Kennung: 939

Helgoland, 7. Juli 1899 - 15. Juli 1899, Brief

Autor*in

  • Heine, Beate

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Helgoland,
Villa Quisisana,

d. 7.7.99Freitag..


Lieber Freund ‒ erst heut komme ich dazu, Ihnen für Ihren lieben „GeschäftsbriefZitat aus dem zuletzt erhaltenen und dort in Anführungszeichen gesetzt so bezeichneten Brief [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.6.1899].“ zu danken, und Ihnen zu sagen, daß wir noch mehr als sonst Ihrer gedacht haben ‒ durch Ihr Drama. Mein Mann hat Ihnen wohl schon drüber geschriebenüber „Ein gefallener Teufel“ [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.6.1899]., aber da Sie so liebenswürdig sind, meine Laien-Meinung auch hören zu wollen, so muß ich sagen, daß mir Ihr Werk, vor Allem, einen großen Eindruck gemacht hat. Das Geld interessirt von a-Z. Uebrigens thut erder Marquis von Keith, die Hauptfigur in „Ein gefallener Teufel“ (die Urfassung des „Marquis von Keith“) [vgl. KSA 4, S. 149, 411-413]. Aussprüche, die ich in Hinterindien für ächte | Wedekinds erkennen würde. Von der Mache verstehe ich mäßig viel, aber ich habe das Gefühl, daß (gegen den Erdgeist) hier ein fester Faden durchgeht, der die Handlung hält, u. der dort fehlte. Mit den Schlußscenen des 4ten u. auch 3ten Akts bin ich Ihrer Meinung, daß sie recht dünn sind ‒ nicht aber die des 5ten. Sehr schön u. vom Schauspieler noch schöner zu gestalten finde ich die letzte Scene zwischen Keith u. der WerdenfelsSilvia, verwitwete Gräfin Werdenfels, die Geliebte des Marquis von Keith in „Ein gefallener Teufel“ (in „Marquis von Keith“ heißt sie dann Anna).. Sagen Sie mir nur eines, was empfindet Keith für ThereseTherese Griesinger, in „Ein gefallener Teufel“ (und „Marquis von Keith“) die Lebensgefährtin des Marquis von Keith.? Meiner Meinung überhaupt nichts, außer, was die Haushälterin angeht!? Denn, soweit er dazu | Zeit hat, liebt er die Werdenfels; ‒ nicht? Sie ihn aber nicht. ‒ Ob das Stück für das Deutsche Theater paßt, ist die Frage ‒ aber wohin sonst! ‒ Nun, zu uns, die wir seit DinstagSchreibversehen, statt: Dienstag (der 4.7.1899). Hamburg den Rücken gewendetBeate und Carl Heine reisten am 4.7.1899 von Hamburg ab nach Helgoland, wohin es eine regelmäßige Dampfschifffahrtsverbindung gab. haben. Carl war durch die kurze, kleine Vor-ReiseCarl Heine hatte eine Reise nach Berlin unternommen, von der er am 23.6.1899 nach Hamburg zurückkehrte. schon etwas erholt, u. hier sind wir Beide wieder beglückt von aller Schönheit, die uns außerdem so lieb vertraut ist. Das Wetter ist ganz leidlich, zwar bedeckt, aber doch so, daß man sowohl die Düne, als auch das Oberland durchaus genießen kann.


