Kennung: 944

Helgoland, 26. August 1899 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Heine, Carl

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Helgoland den 28/6/ Aug. 1899


Mein lieber Herr Wedekind.

Ihren Brief vom 23. Aug.nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 23.8.1899. Wedekind dürfte in dem Brief mitgeteilt haben, dass an diesem Tag seinem Begnadigungsgesuch stattgegeben und die siebenmonatige Gefängnishaft, zu der ihn das Leipziger Gericht am 3.8.1899 verurteilt hatte, in Festungshaft umgewandelt wurde. der zu meiner Verwunderung noch von Leipzig aus datiert war, erhielt ich gestern; den vom 1 Augustnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 1.8.1899. hatten wir noch nicht beantwortet, da wir nicht wußten, wohin wir ihn adressieren sollten. Sie sehen, wir sind noch immer in Helgoland, Montag28.8.1899. gehen wir nach Wilhelmshaven und am 1. Sept. sind wir zurück. Es thut mir sehr leid, daß ich Ihnen Ihr Mskr. erst am 1 Sept. sendenHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Sendung des Manuskripts „Ein gefallener Teufel“; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Heine an Wedekind, 1.9.1899. Wedekind begann mit der Umarbeitung von „Ein gefallener Teufel“ (der Urfassung) zu „Marquis von Keith“ (1901) „nach Rückerhalt des Manuskripts von Carl Heine“ [KSA 4, S. 413]; bereits am 16.9.1899 konnte er mittteilen, aus der Umarbeitung sei „etwas geworden“ [Wedekind an Beate Heine, 16.9.1899]. In einer späteren Notiz über seine Haftstrafe resümierte er: „Nach viermonatlichem Aufenthalt im Gefängnis in Leipzig wurde die Strafe in Festungshaft verwandelt. Die noch übrigen 4 Monate verbrachte ich auf der Festung Königstein, wo ich das im Gefängnis begonnene Drama ‚Der Marquis von Keith‘ beendete.“ [Nb 55, Blatt 13r] kann, aber ich habe es in Hamburg verschlossen, so daß nur ich es herausnehmen kann. | Über meine Zukunft bin ich selbst noch nicht aufgeklärt. Wahrscheinlich werde ich September 19/8/99 1900 entweder am Deutschen SchauspielhausCarl Heine war erst in den Jahren 1901 bis 1907 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg als Regisseur tätig. in Hamburg oder am Deutschen TheaterCarl Heine war erst ab 1917 am Deutschen Theater in Berlin als Regisseur und Dramaturg tätig. in Berlin Oberregisseur; doch ist das noch sehr unsicher. Nach MünchenWedekind hatte angenommen, Carl Heine werde eventuell nach München gehen [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 27.7.1899]. zieht es mich nicht sehr. Was das Variété-TheaterNäheres über Carl Heines Pläne für ein Varieté ist nicht ermittelt. betriffSchreibversehen, statt: betrifft., so fehlt es vor Allem an Geld; aber falls Sie Lust und Gelegenheit haben, Ihre Ansichten darüber zu fixieren, würden Sie bei mir auf das aller|dringlichste Interesse stoßen. Das Modell zu einer geeigneten Bühne ist in meinem Besitz. Was Sie über Ihre Pläne ab FebruarWedekind dürfte seine Zukunftspläne für die Zeit nach seiner Entlassung aus der Festungshaft am 3.2.1900 vor allem in dem verschollenen Brief vom 23.8.1899 erläutert haben (siehe oben). schreiben, klingt ja sehr erfreulich. Was ist das für ein Verleger-Kontraktnicht eindeutig ermittelt; Wedekinds Verleger war nach wie vor Albert Langen.. Zu UnterrichtWedekind hat Carl Heine offenbar berichtet, dass er nach seiner Entlassung aus der Festungshaft Schauspielunterricht bei einem Schauspieler nehmen werde ‒ dieser Schauspieler war dann Fritz Basil (siehe unten). würde ich bei Häußerbei Karl Häußer (Pseudonym für Karl Heußenstamm) in München (Wagmüllerstraße 12) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1900, Teil I, S. 228; Teil II, S. 628], Münchner Hofschauspieler [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 455]. nicht bei M.bei Meyer ‒ gemeint ist der Regisseur und Hofschauspieler Fritz Basil (Pseudonym für Friedrich Meyer) in München (Galeriestraße 15) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1900, Teil I, S. 24, 349; Teil II, S. 188], seit 1894 am Münchner Hoftheater tätig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 455]. Wedekind nahm dann bei ihm Schauspielunterricht (siehe Wedekinds Korrespondenz mit Fritz Basil). rathen.

