die Sopranistin Mathilde Weckerlin [vgl. Der Sammler, Jg. 53, Nr. 155, 30.12.1884, S. 8], die seit 1876 in München engagiert war; zuletzt zu hören war sie wie Marie Basta am 11.12.1884 in Mozarts Oper „Figaros Hochzeit“ als Gräfin Almaviva. gielt, nicht selten in heftigen Streit. Jeder kämpft dann mit Feuereifer für seine Dame und seinen Glauben, und da natürlich von Capitulation keine Rede sein kann, so verläßt jeder von | vonSchreibversehen (Wortwiederholung beim Seitenwechsel), statt: von. uns als Sieger den Kampfplatz mit dem erhebenden Bewußtsein, den Gegner überwunden zu haben. – Von Spile/k/erAdolf Spilker aus Vilsen bei Hannover; nach einer Apothekerlehre in Nienburg war er als Provisor tätig, ab Herbst 1883 in der Lenzburger Löwenapotheke der verwitweten Bertha Jahn; er wechselte zum 1.10.1884 nach Oldenburg. erhielt ich Antwortnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Adolf Spilker an Wedekind, 2.12.1884. auf meinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Adolf Spilker, 8.11.1884. Seine Zeilen melden zwar nichts vom Unwohlsein ihrer/s/ Verfassers, sehen aber doch ganz darnach aus. Er klagt viel über Kälte und sehnt sich offenbar nach dem Kaminfeuervermutlich der Ort, an dem Adolf Spilker Bertha Jahn aus Heinrich Heines „Reisebildern“ vorgelesen hatte [vgl. Wedekind an Anny Barck, 28.11.1883].. Das Schlußgedicht zum „KußWedekinds Gedicht „Der Kuss. In seiner Entstehung und Fortentwicklung bis zur höchsten Vollkommenheit, nach dem Leben dargestellt“ umfasst fünf Teile [vgl. KSA 1/I, S. 155-160 und Kommentar KSA 1/II, S. 1247-1255], der letzte Teil beginnt mit dem Vers: „Es naht der Herbst. Schon röthen sich die Blätter.“ werde ich Ihnen senden, sobald es fertig ist. Leider ist meine Jungfer Musehier Metapher für dichterische Inspiration. immer noch nicht eingetroffen und ich muß vermuthen, daß sie irgend wo gefangen gehalten wird. Sie können sich leicht vorstellen, wie schrecklich einsam ich mich als Strohwittwerveraltet für: Strohwitwer. fühle, zumal ich ihr so viel Interessantes mitzutheilen hätte. Aber Gedult bringt RosenSchreibversehen, statt: Geduld bringt Rosen; Redensart [vgl. Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Bd. 1, Leipzig 1867, Sp. 1402] im Sinne von: Geduld wird belohnt., und ich hoffe von ihr, daß sie mir | daß sie mir auch diese Rose wieder bringt. – Victor wünsch ich viel Glück und guten Erfolg zu seinem PrologAuf der zweiten Abendunterhaltung der Aarauer Kantonsschüler Aarau am 30.1.1885 trug Bertha Jahns Sohn Victor, der die Abschlussklasse des Gymnasiums besuchte, den von ihm verfassten Prolog vor [abgedruckt bei Hans Kaeslin: Schülerabend-Prologe. In: Aargauer Neujahrsblätter, Jg. 18, 1944, S. 32-34].. Ich zweifle gar nicht daran, daß er die Sache practisch in die Hände nehmen und gut ausführen wird. Ich aber kann mich glücklich schätzen, einen so trefflichen und W lieben NachfolgerAuf dem ersten Aarauer Kantonsschülerfest am 1.2.1884 hatte Wedekind den Prolog vorgetragen [vgl. KSA 1/I, S. 114-117 und KSA 1/II, S. 1983f.]. gefunden zu haben. –

In Lenzburg scheint wirklich sehr viel geklatscht zu werden. Daß Fritzi Kullnicht näher identifiziert. die Schule verlassen mußte, thut mir sehr leid für ihn, denn er ist ein aufgeweckter kluger Kopf und kann gewiß unter Umständen auch fleißig sein, und daß er den Lenzburger Bezirksschullehrern gegenüber Lausbubereien verübt hat, kann ihm meine Sympathie noch nicht entziehen. |

Und nun leben Sie wohl, liebe Tante. Meine besten Empfehlungen an Frl. Lisadie 18jährige Tochter von Bertha Jahn. und an Frl. Hannadie 14jährige Tochter von Bertha Jahn., die ihrer hochgeschätzten Frau Mamma wol schon recht hülfreich, bei Abfassen von Weihnachtsgedichten an die Hand geht. Auch an Ernstder 11jährige Sohn Bertha Jahns, der später nach einem Pharmaziestudium die Lenzburger Löwenapotheke übernahm. recht freundliche Grüße. Ich wünsche Ihnen recht vergnügte Weihnacht, liebe Tante und verbleibe in kindlicher Ergebenheit Ihr dankbarer Neffe Franklin.

Frank Wedekind schrieb am 31. Dezember 1884 in München folgenden Brief
an Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Bertha Jahn , Frank Wedekind

München, December 84.


Liebe Frau Tante,

Ihre drei NeffenWalther Oschwald, Armin Wedekind und Frank Wedekind; nur mit ersterem war Bertha Jahn verwandt, für Frank Wedekind und seinen Bruder Armin war sie eine sogenannte Nenntante, das heißt eine mit der Familie befreundete oder gut bekannte erwachsene Person, die von den Kindern und Jugendlichen den Usancen folgend als Tante angeredet wurde. erlauben sich, Ihnen in kindlicher Ergebenheit ihr BildFotokarte [Aa, Wedekind-Archiv C, Mappe 10; abgedruckt in Vinçon 2021, Bd. 1, S. 69], auf der Walter Oschwald (sitzend, links), Frank Wedekind (stehend) und Armin Wedekind (sitzend, rechts) um einen Tisch herum zu sehen sind. zu überreichen. Ich bin leider nur als Torso darauf. Der KünstlerDas Foto trägt den Namensaufdruck „F. X. Ostermayr“ mit der Adresse „MÜNCHEN Schiller Str 4/0“, der Fotograf Franz Xaver Ostermayr in München (Schillerstraße 4, Parterre) [vgl. Adreßbuch von München 1885, Teil I, S. 368; Teil IV, S. 137]. hat meine beiden Beine vollständig vergessen. Aber Walter und Armin sind dafür um so besser und ebenso die Meh Meerschaumpfeife, die ihres/m/ inneren Werthes gemäß den Mittelpunkt der ganzen Gruppe bildet. – Walter schickt seiner werthen Frau MutterFanny Oschwald, die Schwester Bertha Jahns. natürlich auch ein Exemplar und Armin | sendetDen Brief mit dem Bild schrieb Frank Wedekind an seine Mutter– vermutlich am selben Tag wie den vorliegenden an Bertha Jahn [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 31.12.1884]. eins nach Hause. Darum, und weil wir außerdem noch von/für/ jeden von uns ein Bild machen ließen, ging es auch so lange, bis sie fertig waren.

Am heiligen Abend hatte uns Walter auf seine BudeWalter Oschwald, Jurastudent und späterer Schwager Wedekinds aus Lenzburg, wohnte in München in der Theresienstraße 38, 2. Stock rechts [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 63], keine 200 Meter von der Wohnung der Wedekind-Brüder in der Türkenstraße 30 entfernt. zum Thee gebeten und einen weihevollen Christbaum dazu angezündet. Wie erstaunten wir aber als gleich auch eine Bescheerung darunter lag. Es waren die prachtvollen Bärenmutzen„Honig-, Lebkuchen [...] mit dem Gepräge oder von der Form eines Bären, Festgebäck für die Kinder um Weihnachten und Neujahr“ [Schweizerisches Idiotikon, Bd. 4, S. 617]. mit den vielbedeutenden Zeichnungen und mit den Sprüchlein von mir wolbekannter Hand darauf. Tausend Dank, liebe Tante für die süße, sinnige Gabe! Ich war geraume Zeit in Gedanken versunken über dem plötzlichen Wiedererscheinen meiner geliebten Musewie schon im vorangegangenen Brief Metapher für dichterische Inspiration.. Ich glaubte auf meinem Munde den heißen schöpferischen Kuß ihrer | jugendlichen Lippen zu fühlen und der entschwundene frische Lebensmuth schien mich, den AltagsmenschenSchreibversehen, statt: Alltagsmenschen., von Neuem durchrieseln zu wollen. Aber Es ist zu kaltIn München herrschte seit dem 23.12.1884 Dauerfrost [vgl. Wetterkarte und Wetterbericht der Kgl. Bayer. Meterologischen Centralstation München für jeden Tag des Jahres 1884. München 1884]. dazu. Und ob die Muse nun gleich auch wieder singen wird, möcht’ ich sehr bezweifeln. Die schöne freie Natur ist eingeschneit, auf meiner Bude herrscht constant ungemüthliche Kühle und vorerst immer einzuheizen, ist auch nicht das Wahre. – Aber sie schmeckten ganz famos, die Bärenmutzen, gewürtzt mit manch’ süßer Erinnerung und vielen anderen Gewürzen. Auch Armin läßt Ihnen seinen besten Dank melden. Er wollte zwar zuerst die Devise von der Liebe für seine Person nicht gelten lassen, aber wir beswiesen ihm ohne viel Mühe, daß er doch von jeher darnach gehandelt | habe und daß Sie mit Ihren Worten nur den Nagel auf den Kopf getroffen hätten. – Nachts Um Mitternacht gingen wir in die MesserSchreibversehen, statt: Messe. Walther Oschwald, Frank und Armin Wedekind besuchten die Messe in der Ludwigskirche [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 31.12.1884].. Aber es war gar nicht feierlich; das Publicum nur zum geringsten Theil andächtig, die meisten Leute ein wenig angeheitert.

Und nun leben Sie woll/hl/, liebe Tante. All’ den Ihrigen und vor allem Ihnen selbst wünsche ich ein fröhliches Neujahr und Glück und Segen für alle Zukunft. Behä/a/lten Sies in gnädig gewogenem Andenken Ihren dankbaren Neffen Franklin. –––

Frank Wedekind schrieb am 14. Februar 1885 in München folgenden Brief
an Bertha Jahn

München im Februar 1885.


Liebe Tante,

Ihr letzter lieber BriefOb Bertha Jahn Wedekinds letzten überlieferten Brief [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 31.12.1884] tatsächlich beantwortet hat, der Brief aber verloren gegangen ist, wie Wedekind annahm, ist ungewiss. muß unter Wegs verloren gegangen sein; aber da Sie das natürlich nicht wissen können und wahrscheinlich doch eine Antwort von Ihrem gehorsamsten Neffen in München erwarten werden, so nehme ich mir die Freiheit, Ihre werthen Zeilen, auch ohne sie gesehen zu haben, zu beantworten, und muß dabei nur unendlich bedauern, daß mich die Unzuverlässigkeit der Verkehrsmittel um Ihren heimatlichen Trost und so manches süße Wort der Freundschaft gebracht hat. – Beim letzten Vollmondeder letzte Vollmond war am 30.1.1885 zu sehen. schaut’ ich lang empor | zu dem vergoldeten Nachtwächter; aber an seiner langweiligen PhisiognomieSchreibversehen, statt: Physiognomie. war mit Leichtigkeit zu erkennen, daß Ihre schönen Augen, liebe Tante, nicht auf ihn gerichtet sein konnten; sonst hätte er mir doch wol auch einen so freundlichen Gruß zugewinkt, wie ich ihm deren viele nach Lenzburg auftrug. Wer weiß, vielleicht lagen ja auch schwere Schneewolken über der Heimat und hinderten der/n/ freien Verkehr mit der Sternenwelt. Düsteres Ungemach verstimmt die Seele und läßt die Erinnerung an sonnigere Vergangenheit nicht aufkommen. Aber, so Gott will, sind die Wolken zerstreut, ist das Ungemach längst entflohn und die warmen Strahlen eines verfrühten Lenzes erquicken auch jenseits des Rheines jedes fühlende Herz. –––

Seit einiger Zeit gastirt Frau Clara ZieglerDie Schauspielerin gastierte vom 21.1.1885 bis 14.2.1885 am Hoftheater München: „Am Samstag, den 14. Februar wird Frau Klara Ziegler in der Titelrolle der Klein’schen Tragödie ‚Zenobia‘ ihr Gastspiel beschließen.“ [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 38, Nr. 43, 11.2.1885, S. 3] an der hiesigen Hofbühne mit/und/ gab unter anderem auch | die Königin Elisabeth in Graf EssexHeinrich Laubes „Graf Essex“ mit Clara Ziegler als Gast in der Rolle der Königin Elisabeth, wurde am Königlichen Hof- und Nationaltheater München am 26.1.1885 gespielt. Die Presse berichtete: „(Im Hoftheater) wurde gestern Heinrich Laubes Trauerspiel ‚Graf Essex‘ gegeben. Stück und Darstellung sind von früher her bekannt. Nur die Rolle der Königin war neu besetzt – durch Frau Klara Ziegler. Wenn die Kritik berichtet hat, daß jeder Szene der ‚Elisabeth‘ der stürmische Beifall einer begeisterten Zuhörerschaft folgte, so ist ihre Aufgabe damit eigentlich erschöpft. Denn es läßt sich jenem enthusiastisch gespendeten Lobe nichts hinzuzusetzen; es darf, auch von strenger Beurtheilung, nichts davon hinweg genommen werden.“ [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 38, Nr. 28, 28.1.1885, Erstes Blatt, S. 3] Über das Spiel der Schauspielerin hieß es an anderer Stelle ausführlicher: „Dem Tone fehlte im allgemeinen jene trockene, jene gemüthsleere Schärfe, welche wir von der Königin Elisabeth voraussetzen. Das klang so weich, so warm, ein rhythmisches, wohllautendes Element lag in dem Vortrag [...] Das Organ der Frau Clara Ziegler ist eben von Haus aus zu sympathisch, viel mehr für eine Stuart als eine Elisabeth geschaffen; die Laube’sche Elisabeth hat übrigens mehr Gemüth und wahre Empfindung als die Schiller’sche und historische. Vom dritten Acte an waren jedoch in dem vollmächtigen Ausdrucke von Eifersucht, Leidenschaft und Ingrimm Wohllaut wie Gefühlswärme verschlungen und erstickt, und ein nur von dem einen Trieb der Rachsucht erfülltes Weib stand vor uns. Und dabei doch eine Königin! Das ist der auszeichnende Vorzug der Ziegler’schen Elisabeth, daß in keinem Moment, in keiner Situation, auch nicht bei dem Durchbruch höchster Leidenschaftlichkeit, das königliche Wesen sich verläugnet, im kritischen Augenblick aber zu majestätischer Größe sich entfaltet. Denken wir uns Elisabeth, was in ‚Graf Essex‘ nicht ohne Berechtigung ist, als eine Königin, durchdrungen von Selbstgefühl und zugleich als ein wahrhaft liebendes, aber tief leidenschaftliches Weib, dann müssen wir die gesammte Darstellung unseres Gastes als ebenso berechtigt wie bewunderungswürdig anerkennen. Es ist psychische Entwicklung in ihrer Darstellung. [...] Die gastirende Künstlerin wurde für ihre großartigen Leistungen von den das letzte Plätzchen besetzenden Zuschauern mit begeistertem Beifall belohnt.“ [Allgemeine Zeitung, Nr. 28, 28.1.1885, Zweite Beilage, S. (1)]. Ihe/r/e Maske war so wahrheitsgetreu, daß ich während der Aufführung oft mit Wohlgefallen an die schöne Elisabeth in LenzburgDas Liebhabertheater Lenzburg veranstaltete drei Aufführungen des Trauerspiels „Graf Essex“ von Heinrich Laube. Die letzte fand am Sonntag, 10.2.1884 statt [vgl. Aargauer Nachrichten 1884, Jg. 30, Nr. 30, 5.2.1884, S. (4)]. Über die zweite Aufführung vom 3.2.1884 schrieb die Presse: „Unsere Erwartungen waren nicht gering, wurden aber durch das Gebotene weit übertroffen. Die Darstellung stand auf einer künstlerischen Höhe, wie sie auf Bühnen mittlern Ranges gar nicht zu finden ist. Durch die volle Hingabe eines Jeden an seine Aufgabe, durch das wohldurchdachte Einleben aller Mitwirkenden in ihre Rollen war eine Abrundung in der Entwickelung des Stückes erzielt worden, welche das Drama zur Wirklichkeit machte. Jeder füllte seinen Platz ganz aus, die drei Hauptpersonen aber: Königin Elisabeth, Graf Essex und seine Gattin, die Gräfin Rutland, gaben ihre Rollen mit einer Vollendung, wie wir sie bisher bei Dilettanten für unmöglich gehalten hätten.“ [Intelligenzblatt für die Stadt Bern, Jg. 51, Nr. 38, 8.2.1884, S. 3] In der Aufführung spielte Fanny Oschwald die Rolle der Königin Elisabeth und Blanche Zweifel die der Gräfin Rutland. zurückdachte; und auch ihr Spiel ließ sehr wenig von dem Idealen men/r/ken, das nach Schiller aller Kunst innewohnen soll. Frau Ziegler war mehr Weib als Königin und mehr Satan als Weib, ganz im Gegensatz zu Frau Oschwald, und selbst die Königin i/c/harakterisirte sie mehr durch Unanständigkeit und Schroffheit als durch Anstand und Würde. Bei dieser äußersten Realistik trat denn auch die Poesielosigkeit des ganzen Stückes, die sich in Lenzburg hinter der idealisirenden Auffassung gut verborgen hatte, grell ans Tageslicht. Der Gräfin RutlandDie Rolle der Gräfin Rutland wurde in der Münchner Aufführung von Louise Werner verkörpert, die seit 1874 am Hoftheater engagiert war. fehlten alle Vorzüge der Erscheinung und des Organes, über die Frau Zweifel in so reichem Maße verfügt. Bei ihrer larmojantenlarmoyant = weinerlich. hohen Stimme klangen die philosophischen Tes/he/sen, die ihr der | Dichter zur Hebung ihrer Rolle in den Mund legt, sehr komisch, und nur die Wahnsinnscenedie 9. Szene des V. Aktes; Gräfin Rutlands Auftritt wird in der vorangegangenen Szene von Lady Nottingham mit den Worten angekündigt: „Anna ist Wahnsinnig!“ [Heinrich Laube: Graf Essex. Trauerspiel in fünf Akten. Leipzig 1856, S. 188] spielte sie so vollendet, so zartfühlend, mehr durch Andeutung als durch Ausführung der Bewegungen und Gesten, so ätherisch, G/g/eisterhaft, daß sie in meinen unmaßgeblichen Augen nicht nur Frau Zweifel, sondern auch die erste RutlandWann und mit welcher Schauspielerin in dieser Rolle Wedekind Henrich Laubes „Graf Essex“ erstmals sah, ist nicht ermittelt., die ich in meinem Leben sah, bedeutend übertraf. –––

