DinstagSchreibversehen, statt: Dienstag. Das war der 13.11.1900, nicht der 6.11.1900, da Beate Heine den Brief Wedekinds [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.11.1900] noch nicht erhalten haben kann, auf den sie hier antwortet..
Lieber Freund Frank! Wenn ich auch nicht glaube,
daß ich weit komme, so will ich doch wenigstens diesen Brief an Sie beginnen, um
Ihnen herzlich für Ihr liebes Schreibenvgl. Wedekind an Beate Heine, 7.11.1900. zu danken. Sie schrieben zwar sehr
strenge u. ließen mir eine tüchtige Strafrede zu theil werden ‒ aber das gerade ist mir ein Zeichen Ihrer
Freundschaft u. ich danke Ihnen von Herzen dafür. Aber ‒ ich bin diesmal nicht recht schuldig. Ich weiß
nicht, woraus Sie schlossen, daß ich
Carl mit Pessimismus quäle ‒ oder, daß
ich nicht an ihn glaube!? Ich glaube so fest an ihn, an seine
Fähigkeiten, ja ich möchte sagen, | an sein Genie für sein Fach ‒ daß ich ganz bestimmt glaube, er
muß einmal réüssiren ‒! Und,
fragen Sie ihn, ob ich ihm die Gegenwart verderbe durch Pessimismus! Er war vorigen
Mittwochmöglicherweise ein Versehen. Da Beate Heine auf Wedekinds letzten Brief [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.11.1900] antwortet, den sie wohl am 8.11.1900 erhalten hat, dürfte nicht der 7.11.1900 (das wäre der vorige Mittwoch) gemeint sein, sondern der Mittwoch in der Woche davor, der 31.10.1900, ihr 41. Geburtstag. hier ‒ u. ich sage Ihnen, wir haben die Zeit, die wir für einander
hatten, so wahrgenommen, wie man nur kann ‒ u. haben mit Wünschen, aber nicht mit Befürchtungen in die
Zukunft zu gesehen. Daß wir die Gegenwart im Ganzen nicht gerade schön
finden, versteht sich wohl von selbst ‒ wir sind getrennt, das ist das Schlimmste; wir haben keine Häuslichkeit u. wissen nicht, wann wir wieder eine haben werden ‒ und wir haben Beide eine schwere Existenz ‒ dies sind die 3 Punkte! Ueber die tanzt man
nicht so ohne | Weiteres fort ‒ aber ‒ wir sind alle Beide guten Muths u. hoffen auf
die Zeit der dauernden Wiedervereinigung. Trotz Allem war es ja ein Glück, daß
Carl die TournéeCarl Heines Europatournee mit seinem Dr. Heine-Ensemble. mit festem Gehalt kriegte, u. ich diese Stellung, ebenfalls mit guter Dotirung ‒ verhältnißmäßig ‒ ‒ wir wissen ja, wofür wirs thun ‒ u. wir müssen es eben durchhalten. Liebster
Freund, Sie haben wohl ganz u. gar meine Pläne hier mißverstanden? Als ob ich
für mein Vergnügen oder Gesundheit hier im Sanatorium säße? Nein ‒ ich bin eine ganz richtige, bezahlte
Gesellschafterin ‒ die sehr,
sehr gebunden ist u. deshalb nicht die Wohnung ihres Freundes Frank
besuchen kann ‒ was sie
doch so gerne thäte. Frl. Bonhartnicht identifiziert; es dürfte sich um eine der beiden Damen (Freundinnen Beate Heines) gehandelt haben, die Wedekind in München aufsuchen sollte [vgl. Wedekind an Beate Heine, 7.11.1900], möglicherweise Verwandte von Eva Bonarth (oder eine davon diese selbst), Geflügelhändlerin in München (Klenzestraße 64), oder von dem Handelsmann Samuel Bonarth (Klenzestraße 64) [vgl. Adreßbuch von München auf das Jahr 1901, Teil I, S. 62]. bat ich, Ihnen meinen letzten Brief vorzulesen
‒ weil ich darin alles aus | meinem
Leben erzählte u. so schwer dazu komme, ausführlich zu schreiben. Wissen Sie,
die erste Zeit vergesse ich niemals ‒ es war zu furchtbar. Vor allem ‒ der Anfall ‒ was ich da
an Todesangst ausgestanden habe, es könne sich wiederholen, wie ich da zitternd in der Nacht auf jedes Geräusch gehorcht habe, u.