Was ich zu Juliane DéryDie als Bühnenautorin bekannte Schriftstellerin war eine schillernde Persönlichkeit der europäischen Boheme, die in den Schriftstellerkreisen von Paris, München und Berlin verkehrte. Ihren letzten Text soll sie der Münchner Zeitschrift „Jugend“ angeboten, den letzten Brief vor ihrem Tod (siehe unten) an den Berliner Bühnenverleger Theodor Entsch geschrieben haben. Wedekind kannte sie persönlich [vgl. Juliane Déry an Wedekind, 7.6.1896]. sage? Nichts. Denn ich weiß n/N/ichts. In den Prozeß-Berichten, die ich las, war ihr Name nicht erwähnt, nur gelegendlichSchreibversehen, statt: gelegentlich. IhresSchreibversehen, statt: ihres. Selbst|mordesDie als Kind vom Judentum zum Katholizismus konvertierte Juliane Déry beging am 31.3.1899 (Karfreitag) in Berlin Selbstmord ‒ Presseberichten zufolge aus Liebeskummer wegen ihrer geplatzten Verlobung, gelegentlich unter Hinweis darauf, sie sei in die Dreyfus-Affäre verwickelt. So schrieb die Berliner „Volks-Zeitung“ unter Berufung auf das Wiener „Fremdenblatt“ (da die Schriftstellerin als Wienerin galt, hat die dortige Presse sich besonders für sie interessiert): „Durch die Veröffentlichungen des ‚Figaro‘ über die Zeugenaussagen in der Dreyfus-Angelegenheit kommt eine Verbindung an das Tageslicht, durch welche die vor kurzem durch Selbstmord aus dem Leben geschiedene Schriftstellerin Juliane Déry in Beziehungen zu Dreyfus gebracht wurde.“ In einer Aussage von 1894 vor dem französischen Gerichtshof seien „diese angeblichen Beziehungen“ unter die „Verdachtsgründe“ gegen Dreyfus „eingereiht“ und in einer „nunmehrigen Aussage“ erneut wiederholt worden, wobei es sich um „Verleumdung“ handle. Dreyfus war unterstellt worden, „daß er viel Geld mit Frauen vergeudete“, die „der Halbwelt“ angehörten, von diesen „Frauen sollte nun eine die unglückliche Juliane Déry sein und phantasievolle Leute brachten sogar ihren Selbstmord damit in Verbindung und wollten ihn als Bestätigung ihrer Beziehungen zu Dreyfus aufgefaßt wissen, obwohl sich Juliane Déry vom Balkon gestürzt hat, zwei Tage ehe die Aussagen [...] veröffentlicht wurden.“ [Juliane Déry und die Dreyfus-Affaire. In: Volks-Zeitung, Jg. 47, Nr. 177, 16.4.1899, Morgenblatt, S. (3)] hörte ich von irgendwelchen Beziehungen zur Dreyfuß-AngelegenheitDie Dreyfus-Affäre war ein Justizskandal, der in den 1890er Jahren die französische Öffentlichkeit spaltete und eine massive innenpolitische Krise in Frankreich markiert. Infolge antisemitisch motivierter Verleumdungen war Alfred Dreyfus, französischer Offizier jüdischer Herkunft, 1894 wegen Landesverrats verurteilt und auf die Teufelsinsel verbannt worden. Für ihn eingesetzt hat sich insbesondere Emile Zola (am 13.1.1898 erschien sein berühmter offener Brief „J’Accuse...!“ an den französischen Staatspräsidenten). Der Fall nahm eine Wende, das Urteil wurde am 3.6.1899 aufgehoben und Dreyfus sollte sich einem neuen Kriegsgerichtsverfahren stellen, das am 8.8.1899 begann und am 19.9.1899 mit der Begnadigung des Offiziers durch den Staatspräsidenten endete..

Ich bitte Sie, mir bei Ortsveränderung Ihre Adresse gefälligst zukommen zu lassen; ich bin augenblicklich in großer Eile und werde Ihnen ausführlicher erst von Leip Hamburg aus schreiben. Gegen 12. Sept.Wedekind war am 12.9.1899 noch immer im Gefängnis in Leipzig inhaftiert; erst am 21.9.1899 trat er seine Festungshaft auf der nahe Dresden gelegenen Festung Königstein an. denke ich in Dresden zu sein, vielleicht habe ich da Gelegenheit Sie aufzusuchen.

Mit den herzlichsten Grüßen von meiner Frau und mir
Ihr
Carl Heine


Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Oben links auf Seite 1 ist mit anderer Tinte von fremder Hand der Eingangsvermerk „Eing 2 B“ sowie „Herrn Frank Wedekind“ (Nachname unterstrichen) mit Datum „28/8 99 St“ notiert, womit der Eingang in das Gefängnis markiert sein dürfte, in dem Wedekind inhaftiert war.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der Notiz von fremder Hand auf dem Brief zufolge, traf er am 28.8.1899 in dem Gefängnis in Leipzig ein, in dem Wedekind inhaftiert war (oder Wedekind erhielt ihn an diesem Tag).

  • Schreibort

    Helgoland
    26. August 1899 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Helgoland
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Leipzig
    28. August 1898 (Sonntag)
    Ermittelt (sicher)

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 65
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Carl Heine an Frank Wedekind, 26.8.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

11.03.2024 18:33