Liebe Tante, hat Sie vielleicht mein letzter BriefGemeint ist vermutlich nicht Wedekinds letzter Brief [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 31.12.1884], sondern der vorangegangene [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 18.12.1884], dem die ersten vier Teile des Gedichts „Der Kuss“ beigelegen haben dürften. In dem Brief beklagte er auch die Abwesenheit seiner „Jungfer Muse“. unangenehm berührt, oder gar verletzt? Es würde mir unendlich leid thun, denn meine Absicht ist es auf Ehre nicht gewesen. Was ich Ihnen von meiner poetischen Sterlilität schrieb, ist weder Ziererei noch irgend etwas Schlimmeres. Außer den wenigen Strophen, die ich mir erlaubte meinem Briefe beizulegen, hab’ ich hier in München noch nichts Gebundenesgemeint ist: in gebundener Sprache (als Synonym für Lyrik). producirt, als eine schlechte DedicationText und Empfänger dieser Widmung sind nicht ermittelt. zu einer Schachtel | MoustachebalsamMittel zur Förderung des Bartwachstums bei jungen Männern; in einer Annonce hieß es: „Ein hübscher Schnurrbart ist die schönste Zierde des Jünglings. Ohne Schnurrbart keine Liebe bei den Mädchen. Ohne Schnurrbart kein Kuß. Wem der Schnurrbart noch fehlt, der bestelle gleich 1 Fl. Moustache-Balsam“ [Neuigkeits Welt-Blatt, Nr. 73, 30.3.1882, S. (10)]. Die Wirksamkeit solcher Mittel war zeitgenössisch umstritten und führte regelmäßig zu Prozessen wegen Betrugs. , die vom Empfänger zerrissen wurde. Woher dieser Mangel an Productivität kommt, weiß ich kaum zu sagen. Ich hoffe, daß der Frühling mir neue Lieder bringen wird.

Fräulein Lisa weilt nun wol schon am schönen Genferseeim Pensionat Duplant in Lausanne in der Villa „La Verger“ (Rue de Valentin 65), das später auch Wedekinds Schwester Erika und Lisa Jahns jüngere Schwester Hanna besuchten [vgl. Bertha Jahn an Wedekind, 22.6.1887]., und ihre geliebte Frau Mamm/a/a ist wieder um ein liebes Wesen einsamer geworden. Das mag Ihnen recht schwer ankommen, aber die lustige Hanna wird Ihnen durch ihre Laune ja manche Stunde erheitern. Erlauben Sie an sie und Victor meine herzlichsten Grüße. Ich verbleibe in kindlicher Ergebenheit Ihr getreuer Neffe Franklin.

Bertha Jahn schrieb am 10. März 1885 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Bertha Jahn vom 16. bis 19.4.1885 aus München:]


[...] wol haben Sie allen Grund, mir zu zürnen, weil ich so lange nichts von mir hören ließ [...] Sie berichten mir im Ihrem letzten liebn Briefe allerhand Vorfälle und Abenteuer [...] Aber der Brief war doch ganz entschieden weniger an mich, als an uns alle Drei gerichtet.

Bertha Jahn schrieb am 9. April 1885 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Bertha Jahn vom 16. bis 19.4.1885 aus München:]


wol haben Sie allen Grund, mir zu zürnen, weil ich so lange nichts von mir hören ließ, und sogar Ihre freundlich mahnende Karte acht Tage lang unbeantwortet bleibt. [...] Zwar weiß ich ja, daß Sie m/s/ich immer noch liebevoll für mich interessiren; Ihre letzte Carte bewies es mir erst wieder.

Frank Wedekind schrieb am 16. April 1885 - 19. April 1885 in München folgenden Brief
an Bertha Jahn

München. April 85.


Liebe Tante,

wol haben Sie allen Grund, mir zu zürnen, weil ich so lange nichts von mir hören ließ, und sogar Ihre freundlich mahnende Kartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 9.4.1885. acht Tage lang unbeantwortet bleibt. Aber wie und was sollt’ ich Ihnen denn auch schreiben? Sie berichten mir im IhremSchreibversehen, statt: in Ihrem. letzten liebnSchreibversehen, satt: lieben. Briefenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 10.3.1885. allerhand Vorfälle und Abenteuer, die mich allerdings sehr interessirten, aber auch keinen Ton aus jener MelodieAnspielung auf die erotische Beziehung zwischen Wedekind und Bertha Jahn im Herbst 1884., nach der mein Ohr eigentlich lechtzte, die ich mit Schmerzen in der Fremde vermißte und mir nicht selten in der Erinnerung an vergangene schöne Tage in’s | Gedächtniß zurückrufe. Soll denn die edle Blume so schnell verblüht und verwelkt sein? Soll denn der herrliche Zaubergarten nur eine leere Phantasie, nur ein Hirngespinst gewesen sein, darin wir beide nur der langen Zeit wegen ein schnell vorübergehendes Schäferspiel aufführten? – O zürnen Sie mir nicht, daß ich es wage, auch heute noch tief empfundene Worte mit Ihnen wechseln zu wollen. Zwar weiß ich ja, daß Sie m/s/ich immer noch liebevoll für mich interessiren; Ihre letzte Carte bewies es mir erst wieder. Aber der Brief war doch ganz entschieden weniger an mich, als an uns alle DreiWalther Oschwald, Armin und Frank Wedekind, die im Wintersemester 1884/85 gemeinsam in München studierten und Bertha Jahn ein Gruppenfoto schickten [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 31.12.1884]. gerichtet. Ich habe ihn denn auch getreulich den Anderen vorgelesen; war doch nichts darin, was dadurch wäre profanirt worden. Nun war ich aber sehr im Zweifel, wie ich Ihnen daraufhin antworten dürfe. Sollt’ ich Ihnen Schönheiten | aus Kunst und Dichtung beschreiben, die sich gar nicht beschreiben lassen, oder sollt ich Ihnen Münchner Geschichten und Vorfälle erzählen, die vielleicht Morgen schon nicht mehr wahr sind? Einzig in unserer Seele geschehen die wahrhaft unsterblichen Begebenheiten, in unserer Seele, wo Empfindungen und Gedanken Personen gleich umherwandeln, sich begegnen, sich bekämpfen und Lust- und Trauerspiele aufführen, die wahr und interessant bleiben, bis dereinst die Gräber sich aufthun und di/a/s Treiben der Menschen ein jähes Ende nimmt. Und wer wüßte wol besser Briefe aus solchem Seelenleben heraus zu schreiben, als gerade Sie, liebe Tante, Sie, deren tiefes Gemüth im Verein mit Ihrem hellstrahlenden Verstande, geschmückt und verherrlicht durch die reichste Phantasie Ihnen eine innere Welt schafft, die in wenig Menschenherzen I/i/hres Gleichen findet.

––– Sind Sie mir jetzt böse darüber, | daß ich, ein junger Fantjunger, noch unerfahrener Mensch mit noch wenig Erfahrung (von ital. ‚fante‘ für Bursche). , es wage, Ihnen so freimüthig meine Ansichten vorzulegen. Wol haben Sie Grund dazu und dennoch tragen Sie selber nicht die kleinste Schuld daran. Haben Sie mich doch verwöhnt durch die Gunst Ihres Umganges, verwöhnt durch die herzlichsten, liebevollsten Worte, die jemals einem Menschenherzen entströmten; und noch jetzt, wenn ich Ihre zarten, schönen Gedichte, Ihre früheren Briefe lese, so thut sich eine Welt voll Wonne und Seligkeit meinen Blicken auf, deutlich erkenn ich jegliche der Gestalten darin; aber sie weichen scheu zurück wie die Trugbilder der Fata-MorganaLuftspiegelung., sobald mein sehnender Arm sie umfangen, mein Wort sie bannen, mein Mund sie küssen will. –––

Sie haben mich verwöhnt, liebe Tante; das ist freilich wahr. Aber wenn ich auch momentan ein wenig | darunter leide, wenn ich empfindlich, geworden bin, wenn mich die Gesellschaft leicht langweilt und ich mir selber nicht genüge, so weiß ich doch recht wohl, daß ich Ihnen nie genug dafür danken kann, daß ich eben durch Ihren Einfluß so geworden bin. Blick ich auf das verflossene Semesterdas Wintersemester 1884/85, das Wedekind gemeinsam mit seinem Bruder Armin in München verbracht hatte, der spätestens am 11.4.1885 abgereist war, um sein Studium im kommenden Semester in Zürich fortzusetzen. zurück, so erscheint es mir trotz all der vielen Herrlichkeiten, die ich gesehen und gehört, doch wie eine lange düstre Nacht ohne einen einzigen lichten Moment, auf den ich mein ganzes Wesen und Trachten hätte concentriren können. Ich fand eben ei/ke/inen Menschen, der mit mir sympathisirt, der mich verstanden hätte. WalterWalther Oschwald, der Neffe Bertha Jahns, war wie Wedekind in München als Jurastudent eingeschrieben; er heiratete 1898 Wedekinds Schwester Erika. war mir freilich ein lieber, treuer, vortrefflicher Freund; aber gerade seines schnurgeraden unerschütterlichen Charakters wegen begreift er nicht, wie man unter u/U/mständen auch anders | geartet sein kann. So zankten wir uns dann sehr oft, indem er meinen Scherz Frivolität und meinen Ernst Comödie nannte, ich aber auch anderseits wieder auf seine Eigenheiten sehr wenig Rücksicht nahm. ––

Unglücklicherweise sind nun schon wieder mehrere TageHinweis auf eine Schreibunterbrechung, für die hier drei Tagen angenommen werden. verflossen ohne daß ich diese Zeilen vollendet hätte. Ich bekam BesuchOskar Schibler, der in Leipzig studierte, dürfte vor Beginn der Vorlesungszeit dort am 20.4.1885 [vgl.: https://histvv.uni-leipzig.de/vv/1885s.html; abgerufen am 18.2.25] auf dem Weg von Aarau nach Leipzig seinen Weg über München gewählt haben, um dort für ein paar Tage seinen Jugendfreund Wedekind zu besuchen. von meinem Freunde Oskar und da werden Sie wol entschuldigen, daß mir weder Stimmung noch Sammlung kommen wollte, erhaben genug, um Ihnen, liebe Tante, mein Herz auszuschütten. Aber jetzt bin ich wieder mit Leib und Seele der Ihrige und will es bleiben, so lange Sie Ihren lässigen Neffen nicht von sich stoßen. Vor allem erlauben Sie mir, daß ich Ihnen gratulire zu Ihrem verehrten H. Sohne und meinem lieben Freunde Victor; ich meine | zu den Triumphen, die er geerndtetSchreibversehen, statt: geerntet., und zu seiner vortrefflichen MaturitätsprüfungDie Zeugnisübergabe für die Absolventen des Gymnasiums in Aarau war am 9.4.1885 [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1884/85 (Titelblatt)].. Seinen PrologVictor Jahn trug den von ihm verfassten Prolog auf der Abendunterhaltung der Kantonsschüler am 30.1.1885 vor [abgedruckt bei Hans Kaeslin: Schülerabend-Prologe. In: Aargauer Neujahrsblätter, Jg. 18, 1944, S. 32-34]. Der Text dürfte einem Brief Emilie Wedekinds an ihren Sohn beigelegen haben [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1885], der ihr später von der Lektüre berichtete [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 12.3.1885]. hab’ ich natürlich mit dem größten Interesse gelesen und freute mich dabei für die aargauische Cantonsschule darüber, daß Sie in meinem OpusWedekind hatte für die erste Abendunterhaltung der Kantonsschule Aarau am 1.2.1884 den Prolog [vgl. KSA 1/I, S. 114-117] verfasst und im neuen Festsaal in Aarau mit großem Beifall vorgetragen [vgl. KSA 1/II, S. 1983-1986]. Mitte Februar 1884 wurden die Verse bei Sauerländer in Aarau als 8-seitiger Separatdruck mit einigen 100 Exemplaren gedruckt. nicht mehr ein Meerwunderim übertragenen Sinne: „sehenswürdigkeit und gegenstand des anstaunens“ [DWB 12, Sp. 1863]. von unerreichter Meisterschaft anzustaunen braucht, sondern daß es nunmehr der Ausgangspunkt und die erste Stufe zu einer Reihe besserer, vollkommnerer Leistungen geworden ist, eine Rolle, die mich bedeutend mehr befriedigt als das tolle Gech/j/auhze und Geschlatschwohl für: Geklatsch. der Menge. Ich will nicht verhehlen, daß ich mit innerem Wohlbehagen darauf gespannt war, wie Victor die s/S/chwierigkeiten beseitigen werde, die sich naturgemäß schon aus der Wiederholung des gleichen Problems ergeben; aber wenn auch meine Erwartungen durchaus nicht gerade B/b/escheiden waren, so hat er sie doch bei weitem übertroffen. | Er d verfügt eben doch über Töne, schöne hochpoetische effectvolle Töne, die ich mit Schmerzen auf meiner dichterischen Harmonica vermissen muß; es ist der gesunde göttliche Humor, den Victor in seinen Strophen aufs herrlichste verwendete und der, ohne je irgendwie verletzen zu können niemals seine wohlthuende Wirkung auf den Zuhörer verfehlt. Auch in seiner Rede am Maturitätswixdie festliche Verabschiedung der Abiturienten. muß er so humorvoll und doch gediegen gesprochen haben. Ich vernahm schon von den verschiedensten Seiten immer nur dieses lobende Urtheil darüber und bedauerte jeweilen um so schmerzlicher, persönlich nicht dabei gewesen zu sein. Und nun ist Victor also nach Genf gereist, um Theologe zu werdenVictor Jahn studierte in Genf Theologie und wurde Pfarrer in Brugg (1890-1926).. Wenn es seine aufrichteSchreibversehen, satt: aufrechte (oder: aufrichtige). Absicht ist, dann gratulir ich ihm von ganzem Herzen, denn es giebt wol keinen schöneren und angenehmeren Beruf, | als seiner Mitmenschen Seelsorger zu sein. Aber, verzeihen Sie, liebe Tante, auch mir, einem ungläubigen Heiden, muß es ein trotz allem ein wenig gewagt erscheinen, wenn man sich auf bei Carl VogtKarl Vogt, ein Schüler von Justus Liebig, seit 1872 Professor für Zoologie in Genf, war ein prominenter Vertreter des Materialismus und Atheist. Er war 1849 in die Schweiz geflohen und mit Wedekinds Vater befreundet. Die von Frank Wedekind hier geäußerten Bedenken formulierte ihm gegenüber in gleicher Weise auch Armin Wedekind [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 24.4.1885]. auf das theologische Studium vorbeiten will. –

Als ich jüngst träumend die Maximiliansstraße hinaus wanderte, sah ich einen wunderschönen Kö/o/pfPorträt von Lord Byron, vermutlich eine Postkarte; das von Wedekind geschilderte Porträt mit dem wehenden Halstuch war weit verbreitet. Das beigelegte Bild ist nicht überliefert. Am Hoftheater in der Maximilianstraße war am 20.2.1885 Lord Byrons dramatisches Gedicht „Manfred“ (Musik: Robert Schumann) aufgeführt worden, so dass dort möglicherweise entsprechende Bilder angeboten wurden., und da ich im Geiste gerade in Lenzburg bei Ihnen weilte, so dacht ich, daß er auch Ihnen, liebe Tante, nicht über/l/ gefallen werde, und erlaubte mir deshalb, ihn beizulegen. Beachten s/S/ie nur diese freie schöne Stirne, dies kühne Auge, überwölbt von den schön geschwungenen Brauen und dann diesen/r/ Mund, dessen Oberlippe süßeste Sinnlichkeit, dessen Unterlippe allen Sarkasmus und alle Verachtung zeigt, womit der Unsterbliche seine ganze Mitwelt | und alle Scheinheiligkeit seines Volkes überschüttete. Die beiden Cravattenzipfel, im wilden Winde flatternd, vollenden die Charakterisirung des ganzen Menschen, der im unaufhörlichen Wirbelsturme der heftigsten Leidenschaften durchs Leben brauste, kämpfte auf dem Schlachtfelde der Poesie, der Liebe und der Politik und endlich noch in der Blüthe seiner Jahre, in der Fülle physischer und geistiger Kraft den beneidenswerthen Opfertod für die FreiheitLord Byron schloss sich mit 36 Jahren dem griechischen Freiheitskampf an und „hatte vom 1. Jan. 1824 an eine Schar von 500 Sulioten in Sold genommen, an deren Spitze er das Schloß von Lepanto, die einzige Festung des westlichen Griechenland, welche noch in der Gewalt der Türken war, zu erobern gedachte“ [Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 3, 1886, S. 704]. Er starb in Missolunghi: „Er bekam zu wiederholten Malen konvulsivische Anfälle und wurde durch die ärztlichen Mittel nur noch mehr geschwächt. Kaum so weit hergestellt, daß er seine gewohnten Spazierritte wieder unternehmen konnte, zog er sich auf einem derselben ein Fieber zu, das bald einen gefährlichen Charakter annahm und nach zehn Tagen (19. April 1824) seinem Leben ein Ende machte.“ [Ebd., S. 704f.] starb. – Erscheinungen wie er wiederholen sich nicht in der Weltgeschichte; aber wenn es auch keinem Nachgeborenen vergönnt sein wird, dem Genius dieses Mannes nach gleich zu kommen, so ist er darum dennoch mein Ideal. Nur darnach streben zu dürfen, was er erreicht und seines schönen Todes zu sterben, wäre mir das Höchste, was mir die Gunst der/s/Hier bricht der Brief ab, die zweite Seite des Doppelblatts ist abgetrennt.