wie ich (und das war das Schlimmste) total vergraut war ‒ das ist kaum zu schildern! Wenn mir der Arzt
auch später sagte ‒ es sei kein
Wahnsinn, es sei Hysterie, so wurde ich das Grauen doch nicht mehr los ‒ ach ‒ u. ich sag Ihnen ‒ ich hätte
am Liebsten damals gestreikt. Aber ‒ ich schämte mich ‒ zunächst
vor mir selber, so bei der ersten schwereren Prüfung zu versagen, und dann ‒ ich konnte es auch nicht übers Herz bringen, die
arme Fr. K.nicht identifiziert. Es handelt sich um eine Frau, deren Nachname mit „K“ beginnt; die Abkürzung „Fr.“ steht entweder für ‚Frau‘ oder für einen abgekürzten Vornamen. So oder so scheint es sich bei ihr um die Dame zu handeln, bei der Beate Heine in Berlin (Grunewald) als Gesellschafterin tätig war. | allein zu lassen. ‒ Jetzt fühle ich aber, ich bin über das Aergste fort. Auch hat mir Carls
Hiersein sehr geholfen, mir wieder mehr das Gefühl gegeben, daß ich doch
irgendwo hingehöre ‒ u. hat mir
Muth u. Heiterkeit gegeben. Daran bedarf ich hier aber auch. Wissen Sie ‒ ich thue eigentlich garnichts u. bin doch
von früh bis spät beschäftigt. Dieses Nichtsthun war mir zu Anfang fast
unerträglich. Wie Sie sagen würden: „nix Reelles“ thu ich. Aber ‒ ich sehe ‒ daß ich Fr. K. etwas bin, u. fühle, daß ich ihr gut thue ‒ ich bringe sie oft dazu Thränen zu lachen ‒ durch allerlei Blödsinn, von dem ich ja ziemlich
reiche Vorräthe in mir habe ‒ sie
behauptet, ich hätte ein geradezu lächerliches Anpassungsvermögen ‒ ich wünschte mir manchmal etwas weniger
davon, | ich leide so mit ihr ‒ jeder Gang
zum Kirchhof kostet mich Herzschläge u. Nerven ‒ mein Mitleid ist mir so im Wege ‒ weil ich nicht so sehr kräftig bin, was Herznerven betrifft. Das Gute
ist, daß Fr. K. eine wirklich liebenswürdige u. geistig recht bedeutende
Frau ist ‒ die viel Humor hat ‒ u. mit der ich mich sehr gut verstehe ‒ wenigstens im großen Ganzen. Sie war z.B. sehr
befriedigt, daß ich ihr die Bekanntschaft v. Hartleben d.h. seiner Werke! vermittelte, von dem sie garnichts wußte ‒ jetzt wird sie Ihren Kammersänger lesen (von dem
mir Karls BandeMitglieder des Dr. Heine-Ensembles. leider Ihr Dedikationsexemplarnicht überlieferte handschriftliche Widmung in einem Exemplar von „Der Kammersänger“ (1899); erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 12.3.1899. verloren hat!!) ‒ u.s.w. Sehr
schwer ist mir’s, immer auf dem qui
vive(frz.) auf der Hut. zu sein ‒ beim Schreiben z.B. ‒ mit einem Wort, mir nie zu gehören ‒ das strengt die Nerven so an. | In die Stadt
komme ich mitunter, Besorgungen zu machen
Mittwochder 14.11.1900 (siehe oben und die Hinweise zur Datierung).. Heut hoffe ich, den Brief zu beenden. Erzählen kann ich ja auch
eigentlich nicht viel ‒ nur Ihnen
sagen, in welcher Art ich lebe! Wenn
ich mal in der Stadt bin, komme ich mal 10 Minuten zu meinen Verwandten oder
Freunden herenSchreibversehen, statt: herein. ‒ aber ‒ das
ist sehr wenig u. ich habe oft Sehnsucht heraus zu kommen ‒ wissen Sie ‒ um nur mal sich wieder klar zu werden, daß es auch noch anderes
giebt, als Grabkränze, Kränze und Kirchhofs-Atmosphäre. Hier in Grunewald ist
es sonst wunderhübsch. Wir fahren u. gehen viel spazieren ‒ machen Gymnastik (tout comme chez-vous(frz.) genau wie zu Hause; hier wohl: alles wie bei Ihnen (Wedekind machte auch Gymnastik).) auf Wunsch des
Arztes ‒ und | essen im Uebrigen
recht viel ‒ ich
fürchte, ich werde immer dicker! Carl hat in Preußen sehr viel Glück ‒ er hat volle Häuser u. viel Enthusiasmus, jetzt
wollte er nach Rußland ‒ hat aber
aufgeschoben, wegen der Krankheit des ZarenDie Presse hatte über Nikolaus II. in einer seiner Residenzen gemeldet: „Der Aufenthalt des Zaren in Livadia ist durch ärztliche Verordnung veranlaßt, da der Zar dringend Ruhe brauchte.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 514, 2.11.1900, Morgen-Ausgabe, S. 8]. Der Tag, mein Geburtstag (übrigens der 31 OktoberBeate Heine ist am 31.10.1859 geboren; ihr Vater hatte seinerzeit ihre Geburt angezeigt: „Die glückliche Entbindung meiner Frau Franziska, geb. Weimann, von einem gesunden Mädchen, zeige ich Freunden und Verwandten, statt jeder besondern Meldung, hierdurch an. Berlin, den 31. Okt. 1859. Richard Wüerst.“ [Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen (Vossische Zeitung), Nr. 255, 1.11.1859, 3. Beilage, S. 4] und nicht der 7
NovemberBeate Heine schreibt hier versehentlich das Datum von Wedekinds letztem Brief an sie, nicht das Datum 5.11.1900, das Wedekind in jenem Brief mit „vorgestern“ [Wedekind an Beate Heine, 7.11.1900] als ihr vermeintliches Geburtstagsdatum angegeben hat.!!), an dem Carl hier war, war ein wirklicher Festtag ‒ u. nun hoffen wir auf Weihnachten ‒ da sind wir bestimmt bei einander ‒ wo u. wie ist noch unbestimmt! Ich glaube ‒ lieber Freund, ich habe sehr ungeordnet
geschrieben ‒ nehmen Sie bitte vorlieb ‒ ich schreibe immer so in der Hast! Schreiben Sie mir mal was Gutes von
sich! Wie bin ich neugierig auf Ihre Wohnung! Sie ist gewiß reizend! Ich grüße
Sie mit wärmster Herzlichkeit! Ihre getreue
Beate Heine.