Bertha Jahn schrieb am 23. Juli 1885 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Bertha Jahn vom 5.9.1885 aus München:]


Ich war Ihnen zwar noch von früher her einen Brief schuldig und es wäre mir gewiß längst das größte Vergnügen gewesen, Ihnen zu schreiben; aber da kam mir meine Krankheit in die Quere [...]

Bertha Jahn schrieb am 14. August 1885 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[1. Hinweis in Wedekinds Brief an Bertha Jahn vom 5.9.1885 aus München:]


Was werden Sie von mir denken, daß ich Ihren lieben freundlichen Brief so lange ohne irgend eine Antwort lasse. [...] Sie schreiben, lieben Tante [...] Nachdem ich Ir/hr/en lieben Brief gelesen [...]


[2. Hinweis in Wedekinds Brief an Bertha Jahn vom 4.3.1886 aus München:]


Was Sie mir letzten Sommer schrieben, als ich hier im Spital lag [...]

Frank Wedekind schrieb am 5. September 1885 in München folgenden Brief
an Bertha Jahn

München September 85.


Liebe, gute, geliebte Tante!

Was werden Sie von mir denken, daß ich Ihren lieben freundlichen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 14.8.1885. so lange ohne irgend eine Antwort lasse. Aber Sie müssen die v/V/erhältnisse kennen, dann werden Sie mir gewiß verzeihen, wenn ich auch in keiner Weise zu entschuldigen bin. Ich war Ihnen zwar noch von früher her einen Brief schuldigHinweis auf einen weiteren unbeantworteten, nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 23.7.1885.Hinweis auf einen weiteren unbeantworteten Brief, nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 23.7.1885. und es wäre mir gewiß längst das größte Vergnügen gewesen, Ihnen zu schreiben; aber da kam mir meine KrankheitWedekind hatte sich am 3.8.1885 einen Rotlauf (s. u.) am linken Unterschenkel zugezogen und war deswegen seit dem 5.8.1885 stationär im Krankenhaus links der Isar. Über die Erkrankung informierte er seinen Vater erstmals Mitte August [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885]. in die Quere und machteam rechten Seitenrand notierte Bertha Jahn unter einem Strich (um 90 Grad gedreht in lateinischer Schrift): „Wenn man wirklich das Bedürfniss z. schreiben gehabt, hätte man Zeit gefunden!“ mir einen Strich dadurch und durch so vieles Schöne, das ich mir für diese FerienWedekind hatte geplant, die Semesterferien ab dem 15.8.1885 in Lenzburg zu verbringen [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 25.7.1885]. ausgesonnen hatte. – Jetzt wohn’ ich schon lange nicht mehr | daheim auf meiner trauten Bude in der SchellingstraßeWedekind zog nach dem Studienortwechsel seines Bruders Armin nach Zürich im April 1885 von dem gemeinsamen Zimmer in der Türkenstraße 30, 1. Stock, in die Schellingstraße 27, 3. Stock, um. Das Haus mit der neuen Wohnung lag in unmittelbarer Nähe zu seinem alten Zimmer: „Zwischen 27 und 29 Türkenstrasse“ [vgl. Adreßbuch von München 1885, Teil II, S. 407 und 1886, Teil II, S. 416].; wie lange, das darf ich Ihnen gar nicht sagen; und in einem großen Krankenhaus, wo v/V/iele beisammenWedekind war im Studentensaal des Universitätsspitals, dem Krankenhaus links der Isar, untergebracht [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885]. sind und sich zu unterhalten suchen, da ist es den Tag über recht schwer sich zu einem Briefe s/z/u sammeln; und wie hätte ich da erst die richtige Stimmung finden sollen, die würdig gewesenAm linken Seitenrand zog Bertha Jahn einen Längsstrich (von „gewesen“ bis „zu lassen!“) und notierte daneben ein Fragezeichen („?“). wäre, mich mit Ihnen, geliebte Tante im Geiste verkehren zu lassen! Aber des Nachts, wenn die Lampe in Mitten des Saales nur noch ganz düster brennt, wenn die Andern alle schnarchen und ich gewöhnlich nicht schlafen kann, dann denke ich an „Sieam linken Seitenrand notierte Bertha Jahn (um 90 Grad gedreht und durch Einweisungszeichen markiert) dazu: „an Sie u. so viel Andere“.“, liebe Tante, und es bemächtigt sich meiner eine unbeschreiblich freudige Aufregung. Gar bald hab’ ich vollständig vergessen, in welch’ engen Schranken ich gefesselt liege und Worte und Bilder, die längst ver|weht und vergangen sind, beleben meine Sinne. O, wie oft schon glaubt ich mich in dieser Weise an Ihrer Seite sitzend im grünenden Garten unter heiterem Geplauder – und wenn ich aus der schönen Vergangenheit nicht mehr weiter wußte, so machte ich eine noch schönere Gegenwart dazu. Gegen Ende der Geisterstundedie Zeit zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens. bin ich dann meist in einer solchen Aufregung, wär daß es Thorheit wäre, den Schlaf ohne Weiteres erwarten zu wollen. Ich erbitte mir von der Schwester ein/zw/ei Schlafpulver, um dann erst recht von Ihnen zu träumen bis zum lichten Morgen. –––Bertha Jahn notierte in der Zeile nach dem Gedankenstrich: „(wer’s glaubt!)“

Sie schreiben, lieben Tante, daß Sie meinetwegen besorgt gewesen seien. So sehr ich mich dadurch auch geschmeichelt und Ihnen zu Dank verpflichtet fühle, so war ich doch Ihrer ängstlichen Theilnahme meiner Krankheit wegen nicht sonderlich werth. Ich hatte zuerst einen Rothlaufbakterielle Entzündung der oberen Hautschichten, auch: Wundrose oder Erysipel, „welche sich durch ihre Rosenröte, durch Schwellung und Schmerzhaftigkeit, durch ihr Fortschreiten oft über große Körperflächen auszeichnet und meist mit Fieber verbunden ist. [...] Im gewöhnlichen Verlauf steigert sich die Entzündung und das Fieber etwa 8–14 Tage lang, dann schwillt der kranke Teil ab. [...] Die besten Erfolge sieht man von zahlreichen Einstichen mit einem schmalen, scharfen Messer, welche in einer gewissen Entfernung von der roten Schwellung im Gesunden vorgenommen werden und nicht selten das Fortschreiten der Entzündung hindern. Sobald Eiterung oder Brand beginnt, müssen lange Einschnitte gemacht werden, kurz es treten dann alle Mittel der chirurgischen Behandlung ein, die nicht so selten in der Amputation ganzer Glieder ihren Abschluß findet.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 13. Leipzig 1889, S. 966] und dann einen Absceß„eine mit Eiter gefüllte Höhlung innerhalb der Gewebe des Körpers“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 1. Leipzig 1885, S. 55]. am Bein, alles absolut schmerzlos aber höchst langweilig und langwierig; ich werde wol erst binnen der nächsten 8 Tage heimkehrenWedekind wurde erst am 18.9.1885 entlassen und reiste am 20.9.1885 nach Lenzburg [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 18.9.1885]. Am 2.11.1885 kehrte er dann zur Fortsetzung seines Studiums nach München zurück [vgl. Frank Wedekind an William Wedekind, 28.10.1885]. können. Einstweilen muß ich noch im Krankensaal bleiben und hinke am Stock umher | wie ein alter Invalide, und auch wenn ich nach Lenzburg komme, werde ich mich wol noch nicht neben einen Singhalesen stellen können. Nachdem ich Ir/hr/en lieben Brief gelesen, begann ich in der That ernstlich zu bereuen, daß ich die CaravaneÜber die Ausstellung „Die Singhalesen“ von Carl Hagenbeck, die seit Monaten durch Europa tourte und vom 1.8. bis 13.8.1885 in Zürich gastierte, bemerkte die Presse: „Das Zürcher Tagesereigniß sind [...] die Singhalesen. Gestern, Sonntag, war ihre Bude von 10,136 Personen besucht; ein Glück, daß Regen fiel und Manchem den Eifer kühlte, die wunderbaren Menschen und Thiere aus Ceylon zu sehen – sonst hätte es ein Gedränge gegeben, daß kein Elephant mehr hindurch gekommen wäre.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 25, Nr. 215, Zweites Blatt, 3.8.1885, S. (2)] 1887 eröffnete Carl Hagenbeck seinen ‚Internationalen Circus und Singhalesen-Karawane‘. dieser herrlichen Männer während ihres HierseinsIn München gastierte die Ausstellung Ende April 1885. Die Presse berichtete: „Die Singhalesen-Carawane, deren Ankunft bereits von den Münchner Zeitungen signalisirt wurde, ist am 24. ds. M. Abend 7 Uhr 40 Minuten direkt von Marseille kommend hier eingetroffen.“ Nachdem sich die „Mitglieder der Carawane [...] im Café Gaßner etwas restaurirt, wurden sie sofort nach dem Ausstellungs-Gebäude auf die Theresienwiese geführt, wo es sich die schwarzen Menschenbrüder nach ihrer Art bequem machten. [...] Unter den exotischen Gästen [...] befand sich der zur Truppe gehörende Oberpriester Piyaratne-Una, der Schamanen-Vortänzer Kiriwedda, die Teufelstänzer Ukkubanda und Kiribanda sowie schließlich die beiden Tamils, d. h. aus Südindien eingewanderte Bewohner Ceylons, mit Namen Mutasami und Frau. [...] Die Ausstellung ist am Samstag Nachmittags 3 Uhr [25.4.1885] im Beisein eines geladenen distinguirten Publikums in dem neu erbauten Ausstellungsgebäude auf der Theresienwiese offiziell eröffnet worden. [...] Nach einer eingehenden Besichtigung der baulichen Anlagen nahmen die eigentlichen Schaustellungen ihren Anfang. Diese wurden eingeleitet durch Tanzbelustigungen, welche die Singhalesen in ihrer Heimath bei verschiedenen familiären Veranlassungen wie z. B. Kindsgeburten, Hochzeiten etc. aufführen. Ihnen schloß sich ein religiöser Tanz an, der von Schamanen zur Erflehung von Regen, guter Ernte, Gesundheit, noch heutzutage auf Ceylon angewandt wird. Zu beiden Tanzarten schlugen Trommler, eigenthümlich geformte Trommeln, ‚Drolen‘ genannt, mit einem gewissen Rythmus, während die Tänzer selbst sich mit Schellengeläute und etwas eintönigem Gesang accompagnirten. An einem andern Ende des Raumes hatten sich gleichzeitig mehrere singhalesische Frauen um eine große Trommel ‚Rabanna‘ genannt, gehockt, um dieselbe unaufhörlich mit ihren flachen Händen zu bearbeiten. Die nächste Nummer war eine Produktion eines phantastisch gekleideten singhalesischen Stelzenkünstlers, der Unglaubliches auf meterhohen Stelzen leistete Ihm folgte singhalesische Teufelstänzerei, die in einem ganz originellen Costüm zu veranschaulichen suchte, auf welche Art und Weise die Singhalesen die vom Teufel Besessenen d. h. ihre Kranken zu kuriren wissen. [Kurier für Niederbayern, Jg. 38, Nr. 115, 28.4.1885, S. (1f.)], nicht besucht hatte. Jetzt ist ein ganzes JapanesendorfWedekind bezieht sich auf die ‚japanesische Ausstellung‘ im Münchner Glaspalast, die am 29.8.1885 eröffnet worden war und mit der Versteigerung einzelner Ausstellungsstücke am 14.10.1885 endete. Unter dem Titel „Japan in München“ gab die Presse eine ausführliche Beschreibung der Ausstellung, darunter auch eine des aufgebauten ‚Dorfes‘: „Alle die kleinen Häuschen, die indessen die charakteristische Bauart nur andeutungsweise zeigen, sind mit einer einzigen Ausnahme Werkstätten, auf der Vorderseite ganz offen, so daß wir das Thun und Treiben der fleißigen Arbeiter genau beobachten können. Die Wände dieser einstöckigen Häuschen bestehen aus Holzgittern, mit weißem Papier verklebt, über aus in verschiedenen Mustern zusammengesetzten Bambusstäben. Der Fußboden ist mit Matten belegt, die inneren Wände meist mit bemalten Wandschirmen verstellt. Auch das einzige Wohnhaus, welches wir sahen, ist ganz ähnlich eingerichtet, nur befindet sich darin eine Reihe von flachen Kissen zum Sitzen sowie einzelne Hausgeräthe, beispielsweise die kleinen Oefchen zum Wärmen der Füße; dieses Haus ist auch zweistöckig, ein verandaartiger Aufbau über einer rundumlaufenden, vorspringenden Galerie bildet den zweiten Stock.“ [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 38, Nr. 242, 30.8.1885, S. 1] im hiesigen Glaspalast1854 erbautes Ausstellungsgebäude auf dem Gelände des Alten Botanischen Gartens in der Münchner Innenstadt; 1931 abgebrannt. zu sehen, was ich noch vor meiner Abreise zu besuchen gedenke. Diese Leute haben zwar nicht denselben herrlichen Gliederbau aufzuweisen, wie ihre südlichen Nachbarn, aber sie sind doch etwas intelligenter, was eben auch nicht ganz zu unterschätzen ist.

Von meinem Krankenbett aus weiß ich Ihnen natürlich nicht viel Neues zu berichten. Ein Tag fließt wie der andere dahin in unabänderlicher Monotonie, aber mein unverwüstlicher Humor, läßt mich sie alle mit Geduld ertragen. Ich habe während der Zeit meiner Krankheit aus purer | Langweile zwei Balladenvermutlich die Balladen „Die Venus“ [KSA 1/I, S. 197f. und Kommentar KSA 1/II, S. 1382f.] und „Der Mensch ist ein Chamäleon“ [KSA 1/I, S. 198f. und Kommentar KSA 1/II, S. 1260-1263], von denen Reinschriften vorliegen, die während Wedekinds Lenzburger Aufenthalts nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus entstanden., zwei Novellenvermutlich die Fragment gebliebenen Novellen „Der Kuß“ [KSA 5/I, S. 314-319 und Kommentar KSA 5/I, S. 450-462] und „Trudi“ [KSA 5/I, S. 320-326 und Kommentar KSA 5/I, S. 784-796]. und ein Trauerspielnicht überliefert. b/z/u schreiben begonnen, aber ohne natürlich etwas zu vollenden. Daneben etstandenSchreibversehen, statt: entstanden. allerdings als Kinder meiner schlafberaubten Nächte mehrere Gedichte an SieAus dieser Zeit stammt nur das Gedicht „Wiedersehn“ (später unter dem Titel: „An Madame de Warens“), das in einer auf den 21.10.1885 datierten Reinschrift überliefert ist [vgl. KSA 1/I, S. 195f. und Kommentar S. 986-990]. , liebe Tante, die ich mir die Freiheit nehmen werde, Ihnen in Lenzburg zum Urtheil über Leben und Tod zu unterbreitenBertha Jahn notierte im Anschluss daran (um 90 Grad gedreht) am rechten Seitenrand: „Was ist daran wahr u. was geschwindelt?“ .

––– Mir vis à vis im Krankensaal liegSchreibversehen, statt: liegt. ein Studiosus MedicinäDer Medizinstudent und sein Vater sind nicht identifiziert. von vierundzwanzig Semestern. Er zählt 32 Jahre, sieht aber aus wie ein guter Fünfziger. Außer an einer zerfressenen Lunge und an einem Herzfehler leidet er noch an Gelbsucht und Wassersucht. Seit 8 Tagen wartet man schon vergebens auf sein seliges Hinscheiden, denn er ist ein verlorenes Opfer des Münchner Bieres. Gestern besuchte ihn sein alter Vater aus der Rheinpfl/a/lz. Er wußte genau wie alles stand und d mit rothverweinten Augen tröstete er seinen Sohn lächelnd, es werde jaAufgrund des abgerissenen unteren Seitenrandes ging Text von mindestens einer Zeile verloren; zu ergänzen wäre etwa: alles gut gehen, er solle. [Textverlust] | nur dem lieben Gott vertrauen. Ein junges hübsches Mädchennicht identifiziert. aus München hatte den Alten hergeleitet; Und während er mit seinem verlorenen Sohne sprach, übernahm ich es, seine Begleiterin zu unterhalten. Ich setzte mich zu ihr aufs Fenstersimms und wir sprachen von allerlei, was die Menschen interssirtSchreibversehen, statt: interessirt. und zugleich belustigt. Nachher hatte ich wieder Fieber und mußte früh zu Bett gehn.Bertha Jahn notierte dazu am rechten Seitenrand (um 90 Grad gedreht): „Das ist wahr, ganz Franklin!“

––– Und jetzt leben Sie recht wohl, liebe Tante. Meine Empfehlungen an Fräulein Lisa und undSchreibversehen (Wortwiederholung), statt: und. viele Grüße an Hanni und Ernst vor Allem auch an Victor, wenn er von aus seinem SemesterBertha Jahns Sohn Victor studierte seit Frühjahr 1885 Theologie in Genf. schon zu Hause bei der lieben Mutter ist. Ich aber bleibe in kindlicher Ergebung und Liebe Ihr treuer Neffe FranklinAm Fuß der Seite notierte Bertha Jahn: „Wo bleibt der Herzenston? Das ist der erste Brief seit März, freilich die“; durch den abgerissenen unteren Seitenrand ging weiterer Text von mindestens einer Zeile verloren. Ähnlich monierte Bertha Jahn gegenüber Wedekinds Mutter, die sie mit Zitaten aus dem vorliegenden Brief über den Krankheitsverlauf Frank Wedekinds beruhigte: „Franklin hat geschrieben, ich darf mit Bestimmtheit annehmen, daß Sie ihn dazu aufgefordert, der Brief ist nicht dem Bedürfniß sich mit mir zu unterhalten, entsprungen, sondern der Convenienz, das merkt man ihm an.“ [Vgl. Bertha Jahn an Emilie Wedekind, 6.9.1885, Mü, Nachlass Frank Wedekind, FW B 191].

Frank Wedekind schrieb am 9. November 1885 in München folgenden Brief
an Bertha Jahn

München, 9. Nov. 85.


Meine liebe Hochverehrte!! Frau Tante,

Seit acht TagenWedekind kehrte vermutlich am 2.11.1885 zum Studium nach München zurück [vgl. Frank Wedekind an William Wedekind, 28.10.1885]. bin ich jetzt wieder hier und hatte derweil Zeit genug mich einzugewöhnen (das wird einem nicht so leicht wenn man von Lenzburg kommt) und mich häuslich einzurichten. Erlauben Sie mir nun [drei durchgestrichene Kreisevermutlich Chiffre für drei Küsse.] –– daß ich Ihnen etwas von dem erzähle, was ich seitdem erlebt habe. In Stein bei meiner philosophischen TanteOlga Plümacher, wohnhaft in Stein am Rhein, veröffentlichte philosophiehistorische Bücher zum Pessimismus. war ich nicht, denn ich t/w/ußte nicht, ob sie nicht noch in Berlin weilte und in Zürich bin ich auch nur einen Nachmittag geblieben. Die N nächtliche Fahrt über den BodenseeZwischen Romanshorn auf Schweizer Seite und Lindau verkehrte eine Fähre über den Bodensee. bei frischem Ostwind und sternenklarem Himmel war von Herzerhebender Schönheit. Eine junge Französinnicht identifiziert., die mit an Bord war und an der ich mein baufälliges Französisch wieder ein | wenig auffrischte, half mir den Schlaf überwinden. Von München Lindau bis München hatte ich einen sehr schweigsamen Herrnnicht identifiziert; über seinen Abteilgenossen in der Bahn berichtete Wedekind auch seinem Vater [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 27.11.1885]. zum vis à vis; erst kurz vor München, nachdem ich mehrere Versuche gemacht hatte, ihn zum Sprechen zu bewegen, merkte ich, daß er taubstumm war.

Die ersten Tage in München kamen mir schrecklich lang vor. Ich hatte Heimweh nach InenSchreibversehen, statt: Ihnen., liebe Tante und überhaupt nach Lenzburg. Theater und Concerte, die ich Abends besuchte vermochten kaum mich zu zerstreuen.

Im fliegenden HolländerDie Vorstellung von Richard Wagners Oper „Der fliegende Holländer“ fand am 5.11.1885 im Königlichen Hof- und Nationaltheater München statt und begann um 19 Uhr [vgl. Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 38, Nr. 308, 4.11.1885, Erstes Blatt, S. 3]. saß ich neben einer Musikschülerinnicht identifiziert., mit der ich per Zufall auch auf AngelikaVon Wedekind erfundene Münchner Geliebte, mit der er das bestehende erotische Verhältnis zu seiner Tante Bertha Jahn mithilfe dieses „fingierten Distanzierungs- und Täuschungsversuchs“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 120] aus der Ferne zu beenden suchte. Er widmete Angelika sogar Gedichte [vgl. KSA 1/I, S. 203f. und 1011f.]. Im Dezember 1885 ließ er sie sterben, nicht ohne noch angeblich an ihren offenen Sarg gereist zu sein [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 2. bis 30.12.1885]. zu sprechen kam. Sie kannte sie sehr gut, sagte aber, sie sei seit 14 Tagen verschwunden und niemand wisse wohin. Ich erschrak. Am folgenden Tage vernahm ich daß ihr Vater sie nach Passau zurückgerufen und daß ihre Tante mit gegangen sei. Meinen letzten Brief, der nach ihrer Abreise angelangt sei, habe man ihr nach geschickt. – Arme Angelika! Ich | konnte mich ihretwegen einer stillen Thräne nicht enthalten. –

Die Lilie schwanktWedekind zitiert hier den ersten Vers eines seiner Gedichte (ohne Titel) [vgl. KSA 1/I, S. 88 und Kommentar KSA 1/II, S. 1337f.] von 1882/83, das eine erloschene Liebe thematisiert. im Winde e. ct.

Heute Mittag w/st/and ich zum ersten Male wieder vor der MadonnaWelches Bild von Tizian Wedekind hier meint, ist unklar; in der Alten Pinakothek gab es drei Madonnengemälde von Tizian, in Schacks Gemälde-Galerie mindestens eines [vgl. München. Führer durch die Stadt und Umgebungen. München 1881, S. 38 und 64]. von Tizian, die ich seit vier Monaten, der Zeit, seitdem ich sie nichSchreibversehen, statt: nicht. gesehen, immer tr in treuer Verehrung im Herzen trug. Heute schien es mir aber, daß sie sich sehr zu ihrem Nachtheil verändert habe. Ich war unangenehm enttäuscht. Mein Geschmack ist seither offenbar ein anderer geworden.

Auf meiner Bude sieht es jetzt sehr gemüthlich aus, des Abends all’mal, wenn das Feuer im Ofen knistert und die Lampe ihren traulichen Schimmer über den Tisch breitet. Vor mir auf dem Tische steht die hl. MagdalenaDas Brustbild der büßenden Magdalena (Ölgemälde um 1753/55) von Graf Pietro Antonio Rotari hängt in der Gemälde-Galerie in Dresden [vgl. Karl Woermann: Katalog der königlichen Gemäldegalerie zu Dresden. Dresden 1892, S. 71] und war ein beliebtes Motiv für Reproduktionen und Postkarten. von Rotari, die Sie mir einst schenkten und erinnert mich mit ihrem süßen Sünderinnenantlitz immer an den unendlichen Vorzug in moralischer aber und besonders auch in ästhetischer Beziehung, den gewisse liebenswürdige Laster vor der strengen engen kleinlichen peinlichen Priester- und Philister-Tugend haben. Aber wie manchem/s/ Opfer wird noch fallen, wie mancher Märtyrer noch sterben müßen, bis die dünkelhafte tugend|stolze Menschheit auch in dieser Richtung ein mal christlich wird. Ein solches Opfer, eine solche Märtyrerin, eine Magdalena in des Wortes verwegenster Bedeutung ist auch jene Frau Ramlodie Schauspielerin und Schriftstellerin Marie Ramlo. Ihre Ehe mit dem Schriftsteller Ludwig Schneegans endete 1883 nach einer Affäre mit dem Schauspieldirektor Ernst Possart. Seit 1887 war sie in zweiter Ehe mit dem Schriftsteller Michael Georg Conrad verheiratet und führte den Doppelnamen Marie Conrad-Ramlo. An der Münchner Hofbühne war sie seit 1868 engagiert; zu ihren Paraderollen zählte seit der deutschen Erstaufführung am 3.5.1880 in München die Titelrolle in Henrik Ibsens „Nora“., von der ich Ihnen einst erzählte und die Hammis geniale Hand so treffend scizzirt Armin Wedekinds Skizze ist nicht überliefert; Frank Wedekind hatte während des gemeinsamen Münchner Studiensemesters mit seinem Bruder Armin im Winter 1884/85 offenbar Theateraufführungen mit der Schauspielerin besucht. hat. Vorgestern AbendAusgehend vom Briefdatum wäre das der 7.11.1885; tatsächlich wurde Victorien Sardous Lustspiel „Cyprienne. (Divorçons!)“ am Sonntag, den 8.11.1885, am Münchner Residenztheater gespielt, Beginn war um 19 Uhr [vgl. Königliches Hof- und Nationaltheater München 1885 [Theaterzettel], S. (1562)]. sah ich sie wieder als Cyprienne in einem Familiendrama von Sardou, daß sich in einer reizenden liebeswürdigen äußerst graciösen Frivolität bewegt. Ich hab’ es bei der Gelegenheit durchgesetzt, daß S/s/ie einmal mehr vor die Rampe gerufen wurde; ihr Spiel war in der That unübertrefflich; kein Wunder, sie spielte nur sich selber.

Noch eins, liebe Tante; verzeihen Sie, daß ich in Lenzburg vergaß, Ihnen Ihre GedichteVon Bertha Jahn sind Gedichte in Abschriften von der Hand Wedekinds in zwei Sammlungen überliefert: „Gedichte von Erika“ [Aa, Wedekind-Archiv B, Nr. 26] und „Passionsblüthen von Erica“ [Aa, Wedekind-Archiv B, Nr. 29], die aus den Jahren 1882/83 stammen und alle an den verstorbenen Ehemann Bertha Jahns gerichtet gewesen sein dürften [vgl. KSA 1/I, S. 787f. und S. 988-990]. An Wedekind gerichtet waren dagegen die Verse „An mich“ vom 20.9.1884, vermutlich eine Replik auf Wedekinds Gedicht „Erika“ [vgl. KSA 1/I, S. 788]. Da die Gedichte dem Brief nicht mehr beiliegen, ließ sich nicht ermitteln, um welche Gedichte es sich handelte. zurückzugeben. Ich nehme mir die Freiheit, sie diesem Briefe beizulegen. Mögen diese reizenden Kinderchen ihre Frau Mutter recht gesunde zu Hause antreffen und durch den gefährlichen Umgang mit mir nicht zu viel gelitten haben! – Und nun leben Sie recht wohl, liebe Tante; t/T/ausend herzliche Grüße an Sie und die Ihrigen. Ich bin und bleibe mit Ihrer gütigen Erlaubniß Ihr ganz ergebenster Neffe
Franklin.

Bertha Jahn schrieb am 15. November 1885 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[1. Hinweis in Wedekinds Brief an Bertha Jahn vom 2. bis 30.12.1885 aus München:]


Empfangen Sie meinen besten Dank für Ihre freundlichen, liebevollen Zeilen die so viel Interessantes für mich enthielten.


[2. Hinweis in Bertha Jahns Visitenkarte an Wedekind, 31.12.1885:]


[...] lange ist es seit ich geschrieben, hoffentlich bleibt die Antwort nicht zu lange aus.

Frank Wedekind schrieb am 2. Dezember 1885 - 30. Dezember 1885 in München folgenden Brief
an Bertha Jahn

München, December 85.


Liebe Tante,

Empfangen Sie meinen besten Dank für Ihre freundlichen, liebevollen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 15.11.1885. die so viel Interessantes für mich enthielten. Allerdings stand auch unerwartet viel Trauriges darin, das Sie selbst und Ihre verehrte Fräulein Tochter mit Schmerzen und Sorgen jählings heimsuchte. – Arme Lisa! So schwer mußten Sie die ärmliche unschuldige Fröhlichkeit büßen, der Sie mit arglosem Sinne Ihre jugendlich zarte Natur überließen. – O hätt’ ich doch in den heftigen Glut Stürmen des Fiebers an Ihrem Lager stehen, Ihren ruhlosen Schlummer bewachen, Ihrem Athem lauschen und mit dem bangem Ohr dem wilden Flug Ihrer | entfesselten Pulse folgen dürfen. Aber freilich weiß ich das Schicksal zu segnen, das mich, derweil Sie litten, fern von Ihnen in ohnmächtige Unkenntniß bannte und mich nicht einmal ahnen ließ, an welchem Abgrunde voll Graun und Verderben Sie indeß in sinnlosen Phantasien umherirrten. Denn Ihre liebe treue Mutter stand gewiß als bessere Pflegerin an Ihrem Krankenbett; verband sie doch mit reinerer höherer Liebe besonnenere Geduld und eine kluge Erfahrung, so daß sie nach langer Sorg’ und Angst ihre schöne Tochter sich auch endlich wieder erheben und ihr mit dem milden Gli Schimmer der erwachenden Gesundheit auf den bleichen Zügen entgegenlächeln sah.

Soweit hatt’ ich schon vor vier Wochen diesen Brief begonnen, als mich die unerwartete Nachricht von dem plötzlichen Tode AngelicasVon Wedekind erfundene Geliebte, mit der er das bestehende Verhältnis zu seiner ‚erotischen Tante‘ Bertha Jahn mithilfe dieses „fingierten Distanzierungs- und Täuschungsversuchs“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 120] aus der Ferne zu beenden suchte. Er widmete Angelika sogar Gedichte [vgl. KSA 1/I, S. 203f. und 1011f.]. In Wedekinds Finte waren auch einige Freunde und Familienmitglieder eingeweiht [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 1.2.1886]. j aufs Schrecklichste in meinen Gedanken | unterbrach. Seit jenem Tage drangen die verschiedensten Gefühle auf mich ein; ich habe in kurzer Zeit viel Trauriges und viel Interessantes gesehen und miterlebt, und Sie werden mir daher verzeihen wenn ich jetzt erst, allerdings nur kurz vor Abschluß der JahresrechnungWedekind hatte den unterbrochenen Brief Ende Dezember wiederaufgenommen und „ihn für Neujahr bestimmt“ [Wedekind an Bertha Jahn, 4.3.1886], stattdessen aber eine Karte geschrieben., darandenke, mich vor Ihnen, die Sie zwar allerdings wohl Veranlassung hatten, mir meines unhöflichen Schweigens halber zu zürnen, bestmöglichst zu entschuldigen.

Erlassen Sie es mir, Ihnen ins Einzelne den Eindruck zu schildern, den die kurzgefaßte Hiobspost auf mich hervorbrachte. Ich konnte die Wirklichkeit natürlich im ersten Augenblick gar nicht fassen, geschweige denn glauben. Sollte denn d/e/in Wesen, das ich noch kurz zuvor in der herrlichsten Blüthe seiner Jugend, im Übermaß von Fröhlichkeit und glühender Lebenslust an meiner Seite gesehen – sollte dieser Himmel von Lieblichkeit, Geist und tiefem Gemüth wirklich so ohne Weiteres, im ruhigsten Lauf der Zeiten zusammen brechen, zerstört werden können? – | Und mit einem Male füllte ihr liebendes Wesen wieder die ganze Tiefe und Weite meines Daseins aus; ich kam mir vor wie ein Bettler, hatte nichts mehr als das Gefühl, daß ich bin, daß ich elend bin und daß mir alles fehle, was den Me mich glücklich machen könnte. Freilich hatt’ ich sie eine Zeit lang vergessen, hatte schnödermaßen meine Liebe geläugnet und in meinem letzten Briefe an Sievgl. Wedekind an Bertha Jahn, 9.11.1885. selbst meinem klein elenden Spott keinen Einhalt geboten. Jetzt erschien ich mir entsetzlich klein, furchtbar erbärmlich, verwerflich. Wäre das alles nicht gewesen, o, ich hätte schreien und weinen können, die Welt verfluchen, verachten, und meinen Schmerz in wilden Klagen ertränken. Aber so? – Ich war ohnmächtig, wie vom Blitz getroffen, gelähmt, verstummt, zerrissen.

Woran mochte das geliebte Kind gestorben sein? – In der Anzeige stand von einer | kurzen, schmerzlosen Krankheit; aber wie sollt ich mir das deuten? w/W/ie kam ich überhaupt zu einer Todesanzeige? – Meine letzten Briefe waren ja sämmtlich unerwidert geblieben; ich wähnte mich längst vergessen oder durch angenähmere Verhältnisse ersetzt. – Arme Angelika, ich sah es zu spät ein, daß ich dich trotz aller Liebe doch niemals zu schätzen gewußt hatte.

Eine schlafberaubte Nacht reifte wenigstens einen Entschluß in mir, zu dem meine kleine Baarschaft gerade noch ausg/r/eichen mochte. Ich mußte sie noch einmal sehen, in ihren ruhigen bleichen Zügen, dem matten Spiegel der entflohenen Seele wollt’ ich Vergebung meiner Sünden lesen und, wenn irgend möglich, meine Ruhe wiederfinden. Früh Morgens des folgenden Tages saß ich schwarz gekleidet mit einem gepumpten Cylinderhut im CoupéeCoupé (frz.) Eisenbahnabteil., und die Mühdigkeit, die mich bald darauf übermannte, gab mich erst, als wir in Linz hielten, meinen traurigen Betrach|tungen wieder zurück.

Nachdem ich auf dem Bahnhofe in Passau meine Toilette ein wenig restaurirt hatte sucht ich unter vielen Erkundigungen nach w/W/eg und Richtung sofort das Haus auf, darin sie gelebt hatte und gestorben war und nun ihrer baldigen Beerdigung entgegenharrte. Es liegt außerhalb der Stadt in einem großen Garten den eine hohe Mauer von der Straße trennt; es schien mir schon ziemlich alt zu sein und seine Bauart versetzte mich in die Zeit unserer großen Dichter, obschon ich gar nicht dazu disponirt war, mich angenehmen Träumen zu hint/üb/erlassen.

In einem vornehm eingerichteten Salon, dessen lauschige Dämmerung mich doch einige Abgüsse von Antiken in den Ecken und an den Wänden italiänische Landschaften erkennen ließ, öffnete sich bald da nach meinem Eintreten eine | Tapetenthür, die ich zuvor nicht bemerkt hatte, und heraus trat ein schöner alter Herr in weißem Haar mit dem tiefen Eindruck schmerzlicher Trauer in den edlen Zügen. Nachdem er mich bei meinem Namen, den ihm meine Karte gemeldet, eher kalt als herzlich bewillkommt und wir beide Platz genommen hatten sagt’ ich eine wohl einstudirte und bis auf jede Einzelheit berechnete CondolationBeileidsbekundung. her und die unsichere, mühsame Art, mit der ich sie vorbrachte, verfehlte keineswegs ihre Absicht. Darauf erzählt ich kurz und bescheiden wie mir die Gunst der Bekanntschaft Angelicas zu Theil geworden und als ich eine Thräne in den Augen des Vaters blinken sah, hob ich möglichst unbemerkt mein Taschentuch, um mir selber die Wimpern zu trocknen. Nun erfuhr ich auch, worauf ich so sehr gespannt war, daß das Mädchen nämlich schon letzten Herbst in München gekränkelt habe; es sei ihr offenbar das Klima zu rauh und wechselvoll gewesen. Er habe | sie deshalb nach Hause gerufen, wo sie in kurzer Zeit auch wieder vollständig genesen sei. Vor vier Tagen aber, nachdem sie zum ersten Mal auf dem Eise gewesen, habe sich ihrer eine Lungenentzündung bemächtigt, die sie aufs Krankenlager geworfen und mit gräßlicher Schnelligkeit dem Tod in die Arme gejagt habe.

So erzählte der alte Herr. Ich war in der That furchbarSchreibversehen, statt: furchtbar. ergriffen aber behielt dennoch so weit meinen Zweck, das Mädchen noch einmal zu sehen, so scharf im Auge, daß ich ihn den Eindruck jedes seiner Worte aufs Lebhafteste in meinen bewegten Zügen lesen ließ. Hiedurch besonders hatt’ ich auch bald sein vollständiges Vertrauen erworben und nun erst eröffnete er mir, daß ihm seine Tochter in den letzten Tagen, da er öfters allein an ihrem Bette gewacht, viel Gutes von mir erzählt habe. Sie habe die Zeit ihres Umgangs mit mir ihr höchstes Glück, mich | selber aber die Sonne ihres Lebens genannt und habe ihn in ihren letzten Zügen noch gebeten, mich nicht im Ungewissen über ihr trauriges Schicksal zu lassen, da der Gedanke an mich und meine Liebe ihr doch Trost und Stärke in ihrem Unglück biete. Es ist das Vermächtniß einer Todten, liebe Tante, das ich Ihnen wohl entdecken darf ohne dadurch den Schein von Selbstlob und Überhebung auf mich zu laden. Als ich in Thränen aufgelöst dem Alten für diese Nachricht dankte, erhob er sich aus seinem Lehnstuhl und, nachdem ich ihm gefolgt, drückte er mir warm und herzlich die Hände „Gott im Himmel möge Sie segnen,/!/[“] sprach er mit fast erstickter, feierlicher Stimme „Auch Ihnen ist das holde Kind entrissen; Sie fühlen meinen Schmerz und begreifen mich. Zwar wird die Wunde in Ihrem jungen Herzen sich eher schließen als in dem Meinen, dem sie sein Alles war; aber lassen Sie uns beide ihrer in Liebe und Verehrung gedenken. Sie vermögen es | gewiß nicht zu fassen, welche Erleichterung mir das traurige Bewußtsein verschaftSchreibversehen, statt: verschafft., nicht einzig und allein so verlassen und elend in der Welt zu stehen; all/b/er lassen Sie uns vereint an ihrem Sarge knien, dort wird sich Ihnen erst mein ganzer Jammer zeigen.“

Meine Brust hob und senkte sich hörbar, als wir nun einen langen, weiten, spärlich erleuchteten Gang hinschritten, dem Todtengemach entgegen. Mir war’s als müßten die schweren Wände mich erdrücken, die Decke auf mich niederstürzen und als träten die Bi/Ah/nenbilder aus ihren alten verrosteten Rahmen heraus. Einem Verbrecher konnte nicht anders zu Muthe sein, der zum Richtplatz geführt wird aber doch von Jenseits her die Freuden des Himmels winken sieht.

Die Thüre ging auf und da lag sie weiß gekleidet, auf hohem weißem Lager, umgeben von Blumen und Kränzen, die einen schweren betäubenden Duft durch das G/g/anze Gemach verbreiteten. Aber sofort verwandelte sich meine tiefe Rührung in entsetzliches, herzzerreißendes Grausen, als ich der Todtenhier hat Wedekind den Brief abgebrochen; das Brieffragment legte er später einem Brief an Bertha Jahn bei [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 4.3.1886].

Bertha Jahn schrieb am 31. Dezember 1885 in Lenzburg folgende Visitenkarte
an Frank Wedekind

Bertha Jahn-Ringier |


Meinem lieben Franklin Gruß u. [Symbolzwei übereinander gestellte Kreise (wohl für Kuss).] zum neuen Jahre u. im auch im Jahr 86. – Wie mag es Ihnen ergehen, lange ist es seit ich geschriebennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 15.11.1885., hoffentlich bleibt die Antwort nicht zu lange aus. Gott befohlen, ich bin D.
E.Erika, literarischer Name Bertha Jahns.

Frank Wedekind schrieb am 31. Dezember 1885 in München folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Bertha Jahn

[Hinweis in Wedekinds Brief an Bertha Jahn vom 4.3.1886 aus München:]


[...] mich Ihnen gegenüber mit einer Carte zu begnügen, der Carte, über deren Bild und Worte, wie Sie schreiben, Sie nicht sofort klar zu werden vermochten.

Bertha Jahn schrieb am 15. Januar 1886 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Wedekinds Brief an Bertha Jahn vom 4.3.1886 aus München:]


Daß ich Ihnen erst jetzt auf Ihren lieben Brief antworte [...]

Frank Wedekind schrieb am 4. März 1886 in München folgenden Brief
an Bertha Jahn

München 4.III.86.


Liebe Tante,

Daß ich Ihnen erst jetzt auf Ihren lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 15.1.1886. antworte, kommt daher, weil ich sehr gerne gleich der/ie/ Photographie beigelegt hätte. Als ich aber gesternam 3.3.1886. beim Photographen Wedekind dürfte das Fotoatelier von Franz Xaver Ostermayr (Schillerstraße 4, Parterre) [vgl. Adreßbuch von München 1885, Teil I, S. 368; Teil IV, S. 137] beauftragt haben, das gleiche wie seinerzeit für das gemeinsame Foto mit Walther Oschwald und Armin Wedekind [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 31.12.1884].war, bat er mich noch acht Tage zu warten: er hatte vergessen sich meinen Namen zu merken und infolge dessen das Negativ nicht finden können. Frl. Lisadie 19jährige Tochter Bertha Jahns, der Wedekind offenbar eine Foto für ihr Foto- oder Poesiealbum zugesagt hatte. möcht’ ich daher bitten, mein langes Säumen gütigst entschuldigen zu wollen und sich noch wenige | Tage zu gedulden. Im übrigen kann ich Frl. Lisa die Versicherung geben, daß ich sehr wol die hohe Ehre zu schätzen weiß, die mir durch den/as/ Plätzchen, das lauschige, traute, in ihrem Album zu Theil wird. ––

Hoffentlich sind nun auch die schweren trüben Kummerwolken verflogen unter deren Druck Sie in Ihrem letzten Briefe meiner gedachten. Freilich müssen das herbe Zeiten für Sie gewesen sein aber nun naht ja schon wieder der neue Frühling und lockt selbst aus Gräbern frische Blumen hervor. So werden in Ihrem Herzen die schönen Erinnerungen neu aufleben und in deren Genuß werden Sie selber in Ihrem | heiteren Gemüth der Welt so wenig mehr zürnen können, weil sie kein Paradies ist, als auch den Menschen, weil sie nicht ganze Engel sind. Oder sollten Sie die Menschen jemals verabscheuen können, Sie, die dieselben soheiß geliebt und ein ganzes Leben darangesetzt, ihnen Gutes zu thun? Der Undank freilich ist eine herbe Pille, aber doch nicht für die Mutter, die ihr Kind pflegtLisa Jahn war im November 1885 erkrankt und wurde von ihrer Mutter gepflegt [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 2. bis 30.12.1885].. Und die Welt ist eben ein Kind und auch die Menschen werden ewig Kinder bleiben. Wie das Kind den Apfel, so nehmen sie Wohlthaten als glückliche Zufälle hin, die man schleunig ergreifen muß, da sie etwas außergewöhnliches sind. Fühlen sie dann gerade das Bedürfniß dazu, so danken sie vielleicht auch dem Geber, oder | auch dem lieben Gott oder dem Zufall, oder gar der eigenen Schlauheit – wem, das ist ja auch ganz egal. Denn ein Entgelt für den Geber kann ja dieser Dank doch nicht sein, da sie ihn im besten Fall nur zollen, um das eigene Herz dadurch zu erleichtern.

Mich, liebe Tante, werden Sie nun wol zu den Undankbarsten aus Ihrer Umgebung rechnen und das gewiß nicht ganz mit Unrecht. Denn das, was ich Ihnen schulde, werde ich Ihnen ja niemals auch nur annähernd entgelten können. Daß ich aber ein so überaus nachlässiger Correspondent bin, hat damit nichts zu thun, sondern rührt eher davon her daß ich Ihnen viel zu viel als zu | wenig zu schreiben habe. Wie Sie aus beiliegenden Zeilen ersehen, hab ich verschiedene Male angefangen, Ihnen mein Herz gründlich auszuschütten, oder/ohne/ je fertig werden zu können und darum erlaub ich mir jetzt, Ihnen den Brief unvollendet zu schicken, da ich ihn doch nicht mehr fertig schreiben könnte. Als ich ihn zum zweiten Mal wieder aufnahm, hatt ich ihn für Neujahr bestimmt und nur der Umstand, daß mir die Zeit fehlte, ihn zu beschließen, konnte mich dazu bewegen, mich Ihnen gegenüber mit einer CarteDie Bildpostkarte ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Bertha Jahn, 31.12.1885. zu begnügen, der Carte, über deren Bild und Worte, wie Sie schreiben, Sie nicht sofort klar zu werden vermochten. Meiner unmaßgeblichen Ansicht | nach stellt das Bild ein junges Mädchen dar, was ich, wie Sie, aus den Formen, dann aber auch aus den Blumen schließe. Und zwar ein Mädchen, dessen unerfahrenes Herz noch von der Leidenschaft nicht zu Flammen angefachch/t/ wurde. Der Kopf ist ihr schwer, sie verfällt in dumpfes Brüten und Sinnen und weiß doch selbst nicht worüber. Liebend gerne würde sie die Blumen zum Opfer bringen, die sie im Schoos trägt; aber sie weiß nicht, wohin damit. Unter diesen Verhältnissen leiht sie denn den Einflüsterungen des kleinen Gotteswohl eine Darstellung Amors (bzw. Cupidos) auf der verschollenen Karte. natürlich ein geneigtes Ohr und wartet sehnlichst bis ihr der listige Schelm ihr das Geheimniß aufgedeckt, das Losungswort | verrathen und zugleich die richtige Addresseenglische Schreibweise oder Schreibversehen, statt: Adresse. angegeben hat. – Ich kann mich nicht mehr recht erinnern, mit was für Worten ich mir dies Bild zu begleiten erlaubte; aber seinSchreibversehen, statt: seien. Sie überzeugt, liebe Tante, sie waren aufrichtig gemeint und damals hab ich jedenfalls recht gut gewußt was ich damit hab sagen wollen. Es thut mir leid, daß es mir nicht gelang, meinen Gedanken einen für Alle verständlichen Ausdruck zu geben.

Wie Sie aus beiliegendem Briefe ersehen, ist AngelicaVon Wedekind gegenüber Bertha Jahn erfundene Münchner Geliebte, mit der er das bestehende Verhältnis zu seiner ‚erotischen Tante‘ mithilfe dieses „fingierten Distanzierungs- und Täuschungsversuchs“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 120] aus der Ferne zu beenden suchte. Er widmete Angelika sogar Gedichte [vgl. KSA 1/I, S. 203f. und 1011f.]. kurz nach meiner Ankunft in München gestorben. Ich durfte ihr einen Myrtenkranz in den Sarg legen und sie dicht hinter dem Wagen zur letzten Ruhe geleiten. Nachdem ich noch einen | Tag lang versucht hatte, den verlassenen Vater zu trösten, fuhr ich mit schwerem Herzen und doch um vieles erleichtert nach München zurück. Sagen Sie übrigens meiner Mutter nichts von diesem traurigen Abenteuer. Ich habe es ihr vollständig verhei/e/hlt, da ich nicht gern möchte daß man zu Hause wüßte, daß ich solche Reisen mache. Der Rest des Winters ist ziemlich eintönig für mich hingegangen. Ich habe mich nicht so viel amüsirt, wie Sie voraussetzen und dabei aber doch auch ernstlich gearbeitetan dem Lustspiel „Der Schnellmaler“; seit etwa November 1885 beschäftigte sich Wedekind mit der Konzeption seines ersten Dramas und schrieb es von Ende Januar bis 23.4.1886 (Karfreitag) nieder. Seine Hoffnung, das Stück am Gärtnerplatztheater in München unterzubringen, erfüllte sich nicht [vgl. KSA 2, S. 545 u. 619f.]., wovon ich die Früchte bald einzuheimsen hoffe. Aber auch dies unter uns! Die Carnevalszeit ist nun bald vorüberder Aschermittwoch fiel auf den 10.3.1886. | und ich habe erst einen einzigen Ball mitgemacht, und zwar keinen sehr ausgelassenen. Es war der der schweizer UnterstützungsgesellschaftDer Schweizer Unterstützungsverein hatte in München sein Vereinslokal im Gasthof zu den 3 Löwen (Schillerstraße 45) [vgl. Adreßbuch für München 1886, Teil III, S. 80]. Wann der Faschingsball stattfand, ließ sich nicht ermitteln.. Aber ich bedaure auch meine Enthaltsamkeit gar nicht. Wenn ich mich jetzt nur einigermaßen zusammen nehme, so werde ich die Vergnügungen noch ein ganzes Leben hindurch genießen können. Ich beabsichtige eben nicht, schon mit fünfundzwanzig Jahren ein Philisterstudentensprachlich für: Spießbürger. zu werden. Freilich bin ich kein oberflächlicher Schwärmer mehr. Was Sie mir letzten Sommer schriebennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Frank Wedekind, 14.8.1885., als ich hier im Spital lagWedekind musste seit dem 5.8.1885 mehrere Wochen lang eine Rotlauf-Infektion am Unterschenkel im Krankenhaus links der Isar stationär behandeln lassen [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885]; er wurde am 18.9.1885 entlassen [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 18.9.1885]., s Sie hofften mich als Mann, nicht als grünen Jüngling wiederzusehen, das wird | sich bei unserer nächsten Begegnung sicherlich erfüllen, denn ich fühle es jetzt schon, um wie viel ernster mich die Arbeit und mein gemessenes Leben gemacht haben. Es ist das auch jedenfalls der beste Weg mir die Jugendfrische des Geistes so lang als möglich zu erhalten.

Wenn Sie nächsten Herbst nach München kommen, so würd er/s/ mir nicht nur eine herrliche Freude sondern auch eine große Ehre sein, Sie in den Wundern der Stadt als CiceroneFremdenführer. begleiten zu dürfen. Sie würden sich alsdann auch davon überzeugen, daß ich meine Zeit nicht müssig zugebracht habe. Vorher wird es mir wohl kaum vergönnt sein, | Sie liebe Tante, wiederzusehen. So bitt ich Sie denn noch einmal um Entschuldigung meiner Ungezogenheit und bin und bleibe mit den herzlichsten Grüßen in kindlicher Ergebenheit Ihr dankbarer Neffe Franklin. ––


P. S. Meine herzlichen Empfehlungen auch an Frl. Lisa und an HannchenHanna Jahn, die fast 16jährige Tochter Bertha Jahns.. Es ist heute wol das letzte Mal, daß ich diese nun auch bald zur schönsten Pracht erschlossene Blume so nennen darf. In wenigen Wochen wird sie schon Fräulein Johanna für mich sein. So will ich denn dies Mal noch die alte Vertraulichkeit recht ergiebig | ausnützt/e/n indem ich dem klugen neckischen Schelm mit den tiefdunkeln Augen meine innigsten Segenswünsche zur bevorstehenden Confirmation zurufe. Mögen in dir auch in Zukunft das gr reiche Herz und der helle Verstand sich immer in gleicher harmonischer Weise das Ebenmaß bewahren; möge weder dieser durch allzu weichliches Glück eingeschläfert, noch jenes durch herbes Geschick verbittert werden. So wird auch nimmermehr der reine himmlische Frohsinn dein Gemüth verlassen und deine Lippen werden lächeln können wie düster auch der Himmel über dir donnern mag. Ich aber bleibe in Ewigkeit Dein treuer Freund
Franklin.


[Am oberen rechten Rand von Seite 1 um 90 Grad gedreht:]

Meine Grüße an Herrn Verwalter Müller und Herrn Schrödernicht identifiziert; möglicherweise der Nachfolger Adolf Spilkers in der Löwenapotheke Lenzburg., im Fall er noch in Lenzburg weilt.

Frank Wedekind schrieb am 1. Mai 1886 in München folgenden Brief
an Bertha Jahn

München im Mai 86.


Liebe Tante,

warum erhalt ich noch immer kein Lebenszeichen von Ihrer theuren Hand? Anfangs glaubt ich, daß Sie mich in alter Güte abstrafen wollten für meine langen Pausen, mit denen ich unsere Correspondenz zu unterbrechen pflegte. Ich beschloß geduldig auszuharren und nicht zu klagen über das, was ich selbst verschuldet. – Aber jetzt – Sie wissen nicht, wie vereinsamt ich in der Welt stehe, wie mich mein stilles Arbeiten ganz aus allen Lebenskreisen heraus gerissen hat. Sie vermuthen mich vielleicht in einem über|sprudelnden beteubendenveraltete Schreibweise, statt: betäubenden. Lebensgenuß und die BriefeAus dem Jahr 1886 ist lediglich ein Brief Wedekinds an seine Mutter überliefert [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 6.5.1886]. Er dankt ihr darin für einen – nicht überlieferten – Brief vom März des Jahres. die ich meiner Mutter schreibe könnten ja auch wol b/B/erechtigung dazu geben. Aber ich schreibe ihr ja das alles nur darum, weil ich ihr nicht schreiben darf, was mir in Wahrheit das Herz bewegt. Ich muß sie ja im süßen Wahne lassen daß ich Jurisprudenz studire bis ich ihr wenigstens mit einem kleinen Erfolg vor die Augen treten kann um meine WahlSchriftsteller statt Jurist zu werden; Wedekind war seit dem Wintersemester 1884/85 in München als Jurastudent eingeschrieben. zu rechtfertigen. Da bausch’ ich denn oft kleine unwichtige Begebenheiten, die spurlos an mir vorübergegangen sind, zu großen Vergnügungen auf, nur, damit das Papier voll wird und meine Eltern die Gewißheit haben daß ich noch leben und gesund bin. Von Jurisprudenz kann ich ja auch nichts schreiben, denn ich weiß nichts davon und meine Eltern so gründ|lich anlügen, das kann ich auch nicht mehr. Aber Ihnen, liebe Tante, hab ich ja meine Sünden gebeichtetvgl. Wedekind an Bertha Jahn, 4.3.1886.; Sie wissen, was ich thu und treibenSchreibversehen, statt: treibe. und wie würde mich ein einziges inniges Wort von Ihnen anspornen und aufrichten wenn mir, wie das sich wol giebt, plötzlich der angespannte Humor aus der Hand fällt und ich am liebsten ein Steineklopfer werden möchte um unbekümmert um Weltruhm und andern eitlen Plunder nur meinen stillen Träumen leben zu können.

Letzten Herbst ging ich mein jetziges Treiben ein mit dem festen Vorsatz Leben und Lebensgenuß zu fliehen, bis ich durch meine eigenen Thaten mitten ins Leben hineingestellt worden sei; und diesem Vorsatz bin ich bis jetzt unerbittlich treu geblieben. Ich habe indessen | manche angefangene Arbeitvermutlich die beiden im Sommer 1885 begonnenen, nicht namentlich genannten Novellenfragmente [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 2.5.1886] „Der Kuss“ [KSA 5/I, S. 314-319; zu den Fassungen S. 451-461] und „Trudi“ [KSA 5/I, S. 320-326; zu den Fassungen S. 786-795]. Bertha Jahn berichtete er im Herbst 1885 über „zwei Balladen, zwei Novellen und ein Trauerspiel“ [Wedekind an Bertha Jahn, 5.9.1885], die er abgebrochen habe. zur Seite gelegt, aber am letzten Charfreitagden 23.4.1886. konnt ich endlich das heißersehnte Finis(lat.) Ende. unter etwasWedekind hatte die erste Fassung seines Lustspiels „Der Schnellmaler oder Kunst und Mammon. Große tragikomische Originalcharakterposse in drei Aufzügen“ (1889) abgeschlossen und hoffte auf eine Aufführung in München [vgl. KSA 2, S. 545]. schreiben, das mich drei Monate lang Tag und Nacht in Anspruch genommen hatte. Ich hoffen nichts weiter davon als dasSchreibversehen, statt: als dass. es mir den Weg auf die Bühne BahnenSchreibversehen, statt: bahnen. soll aber es geht so schrecklich lang bis ein treuer Freund zwei Stunden finden/t/, um et/da/s zu lesen, worauf ein anderer die Entscheidung seines Lebens setzt, und eine Empfehlung dazu zu schreiben. Aber ich bin dadurch ans Arbeiten gewöhnt worden und habe schon wieder ganz etwas anderesvermutlich die 1886 entstandene Novelle „Fanny“ [KSA 5/I, S. 14-19 und S. 594f.]. in die Hand genommen, worauf ich all meine Kraft und meinen ganzen Ernst concentriren muß. Wenn ich des Abends bis halb Elf oder Elf Uhr gesonnen, gesponnen und geschrieben habe, so geh ich oft noch auf die | Kneipe und treffe dort eine Anzahl gereifter Männer die mich sämmtlicheSchreibversehen, statt: sämmtlich. freundlich willkommen heißen. Sie haben den größten Theil des Lebens schon hinter sich und meistentheils daraus nur ein theures aber auch treues Gut gerettet, nämlich den Humor. In ihrer Mitte fühl ich mich meistens sehr wohl, während ich mich in Gesellschaft von jungen Leuten fast immer langweile, und das gewiß unwillkührlich, denn ich empfind es doch zuweilen mit heimlichem Grauen, wie alt ich geworden bin.

Jetzt liebe Tante kennen Sie mich und mein Leben und mögen urtheilen, ob ich noch Ihrer Freundschaft und Liebe werth bin, wie damals als ich Ihnen nichts zu geben hatte als ein leichtes Herz und einen uns/d/isciplinire/t/en Verstand. Jetzt bin ich freilich etwas schwerfälliger geworden; | das fühl ich mit jedem Tag. Aber fürchten Sie nichts; Wenn es nur g/so/ geht wie ich es mir vorgesetzt, so werd ich mir die verlorenen Güter der Jugend bald genug wieder erkämpft haben.

An Lisa hab ich vor geraumer Zeit einige ZeilenSchreibversehen, statt: sämmtlich. geschrieben. Ich weiß nicht ob ich sie darin beleidigt habe. Wenn es wirklich der Fall ist, so kann ich Ihnen die Versicherung geben, daß nichts weniger als das in meiner Absicht lag. Vielleicht zürnt sie mir auch noch von früher her und dazu mag sie ja auch alles Recht haben. Im Fall sie mir aber all meine Sünden in globo(lat.) im Ganzen. verziehen hat, so sind Sie, liebe Tante, vielleicht so barmherzig, dem Pilger in der Wüste diesen Labetrunk zu überreichen. | Der aufblühende Frühling ist mir sehr erquickend und doch mischt sich auch in diese Freude leise Wehmuth, wenn ich daran denke um wie viel herrlicher er sich in der Heimath entfaltet. Dazu kommt noch daß mir das Pflaster von München überhaupt verleidet ist; aber ich hatte mir vorgenommen, hier auszuharren, bis ich was rechtes zu Stande gebracht hätte. O wie erleichtert will ich dann in die Welt hinaus wandern.

Sie haben am KrankenbetteWedekind nannte als Erkrankung des Vaters „das hartnäckige beängstigende Halsübel“ [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 6.5.1886]. meines Vaters gesessen und ihm Heilung und Ruhe gebracht. Meinen innigsten Dank dafür, geliebte Freundin. Er nennt SieHinweis auf einen nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 27.4.1886. seinen rettenden Engel; wie werd’ ich Ihnen das je vergelten können. – |

Wenn ich Sie darum bitten darft, so sagen Sie meiner Mutter nichts von diesem Brief. Sie würde zwar wahrscheinlich auch nicht alle Hoffnung verlieren, wenn sie mis mich schon keinSchreibversehen, statt: keinen. Jurist werden sieht. Aber ich möchte ihr gern ersparen, daß sie vor meinem Vater ein solches Geheimniß bewahren müßte.

Und nun leben Sie wohl, liebe Freundin! Üben Sie Gnade mit dem reuigen Ketzer und schicken s/S/ie ihm ein Lebenszeichen, wär es auch nur ein grünes Blatt aus Ihrer Hand das er in freudiger Erinnerung ans Herz drücken könnte. Grüßen Sie Ihre lieben Kinder von mir. Ich bin und bleibe Ihr treu ergebener Neffe
Franklin.

Bertha Jahn schrieb am 5. Januar 1887 in Lenzburg
an Frank Wedekind

Lieber Franklin. Würden Sie morgen Abendder Datierungshypothese folgend der 6.1.1887. 8 Uhr hiehergemeint sein dürfte das Haus mit der Lenzburger Löwenapotheke in der Rathausgasse, in dem Bertha Jahn mit ihren vier Kindern vermutlich auch wohnte. kommen, wir wollen noch einmal den Baum anzündenden Weihnachtsbaum. u. würden Sie gern dabei haben.

Freundlich grüßt
Tante Jahn

Bertha Jahn schrieb am 17. Juni 1887 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Mein lieber Frank. –

Lisa hat mir die Bruchstücke meines gestohlnen BreacletsBertha Jahns Schreibweise für Bracelet (engl.) Armband., das Sie, weiß Gott aus welchem verrückten Anfall am Arm getragen, wieder gebracht. – Warum Sie das Breaclet gestohlen, ist mir eben so sehr ein Räthsel, wie – warum Sie es getragen. – Ich glaube gar es war bestimmt um Andere eifersüchtig zu machen, – man tuschelt sich so was in die Ohren u. deßhalb u. aus andern Ursachen kommt heute ein Brief, wie ehmals, als der Franklin noch mehr Respect vor dem AlterBertha Jahn war 48 Jahre alt, 25 Jahre älter als Wedekind., vor seiner Tante hatte. „Ich hatt’ eine alte TanteZitat aus einem Volkslied, von dem es zahlreiche Varianten gibt. Die erste Strophe lautet: „Ich hatt’ ne alte Tante, gar eine böse Frau, / Die hat mich groß gezogen mit Schlägen braun und blau; / (:Da sagt ich oft im Stillen zu meinem Freund, auf Ehr: / Ach, wenn doch meine Tante deine Tante wär.:)“ [Münchener Salvator- und Bocklieder. München 1889, S. 11]. Populär wurde das Lied durch die Komposition eines Marsches für Orchester von Moritz Peuschel (op. 37) – im April 1878 bei Eulenburg in Leipzig erschienen. Das Lied wurde nicht nur jahrzehntelang in Tanzlokalen gesungen, sondern gehörte schon früh zu Wedekinds Repertoire am heimischen Klavier [vgl. KSA 1/II, S. 1286; Erika Wedekind an Frank Wedekind, 27.8.1885].“ die aber keine böse Frau ist. –

Frank, warum laßen Sie mich nicht mehr Theil nehmen an Ihrem geistigen Schaffen? –

Warum kommen Sie mit der Bitte mir Du sagen zu dürfen, weil das Ihrem innersten Fühlen entspreche u. laßen sich dann eine ganze Woche nicht mehr sehn, bekümmern sich gar nicht | mehr um die Tante. Daß Sie ohne Lebewohl geg/h/en würdenFrank Wedekind und Karl Henkell dürften zurück nach Zürich gefahren sein., während Hr. Henkell der mir doch nichts schuldet, kam – war nicht schön von Ihnen. Soll ich Ihnen sagen warum Sie es gethan? Weil Sie wieder einmal verliebtWedekind schwärmte gerade für die Angestellte Christine Rothgang in Zürich (siehe die Korrespondenz mit ihr). waren, weil der neue Stern Sinn u. Gedanken gefangen nahm, daß Sie auch nichts mehr für Andere übrig hatten. Frl.Tüschel“, (ich kenne sie nur unter dem NamenTüschel war der Spitzname von Clara Krapp, einer Freundin von Minna von Greyerz [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 30.7.1889], die bei der Familie Greyerz wohnte [vgl. Clara Krapp an Wedekind, 27.7.1887].) war da, es ist nichts Neues an Ihnen, daß Sie sich plötzlich verlieben, es ist nichts Neues an Ihnen daß Sie schnell vergeßen, es ist nichts Neues an Ihnen, daß Sie Komödie spielen, aber es ist neu, – nein es ist frivol,, daß Sie es mit mir thun. Weßhalb diese Komödie mit dem Du u. mit dem Armband? Das hätte mein Frank nicht thun sollen, i/I/hre Freundschaft zu mir soll Ihnen wenigstens heilig genug sein, um nicht | mit ihr ein Spiel zu treiben.

Mein BildWedekind hatte Bertha Jahn offenbar um ein Bild gebeten, das sie ihm kurz darauf zusandte [vgl. Bertha Jahn an Wedekind, 22.6.1887]. bekommen Sie nicht, es muß gegen Lisas ausgetauscht werden, übrigens legen Sie keine Ehre ein mit der alten Tante u. weiß Gott welchen Ulk Sie damit treiben würden.

Und jetzt Frank? – So wenig geben Sie auf mein Urtheil, daß Sie mir nicht einmal Ihre NovelleWedekinds Novelle „Marianne. Eine Lebensgeschichte“ [KSA 5/I, S. 37-76], über die er sich mit seiner Mutter ausgetauscht hatte [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind 10.5.6.1887] und die er im Juni der „Neuen Zürcher Zeitung“ und der „Thurgauer Zeitung“ zur Publikation anbot; von beiden Redaktionen erhielt er eine Absage [vgl. Neue Zürcher Zeitung an Wedekind, 17.6.1887 und Thurgauer Zeitung an Wedekind, 20.6.1887]. gezeigt. Vielleicht hätte ich Ihnen doch einige Winke geben können. Denn ich weiß ungefähr was eine Geschichte intressantSchreibversehen, statt: interessant. macht. Aber Sie trauen mir nichts mehr zu, früher Alles, jetzt nichts mehr. Das ist traurig, aber ich glaube es liegt weniger an mir, als an Ihrer Flatterhaftigkeit, mein lieber Franklin. –

Frl. HenkellThea Henckell, die später den Lenzburger Arnold Hirzel heiratete; der Konservenfabrikant Gustav Henckell hat, nachdem er sich in Lenzburg etabliert hatte, seine Eltern und jüngeren Geschwister aus Hannover in die Schweiz geholt. ist ein sehr, sehr nettes Mädchen, Lisa hat sie ganz ins Herz geschloßen, Frl. Minna v. Greyerz war | noch nie bei mir, Ihre „Tüschel“ habe ich noch nicht gesehn, kann also nicht über sie urtheilen. Die Freundschaft soll so überschwenglich sein, daß sie ins Lächerliche umschlägt. Lisa kam ganz entzückt vom Horben26 Kilometer südlich von Lenzburg gelegene Hochebene (818 m) bei Beinwil mit einem gleichnamigen Schloss; beliebtes Ausflugsziel. zurück, sie sagte mir, daß Sie sehr liebenswürdig mit ihr gewesen seien. Ja, der Frank kann sehr lieb sein, wenn er nur will. –

Ich habe schon oft über Ihre Scizze, oder wie nannten Sie es, vom Junggesellen am KaminWedekinds Erzählung „Gährung. Charakterskizze“ [vgl. KSA 5/I, S. 21-36; Kommentar S. 644-652], in der eingangs ein Junggeselle, der vor hat zu heiraten, am Kamin sitzend die gesammelten Briefe einer Liebschaft verbrennt („An einem traulich düstern Winterabend sitzt ein Mann im Anfang der Dreißiger vor dem flackernden Kaminfeuer“ [KSA 5/I, S. 21]), entstand zwischen Dezember 1886 und September 1887 und wurde im Oktober 1887 veröffentlicht [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 285, 13.10.1887, Erstes Blatt, S. (1-2); Nr. 286, 14.10.1887, Erstes Blatt, S. (1-2); Nr. 287, 15.10.1887, S. (1-2); Nr. 290, 18.10.1887, Erstes Blatt, S. (1-2)]., nachgedacht. Ich glaube bei einiger Abänderung würden Sie Glück haben. Es müßte manches ausgemerzt, manches verbeßert werden, etwas mehr Humor hinein, was mit einigen andern Wendungen geschehen könnte. Wenn Sie hier wären, da könnten Sie mir Ihre Sachen vorlesen u. ich könnte Sie auf manches aufmerksam machen, Sie halten mich aber nunmehr zu dumm dazu, gelt? – Die Geschichte von EmilIn Wedekinds Erzählung „Gährung“ erinnert sich der Protagonist daran, wie er als Gymnasiast vom Pedell der Schule festgesetzt und so um ein vermeintliches Rendezvous gebracht wurde. Bertha Jahn vermutete hinter der Figur als Vorbild offenbar den Hausmeister der Kantonsschule Aarau Emil Schmuziger. u. dem verliebten Gimnasiasten ist so übel nicht. –

Schließlich möchte ich Sie ganz heimlich etwas fragen. Ich möchte die HenckellesSchreibversehen, statt: Henkells. ect. zu einer Erdbeerbowle einmal einladen, würden auch Sie kommen, wenn ich |


[am linken Rand und am Kopf der Seite 1 um 90 Grad gedreht:]

Sie recht schön darum bitte, Sie u. C. Henckell.? Es müßte natürlich für Alle eine Überraschung sein, eine Erdbeerbowle im Walde, muß ja prächtig schmecken. Waldesdurft, Poesie, Jugend, Liebe u. Wein! Was meinen Sie dazu? Leben Sie nun wohl, böser Mensch, zürnen Sie mir nicht, die alte Tante ist keine böse Frau, sie traut ihrenSchreibversehen, statt: ihrem. Frank u. begreift ihn.

Bertha J


Klexe sind auf diesen Brief gekommen, wie kann ich nicht begreifen. Soll das ein OmenUnheil verkündendes Vorzeichen. sein, daß dieser Brief nicht abgesendet werden soll?


[am linken Rand von Seite 4 um 90 Grad gedreht:]

Laß mich dem bösen Omen Trotz bieten u. das Blatt heraus senden in die weite Welt. – Grüße an Hr. Henckell.

Frank Wedekind schrieb am 19. Juni 1887 in Fluntern folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Bertha Jahn

[Hinweis in Bertha Jahns Brief an Wedekind vom 22.6.1887 aus Lenzburg:]


Nein, es ist mir keine menschliche Auslegung Ihrer Handlungsweise eingefallen [...] Über das Breaclet haben Sie viel geschrieben [...] „Wenn Sie wüßten wie bitter ich Sie schon gehaßt habe“ – schreiben Sie weiter

Bertha Jahn schrieb am 22. Juni 1887 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Lenzburg, 22/6 87.


Mein lieber Franklin.

NeinBertha Jahn antwortet hier und im Folgenden auf ein nicht überliefertes Schreiben Wedekinds, mit dem er seinerseits auf ihren letzten Brief [vgl. Bertha Jahn an Wedekind, 17.6.1887] geantwortet hatte; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Bertha Jahn, 19.6.1887. Die direkte Bezugnahme auf die vorangegangene Korrespondenz legt eine enge zeitlich Abfolge nahe, woraus sich die Datierungshypothesen ergeben., es ist mir keine menschliche Auslegung Ihrer Handlungsweise eingefallen, nein, wahrlich nicht. Wer hätte es auch anders als Gleichgültigkeit gedeutet, wenn man Tag für Tag verspricht zu kommen u. nicht kommt, soll das vielleicht Anhänglichkeit, oder gar Liebe sein? Ich nehme den Franklin aber wie er ist, ich schmeichle ihm nicht, das werde ich nie thun, aber ich bin stolz, das wißen Sie, wer mich in den Winkel stellt, wohlan, aber ich bilde mir dann nicht mehr ein, an einen andern Platz hinzu gehören, bin keine Marionettenpuppe, die man haben kann wie man will. Deßhalb habe ich den Frank doch noch lieb u. all sein Thun u. Laßen, sein geistiges Wirken u. Schaffen interessirt mich, ja, es ist als sei es ein Theil meiner selbst.

Ich bitte Sie um Verzeihung, daß ich Sie gekränkt, das BreacletBertha Jahns Schreibweise für Bracelet (engl.) Armband. hatte ich am Anfang gar nicht vermißt, erst Sophie Marti macht/hat mich darauf aufmerksam | gemacht. Im Grunde genommen Frank, ich war Ihnen über den Raub gar nicht böse u. die Auslegung war auch nicht so böse gemeint, sie war erzwungen, ich that mir ja selber weh. Freilich hatte ich Ihre Worte vergeßen gehabt, ich glaubte eben nicht, daß es Ihnen Ernst sei damit. Sehen Sie, Sie haben sich gewöhnt so manches zu sagen was nur blenden, Effect machen soll, daß man Ihnen zuletzt nichts mehr glaubt, daran sind Sie selber schuld Frank. – Es hätte wohl bei reiflicher Überlegung eben so gelautet, denn Frank, man kann ja nicht alle Hecken überspringen, man bleibt oft hängen. Sie baten mich mir Du sagen zu dürfen, darf ich das gestatten? Der AltersunterschiedBertha Jahn war 25 Jahre älter als Frank Wedekind. ist zu groß, „was würdenBertha Jahn zitiert hier eine verbreitete Redewendung. die Leute sagen“, so muß ich hier fragen. Freilich wäre es richtiger u. auch wahrer, aber – man darf doch manches nicht vor den Leuten thun, was eigentlich nichts Böses, was aber gerade unsittlich wäre, verwerflich, wenn ge|wiße Dinge den Augen u. Ohren der Menge Preis gegeben würdeSchreibversehen, statt: würden.. Denken Sie nur an die Ehe, sie kann ästhetisch, moralisch sein und ist es auch u. doch kann sie zur Unmoralität ausarten, wenn ein Dritter dabei ist. – Das ist ein krasses, aber ein treffendes Bild. –

So Frank ist es mit dem „Du“, wenn Sie mit kühnem Sprung über die Schranken hinweg fliegen, so könnte mancher mißbilligend den Kopf schütteln u. ein Fetzen würde hängen bleiben. Deßhalb ist es beßer man läßt es wie es ist vor der Menge, die Solches nicht versteht, nicht begreifen kann. Über das Breaclet haben Sie viel geschrieben, es war eine Marotte es zu stehlen, eine Marotte es zu tragen, weiter nichts. LisasLisa Jahn, die 20jährige Tochter Bertha Jahns; die in Anführungszeichen gesetzten Worte dürften Zitate aus Wedekinds verschollenem Brief sein (s. o.). „kraftvolle“ Hände, werden sich nicht an Ihre Person wagen, Sie wüßte ja, daß sie es dann mit ihrer Mutter zu thun hätte, die nicht leidet, daß man ihrem Frank zu nahe tritt, noch weniger ihn „zerreißt“. Sie wißen Franklin, daß ich auf Klatsch nichts gebe u. sonst nicht darauf achte, wohl aber scheint es mir beachtenswerth Sie zu studiren. Es mußte mir ja auffallen daß ich so gar nicht mehr für Sie existire, auch | hatten Sie mir ja selber gesagt, daß Sie wieder verliebt u. zwar nicht in eine Lenzburgerin. „Morgen wollten Sie es mir anvertrauen“ sagten Sie, das „Morgen“ kam nicht, weil der Frank überhaupt nicht mehr kam. Vom Horben26 Kilometer südlich von Lenzburg gelegene Hochebene (818 m) bei Beinwil mit einem gleichnamigen Schloss; beliebtes Ausflugsziel. erzählte mir Lisa daß Sie sehr liebenswürdig mit ihr (Lisa) gewesen seien u. Jemand Anderesnicht ermittelt. fügte hinzu: „Minna u. Frl. Krapp hätten dazu ein bitterböses Gesicht gemacht.[“] Lisa kam seelenvergnügt vom Horben zurück, sie konnte nicht genug sagen, wie schön die Parthie gewesen sei. „Wenn Sie wüßten wie bitter ich Sie schon gehaßt habe“ – schreiben Sie weiter, wirklich – gehaßt? Wenn etwas haßenswerthes an mir ist, so thun Sie es und wenn Sie die „Freundschaftsketten“ drücken, so sagen Sie es rund heraus, ich gebe Ihnen „Luft u. Freiheit“ wieder, so schwer es mich ankömmt, Sie müßen nicht vergebens „schnappen“ aber – ich muß dann Komödie spielen, ich werd es versuchen Ihnen zu lieb, wenn Sie es wollen. Hand aufs Herz, möchten Sie denn wirklich sein, ohne diese „Ketten“? –

Sie haben Recht, mein Bild bin ich Ihnen schuldig. | Hier haben Sie meinen „HelgenHelg (schweiz.) „Bild auf Papier udgl., sowohl von Hand gemaltes oder gezeichnetes als gedrucktes; zunächst Heiligenbild [...] Dann auch Bild übh. [...] allg. von kleineren Bildern“ [Schweizerisches Idiotikon, Bd. 2, Sp. 1199]. Das Bild liegt dem Brief nicht mehr bei.“ verlieben werden Sie sich wohl nicht darein, ich sehe schafmäßig dumm aus. Fanny VeitFanny Veith aus Winterthur besuchte die Höhere Töchterschule in Aarau, die sie am Ende des I. Quartals 1887/88 mit Beginn der Sommerferien verließ [vgl. Fünfzehnter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1887/88, S. 6]. Sie heiratete 1896 Fritz Fleiner. habe ich letzhinSchreibversehen, statt: letzthin. gesehen, sie ist wirklich ein liebreizendes Geschöpf u. ein warmherziges obendrein. Ihre Photographie giebt sie nicht u. läßt Ihnen sagen daß sie ihr Bild nur ausnahmsweise verschenke, an Herrn gar nicht. Sie erzählte mir daß sie nach jenem Eislauf einen Tag lang ihre Phantasie beschäftigt, dann seien Sie untergetaucht. Am Schülerabenddie seit 1884 im Saalbau Aarau veranstaltete Abendunterhaltung der Kantonsschüler Aarau, zu deren Auftaktveranstaltung Wedekind den Prolog verfasst und vorgetragen hatte. Im Januar 1887 hielt den Prolog Fritz Fleiner [vgl. Hans Kaeslin: Schülerabend-Prologe. In: Aargauer Neujahrsblätter, Jg. 18, 1944, S. 35], späterer Ehemann von Fanny Veith. haben/ätten/ Sie, mit Ihrer auffallenden CourschneidereiHof machen, Galanterie., si/d/as arme Ding in die größte Verlegenheit gebracht u. vollends verschüchtert. So nun wißen Sie’s, merken Sie sichs, Frank, – „w/W/as dir still im HerzenZitat aus Ludwig Pfaus Gedicht „Still!“, dessen Strophen mit den Versen enden: „Was dir im Herzen stille blüht, / Das laß’ nicht vor den Menschen sehen.“ [Ludwig Pfau: Gedichte. 2. Aufl. Stuttgart 1858, S. 94] blüht, das laß nicht vor den Menschen sehn.“ Sie laßen es nie im Stillen blühn, gleich muß es die ganze Welt wißen, daß es brennt.

Sophie Martidie Jugendfreundin Erika Wedekinds und Klassenkameradin im Lehrerinnenseminar Aarau war nach ihrem Abschluss im Sommer 1887 als Hauslehrerin für eine Familie in Paris tätig, ehe sie in Thalheim und Oetlikon Lehrerin wurde. ist Samstagsvermutlich am 18.6.1887. nach Paris verreist, sie hat geschrieben, das Glückskind. Lauter Pracht u. Herrlichkeit umgiebt sie u. das/ie/ OthmasingerinSchreibversehen, statt: Othmarsingerin. bewegt sich darin, als ob es nie anders gewesen wäre. In acht | Tagen geht sie mit der Familie nach London. Monsieur et Madamedie Arbeitgeber Sophie Martis sind nicht identifiziert. sind sehr gut mit ihr, sie ist ein Glied der Familie, schlürft Champagner als hätte sie nie etwas andres gehabt. Drei Kinder hat sie zu erziehn, muß sogar Lateinstunde geben, klug ist sie u. was sie nicht weiß oder verschwitzt, holt sie des Nachts nach, damit sie sich keine Blöße giebt. Sie hat eine sehr gute Stelle, das kommt davon, wenn man etwas tüchtiges gelernt hat. So – und da wären wir auf einem subtilen Punkt angekommen. Intelligenz, Genialität thut es nicht, viel u. mancherlei wißen auch nicht aber „Eines recht wißenverbreitetes Zitat aus Johann Wolfgang Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ (1829): „Eines recht wissen und ausüben gibt höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen.“ [Johann Wolfgang Goethe: Werke. Ausgabe letzter Hand. Bd. 21, Stuttgart, Tübingen 1829, S. 227]“, – das ists. Sehen Sie Franklin, daran scheitrtsSchreibversehen, statt: scheiterts. auch bei Ihnen, Sie haben einen hellen Kopf, arbeiten Sie doch auf ein Ziel los, noch manches fehlt Ihnen, studiren Sie, noch thut es Ihnen noth. Goethe hat studirtJohann Wolfgang Goethe hatte in Straßburg und Leipzig Jura studiert.,/u/. ein Examen gemacht, Scheffel that esIn einem zeitgenössischen biographischen Aufsatz über Viktor von Scheffel konnte man lesen: „Von seinem Vater […] zum Juristen und zum Staatsdiener bestimmt, studirte Scheffel mit großem Widerstreben Rechtswissenschaft [...] er ging schließlich nach der Stadt der strengen Arbeit, nach Berlin, wo er nun unter dem gelehrten G. F. Puchta eifrig über den Pandekten und Institutionen saß und sich bald so gefördert sah, daß er schon am 31. Juli [1848] und an den folgenden acht Tagen sein Staatsexamen machen konnte.“ [Josef Viktor von Scheffel. Ein Dichterleben. In: Vom Jura zum Schwarzwald. Geschichte, Sage, Land und Leute. Hg. unter Mitwirkung einer Anzahl Schriftsteller und Volksfreunde von F. A. Stocker. 3. Bd. Aarau 1886, S. 84], weßhalb glaubt ein Franklin W. er brauche das nicht? Sie wißen es daß es nöthig ist, denn Sie sind zu gescheit um das sich selbst nicht zu sagen, Sie wißen es. Wenn Ihnen die jur. prud.Abkürzung für Jurisprudentia (lat.) Rechtswissenchaft. zu trocken | warum nicht Philosophie wie Henkell? Glauben Sie ja nicht daß das Studium sich bleiern an die schöpferischen Flügel hängt, nein, wo der Funke da ist, er bricht sich Bahn u. zündet dennoch, im Gegentheil, neben dem Studium kommt blitzartig der Gedanke, er kommt mitten im Studium, angeregt durch dasselbe. Der Geist weitet sich, Franklin, ein rechtes Studium thut Ihnen noth. Noch habe ich den Glauben an Sie nicht verloren, auch gehören Sie nicht zu „den verbummelten Geniesverbreitete zeitgenössische Wendung, kein Zitat.“, deren es so Viele giebt. Frank, Sie können es, Sie müßen nur wollen. – Freilich etwas müßen Sie brechen – Ihren Stolz. Ihr Vater ist ein heftiger Mann, er kann auch ungerecht sein u. maßlos beleidigend, aber gegen seine Kinder ist er gut. Lenken Sie einNachdem Wedekind im Sommer 1886 seinem Vater gestanden hatte, sein Jurastudium vernachlässigt zu haben, verweigerte der ihm weitere finanzielle Unterstützung [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 116f.]. Wedekind arbeitete daraufhin von November 1886 bis April 1887 bei der Firma Maggi und Co. fest angestellt als „Vorsteher des Reclame- und Preßbureaus“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] und anschließend noch bis Juli auf Honorarbasis als Werbetexter für das Unternehmen. [vgl. Vinçon 1992, 121]. Zu einer Verständigung mit dem Vater kam es erst im September [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 19.9.1887]., geben Sie ihm nur ein gutes Wort, Sie, sein Stolz, sein Liebling u. er giebt Ihnen das Geld, das Sie zum Studium bedürfen. Frank, beuge Dein stolzes Haupt, sei gut. –

Über Ihr „ArbeitenAktuell arbeitete Wedekind an der Erzählung „Gährung“ [vgl. KSA 5/I, S. 21-36 und Kommentar S. 644-652], über die Bertha Jahn informiert war [vgl. Bertha Jahn an Wedekind, 17.6.1887]; sie erschein im Oktober 1887 [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 285, 13.10.1887, Erstes Blatt, S. (1-2); Nr. 286, 14.10.1887, Erstes Blatt, S. (1-2); Nr. 287, 15.10.1887, S. (1-2); Nr. 290, 18.10.1887, Erstes Blatt, S. (1-2)].“ haben Sie mir nichts gesagt, es scheint daß ich nicht Theil nehmen darf. – – – – – Wie schön ists jetzt im Garten! Da blühen sie die duftenden | Rosen, der Jasmin betäubt, ich sitze mitten in diesem Duft u. wenn Abends die Sterne scheinen, da habe ich Sie schon oft her gewünscht; es wäre ja nicht das erste mal, daß wir zusammen nach den Sternen geschaut! Kommen Sie nicht bald wieder hieher, während es so blüht u. duftet? –

Der Mensch denktRedewendung für: Es kommt anders, als man denkt. Frei nach dem Alten Testament der Bibel, Sprüche 16,9: „Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der HERR allein lenkt seinen Schritt.“ u. Gott lenkt! Mit der ErdbeerbowleBertha Jahn wollte die Familie Henckell zu einem Picknick einladen [vgl. Bertha Jahn an Wedekind, 17.6.1887]. ist es vorderhand nichts. In Zofingen ist mein Schwager LeupoldEduard Leupold, Baumwollfabrikant in Zofingen, hatte 1850 Bertha Jahns Schwester Margaretha Caecilia Ringier geheiratet und war am 17.6.1887 gestorben. gestorben, eine Erlösung bei seinem siechen Körper, wir müßen einige Zeit warten, bis wir wieder fröhlich sein können.

Und nun leben Sie wohl, mein liebster Frank, Sie haben mich ge – krönt, ich thue dasselbe, ich kröne Sie mit dem Lorbeerkranz, den Sie hoffentlich von mir annehmen. Es kommt von Herzen! – Fridaerster Vorname von Wedekinds Schwester Erika, den sie in jungen Jahren benutzte. Erika Wedekind besuchte im Frühjahr und Sommer 1887 das Mädchenpensionat Duplan in der Villa „La Verger“ (Rue de Valentin 65) in Lausanne – offenbar gemeinsam mit Bertha Jahns Tochter Hanna. schreibt sehr vergnügt. Sie ist überglücklich, weil „Könignicht näher identifiziert; Armin Wedekind berichtete seinem Bruder im November 1889: „Mieze ist ja, wie Du wohl weißt mit dem Apotheker König so schlecht wie verlobt“ [Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889].“ sie besucht. Hanni mußte ihn zwei mal allein empfangen, Frieda war fort, beim dritten mal traf er sie. Hanny wollte sich bescheidentlich entfernen, aber Frida hielt sie krampfhaft bei der Hand u. flüsterte ihr zu: je t’en prie reste.(frz.) Ich bitte Dich, bleib. – |


[am linken Rand und am Kopf der Seite 5 um 90 Grad gedreht:]

Für C. Henkell wird dieses sehr beruhigendErika Wedekind war seit Pfingsten (29.5.1887) kurzzeitig mit Karl Henckell verlobt gewesen. sein. Armer Henkell! Von Lisa einen ganz schönen Gruß an Sie u. Hr. Henkell, unser origineller Hr. Partnicht näher identifiziert. entbietet Ihnen seine Grüße. Lisa muß leider nächsten Freitagam 24.6.1887. nach Zürich mit Annie Rothnicht näher identifiziert., zum Zahnarzt, ein zweifelhaftes Vergnügen. Leben Sie wohl lieber Frank, Gruß an Hr. Henkell. Mit warmem Gruß Ihre Bertha

Bertha Jahn schrieb am 29. August 1887 in Lenzburg folgendes Erschlossenes Korrespondenzstück
an Frank Wedekind

[Hinweis in Bertha Jahns Brief an Wedekind vom 8.9.1887 aus Obstalden:]


[...] ich habe [...] Ihnen meine Noth geklagt u. Sie gebeten mir, der Einsamen, nach Obstalden zu schreiben [...]

Bertha Jahn schrieb am 31. August 1887 in Zürich folgenden Brief
an Frank Wedekind

CENTRAL-HÔTEL
ZÜRICH.
No. 12.


Lieber Frank. –

Sie haben mich in Zürich nicht aufgesucht, ich inwohl Schreibversehen, statt: ich Sie in. Zürich nicht, es beruht auf Gegenseitigkeit! Dürfte ich Sie um die große Gefälligkeit bitten die Spitze reparirenZusammenhang unklar., d. h. kitten zu laßen? In Lenzburg kann es nicht gemacht werden. Leider ist der kleine Finger abhanden gekommen, vielleicht findet er sich wieder.

Von 3 bis 5 Uhr bin ich hier im CentralDas Central-Hotel befindet sich gegenüber dem Bahnhof auf der anderen Seite der Limmat (Niederdorfstraße 79) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1887, Teil II, S. 414]. zu treffen, dann habe ich noch einen Besuch zu machen, dann gehts fortvermutlich nach Obstalden, wo Bertha Jahn Urlaub machte. um halb 7 Uhr. Wer hätte gedacht daß ich je nach Zürich komme, ohne Sie aufzusuchen? Es geschehen unglaubliche Dinge, aber Sie kennen mich ja, ich bin stolz u. laße mich suchen! –

In steter Freundschaft
Tante B.

Bertha Jahn schrieb am 2. September 1887 in Obstalden folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.

Herrn Franklin Wedekind. Literat.
Plattenstraße 35. Fluntern.
Zürich. |


FABRIQUE DE CHOCOLAT

PH. SUCHARD
NEUCHATEL.
(SUISSE)


Lieber Franklin. He/i/er obenObstalden, wo sich Bertha Jahn aufhielt, liegt auf 685 Metern Höhe auf dem Hochplateau des Kerenzerbergs über dem Walensee. aber ists fürchterlich, – nämlich – langweilig. Die Gegend ist sehr schön, Sie sollten sie sehn, das wäre wieder etwas für den Dichterling, d/a/uch könnten Sie Studien machen. Wißen Sie was, opfern Sie die Hin- u. Rückreise nach MülehornSchreibversehen, statt: Mühlehorn; in dem am Walensee liegenden Ort befand sich die Bahnstation für die höher gelegenen Ortschaften wie das wenige Kilometer entfernte Obstalden., (Sie brauchen wenn Sie in Zürich bleiben gerade so viel) u. kommen Sie mit einem dreitägigen Billet hieher an den WallenseeKurzform für Wallenstadter See (Walensee).. SamstagSamstag, den 3., bis Montag, den 5.9.1887. – Bertha Jahn hat die Einfügung am linken Seitenrand um 90 Grad gedreht notiert und ebenso wie die Einfügestelle mit einem „x“ markiert., Sonntag, Montag. Ich lade Sie hieh/r/mit ein. Es ist ein Ausflug den Sie sich gestatten können. Prachtvoller Mondschein, herrlicher See, gigantische Berge. Die Reisekosten sind nicht so groß, doch bitte darüber zu schweigen. – Also – auf nach Valenciageflügeltes Wort [vgl. Büchmann 1879, S. 132] nach Pius Alexander Wolffs Schauspiel „Preciosa“ (Bühnenmusik: Carl Maria von Weber) (1820); im Sinne von: Los geht’s, reiß dich los..

Tante Bertha

Bertha Jahn schrieb am 8. September 1887 in Obstalden folgenden Brief
an Frank Wedekind

Donnerstag 8/9.87.


Franklin!

Sie haben mir den Empfang meiner Bildervgl. Bertha Jahn an Wedekind, 22.6.1887; die Bilder liegen dem Brief nicht mehr bei. damals nicht angezeigt; ich habe Sie in Zürich verfehltvgl. Bertha Jahn an Wedekind, 31.8.1887., Ihnen meine Noth geklagt u. Sie gebetenHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 29.8.1887. mir, der Einsamen, nach Obstalden zu schreiben; ich habe Sie eingeladenvgl. Bertha Jahn an Wedekind, 2.9.1887. hieher zu kommen; (Sie waren 8 Tage bei Tante Plümacherüber Zeitraum und Ort von Wedekinds Besuch bei Olga Plümacher ist nichts bekannt., die Ihnen doch nach Ihrer Versicherung nicht näher steht, warum nicht zwei Tage bei mir?) – keine Antwort, | keine Entschuldigung, keinen Dank wenn auch nur pur formaSchreibversehen, statt: pro forma (lat.) zum Schein, der Form halber. – Daß ein Wedekind so allen Rücksicht, so allen Anstand verletzen könnte, hätte ich nie geglaubt, von Ihnen nie erwartet. –

Die größte Grobheit die Wahrheit enthält, hätte ich lieber gehabt, als dieses hartnäckige Schweigen. – Ich werde wahrsch. Samstagsden 10.9.1887. durch Zürich reisen u. gezwungen sein | einige Stunden mich dort aufzuhalten, aber ich zeige Ihnen die Stunde nicht an, – „ich habe genug des grausamen Spiels.“ –

Leben Sie wohl, wenn ich denke wie Sie mir/ch/ vor wenig Wochen noch bestimmen wollten Ihnen Du zu sagenvgl. Bertha Jahn an Wedekind, 17.6.1887., so muß ich laut auflachen. –

Es thut mir leid, daß mit so schrillenSchreibversehen, statt: schrillem. Mißton, die letzte Saite gesprungen ist. – Ich hätte ein Recht Sie über | das warum zu fragen, ich thue es nicht. –

Sei beglückt!

Bertha

Bertha Jahn schrieb am 12. September 1887 in Obstalden folgende Postkarte
an Frank Wedekind

Postkarte.
Carte postale. – Cartolina postale.


Herrn Franklin Wedekind
Plattenstraße 35.
Zürich. |


FABRIQUE DE CHOCOLAT

PH. SUCHARD
NEUCHATEL.
(SUISSE)


Hr. Wedekind. Sollte Sie Ihr Gewißen dennoch auf d. Bahnhof treiben, so bin ich so mitleidig genug Ihnen anzuzeigen, daß ich heute nichtBertha Jahn hatte ihre Rückfahrt von Obstalden über Zürich nach Lenzburg wenige Tage zuvor für Samstag, den 12.9.1887 angekündigt [vgl. Bertha Jahn an Wedekind, 8.9.1887]. verreise. Eine sofort geschrieb. Karte, würde mich noch in Obstalden treffen. Wenn Sie mir Ihre neue AdresseWedekind zog, vermutlich zur Monatsmitte, in die Schönbühlstrasse 10 des Züricher Vororts Hottingen. angeben wollen.

Mit Gruß
Ericaliterarischer Name Bertha Jahns; Wedekind besaß eine Sammlung „Gedichte von Erika“ und widmete ihr unter dem Namen drei Gedichte [„Erika“ (Verdamm’ mich nicht), vgl. KSA 1/I, S. 154 und Kommentar KSA 1/II, S. 1504ff.; „Erika“ (Vielgeliebte Kindheit du), vgl. KSA 1/I, S. 160 und Kommentar KSA 1/II, S. 1513ff.; „O heißgeliebte Erika“, vgl. KSA 1/I, S. 164f. und Kommentar KSA 1/II, S. 1932ff.].

Bertha Jahn schrieb am 15. September 1887 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Noch einmal dank ich me. l. F. für diesen warmen, lieben Briefvgl. Wedekind an Bertha Jahn, 16. bis 19.4.1885, der Brief auf den Bertha Jahn ihre Zeilen später notierte., er hat mich erquickt, wie ich ihn wieder gelesenvgl. Bertha Jahn an Wedekind, 15.9.1887; davon abgeleitet ist das Schreibdatum der Notiz.. Wie schmerzlich ist es ihn her geben zu müßen, aber weil Sie todt sein wollen darf/will/ Ericaliterarischer Name Bertha Jahns. Sie nicht wieder erwarten! Auch eine HaideblumeDer botanische Name für die Pflanzengattung des als unscheinbar geltenden Heidekrauts ist Erica. kann stolz sein. –

Bertha Jahn schrieb am 15. September 1887 in Lenzburg folgenden Brief
an Frank Wedekind

Mein lieber junger Freund. –

Mir hat geträumt die Jugend kehre wieder“, erinnern Sie sich an jenes Liedein Gedicht Bertha Jahns (ohne Titel), überliefert in dem Konvolut „Gedichte von Erika“ (Aa Wedekind-Archiv B, Nr. 26), eine Reinschrift von der Hand Wedekinds aus dem Herbst 1884 [vgl. KSA 1/I, S. 787]. Bertha Jahn zitiert hier den Anfangsvers und die Schlussstrophe des Gedichts. Wedekind verwendete das Gedicht später in seinem Schauspiel „Oaha“ (1908) [vgl. KSA 8, S. 74f. und Kommentar S. 553]., es endigt mit den Strophen: Erröthend dacht ich an mein selig Träumen,
Und gab erglühend der Erinnrung Raum,
Barg weinend dann mein Haupt in meine Hände,
„Vergieb mir herr u. Gott; es war ein Traum.“ –

Ein Traum Franklin u. für Träume ist Niemand verantwortlich, selbst die VierzigjährigeBertha Jahn war 48 Jahre alt. nicht! Verantwortlich wäre sie aber, wenn sie mit offnen Augen träumen würde u. nicht erwachen wollte. – Ich habe Ihre lieben, mitunter so warmen, G/g/uten Briefe noch einmal durch gelesenvgl. dazu Bertha Jahns Notiz auf dem Brief Wedekinds vom 16. bis 19.4.1885 [vgl. Bertha Jahn an Wedekind, 15.9.1887 (2)]. – mit feuchten Augen, – es ist viel Liebe, viel Interessantes, Erlebtes darin, ich trenne mich von ihnen mit schwerem Herzen, ungern, ich denke noch mit solcher Freude an den Franklin von ehmals, daß ich die Briefe fort geben muß, um ihn eher zu vergeßen zu können. Und doch hätte ich vielleicht nicht den Muth, – kein Mensch legt gern das Messer ans | eigene Fleisch, – wenn es nicht der einzige Weg wären, wieder zu meinen Briefen zu gelangen. Meine Briefe haben keinen Werth mehr für Sie, Sie nöthigen Ihnen höchstens ein Lächeln ab, über „das altewohl Zitat aus der Korrespondenz mit Wedekind., vertrauensselige Kind, die alte Tante“, – das aber kann ich nicht ertragen. Ersparen Sie mir das Gefühl der Demüthigung u. geben Sie mir Alles zurück, was in Ihren Händen, Briefe u. GedichteVon Bertha Jahn stammen zwei Sammlungen von Liebesgedichten aus den Jahren 1882 und 1883 [vgl. dazu die Übersicht in KSA 1/I, S. 787f.], die 1884 von Wedekind abgeschrieben wurden und so überliefert sind [vgl. Aa Wedekind-Archiv B, Nr. 26 und 29]. Sie tragen die Titel „Gedichte von Erika“ und „Passionsblüthen von Erica“ und beziehen sich wohl alle auf Bertha Jahns 1882 verstorbenen Gatten Victor Jahn. An Wedekind sind dagegen die am 20.9.1884 entstandenen Verse „An mich“ [vgl. KSA 1/II, S. 1512f.] gerichtet, vermutlich eine lyrische Replik auf Wedekinds Gedicht „Erika“ [vgl. KSA 1/I, S. 788 sowie insgesamt den Kommentar KSA 1/I, S. 989f.]. Überliefert ist von der Hand Bertha Jahns außerdem das Gedicht „(Wedekindische Moral. Schlussstrophen.)“ [Mü, Nachlass Frank Wedekind, FW B 77].. Ich rechne darauf, daß Sie als Mann Ihr Wort halten, daß Sie nichts zurück behalten. So schmerzlich schwer es mir wurde, ich gebe Ihnen jeden Fetzen, den ich von Ihnen in Händen habe, nur den Toastdas zu einem nicht bekannten Anlass entstandene und wohl auch vorgetragene Briefgedicht „Seiner lieben Tante Frau Bertha Jahn in kindlicher Ergebenheit der dankbare Neffe Franklin. 18.X.84.“ [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 18.10.1884; vgl. auch KSA 1/I, S. 168-171 und Kommentar KSA 1/II, S. 2030-2034]. Das Gedicht endet mit den Versen: „Ein dreifach Hoch der großen Dichterin! / Ein dreifach Hoch dem schönen Geist des Hauses! / Und heb’ mein Glas und trinke bis es aus is. –“ behielt ich, weil er ja nicht für mich allein war, wenn Sie aber wünschen, soll auch der an Sie zurück. Frank, – nun haben Sie wieder, was Sie mir gegeben, – aber die Erinnerung schwindet nicht, für das Gute, das der Einsamen durch | Sie ward – heißen Dank, – das Andere sei vergeßen; – der alte Franklin ist begraben! So sei es, – wenn ich Ihnen noch Freundin bin, so laßen Sie es mich bleiben u./;/ darum bitte ich! Gott segne Sie Frank, meine besten Wünsche werden mit Ihnen sein, „ohne Wünschenvermutlich Zitat aus Wedekinds Korrespondenz; zeitgenössisch häufiger anzutreffende Wendung [vgl. Die Gartenlaube 1868, Nr. 1, S. 16]. u Verlangen“, h/G/ott gebe, daß ich Sie noch einmal glücklich u. zufrieden sehe. –

Dieser Brief kommt selbstverständlich mit den andern zurück. Verstanden?!

Ericaliterarischer Name Bertha Jahns.


Wenn Sie mir eine große Freude machen wollen, so geben Sie mir einige Ihrer l. Briefe zurück, verlangen darf ich es freilich nicht, ich habe kein Recht mehr darauf! –