Sonnabend, d. 15.7.99. Sie wissen, | wie gern ich an Sie schreibe, aber ich konnte neulichdie acht Tage seit dem 7.7.1899, an dem der Brief begonnen wurde. nicht die nöthige Energie aufbringen, diesen Brief zu vollenden. Ich bin überhaupt jetzt eine so sehr schlechte Correspondentinfast Alles kommt mir so klein u. gleichgültig vor − aber − ich will Sie mit meinem Seelenkater − der mir aber viel mehr wie eine Seelenerhebung vorkommt − nicht anöden. Heut kamen Ihre lieben Zeilen an Carlnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 13.7.1899., und die zogen mich direkt an den Schreibtisch. Ich begreife so sehr, wie gräßlich schwer Ihnen die Zeit der Ungewißheit wird − mir ist auch jede Art des Wartens verhaßt − und | nun gar, wenn es sich um so Wichtiges handelt. Ich hab sehr lachen müssen, aus Ihrer Feder eine (übrigens vorzügliche) sächsische Redensart zu hören − das ist ein zu amüsanter Kontrast. − Wollen Sie hören, wie wir hier leben? Sehr einförmig − in regelmäßigem Müßiggang − aber ich versichere Sie, das beschäftigt uns so, daß wir keine Viertelstunde Zeit erübrigen. Carl jagt morgens von ½ 7-½ 10 − dann frühstücken wir, ich mein erstes, Carl sein 2tes Frühstück. Danach begebe ich mich in die Hände eines Masseurs, der mir die Schäden eines Treppensturzes wegknetet, den ich so um Pfingsten erlitt, u. der wirklich scheußlich war. | Im wahren Sinne des Wortes „zerschlagen“ kehre ich von dieser Prozedur zurück u. um ½ 11 fahren wir zur Düne. Dort wird gebadet, (sogar mein kaltes Wasser hassender Gatte thut es) u. dann wandert man an die außersteSchreibversehen, statt: äußerste. Spitze der Dünenzunge u. legt oder setzt sich dort hin. Das Schönste ist, wenn die Fluth steigt u. man immerfort − so alle 10 Minuten, eilig retirirensich zurückziehen. muß − das geht oft nicht ohne Naßwerden ab − aber das ist hübsch u. lustig − es thut einem auch nichts. Im Uebrigen beschäftigen sich dort auf der Düne die ältesten, würdigsten Männer mit den kindlichsten | Dingen − als da ist: Butterbrot werfen„ein Spiel der Kinder in Niedersachsen und Preußen, da sie Scherben oder platte Steine nach einem spitzigen Winkel auf die Oberfläche des Wassers werfen, so daß sie einige Mahl nach einander davon abspringen“ [Adelung, Sp. 1283]., mit Steinen nach einem selbsterrichteten Ziel schießen − Sand u. Steinwälle gegen die steigende Fluth bauen u.s.w. Man ist so herrlich stumpfsinnig hier, daß einem das gerade recht ist − man sehnt sich nicht im Entferntesten nach „Geist“ oder Kunst oder/und/ Litteratur − nein, man fault sich so durch den Tag. Um ½ 2 sind wir wieder zum Essen hier, dann ruhen wir gründlich − Carl schläft meist, wie eine Ratte u. um 4 Uhr zieht man sich ein Bischen anständiger an u. trinkt auf der Veranda des Conversationshausesdas neue, 1891 erbaute und im „Unterland“ gelegene „Konversationshaus, mit Gesellschafts-, Musik- und Lesesälen“ [K. Baedeker: Nordost-Deutschland (von der Elbe und der Westgrenze Sachsens an) nebst Dänemark. Handbuch für Reisende. 25. Aufl. Leipzig 1896, S. 51]., bei | den Klängen der Kurmusik Kaffee. Dann segelt Carl u. ich bemühe mich, Briefe zu schreiben, wie jetzt − aber oft mit ohne Erfolg. Alsdann ersteigen wir in 182 Stufen das Oberlanddas Plateau der Insel Helgoland, vom Unterland durch eine Treppe erreichbar. − gehen − oder vielmehr, wandeln dort auf dem weichen Wiesengrund, füttern einige besonders niedliche Lieblingsschafe, u. freuen uns immer wieder der wirklich bezaubernden Naturschönheit der rothen Buchten u. des Meers u. der ganzen Scenerie. Abendbrot essen wir wieder unten u. spielen dann meist eine Partie Schach; wobei ich mich rasend ärgere − ich spiele noch ziemlich schlecht | − u. finde Carls Züge immer so hämisch, wie eine persönliche Beleidigung. Bis jetzt wars noch nicht sehr voll − ein Reiz mehr für uns − aber jetzt fängt das Theater anDie Spielzeit des Landschaftlich subventionierten Theaters (Direktion: Gustav Kammsetzer) auf Helgoland als stark besuchtes Seebad begann am 17.7.1899 und dauerte bis zum 18.9.1899 [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 389]. u. die eleganten Badeleute u. die Stammgäste kommen zum Vorschein. Wir sprachen mit unserem Fischer, den Kellnerinnen − und seit einigen Tagen auch mit BrahmDr. phil. Otto Brahm, Direktor des Deutschen Theaters in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 254], hat sich bereits im Vorjahr auf Helgoland aufgehalten; er hat dort am 8.7.1898 die Schauspielerin Grete Nansen geheiratet.. Er ist ja erstaunlich häßlich − aber ich mag ihn gern, u. er ist immer besonders nett zu mir, wir kennen uns von den ZwanglosenOtto Brahm war am 22.1.1884 Gründungsmitglied der Zwanglosen Gesellschaft, eine „gesellige Wochenkneipgesellschaft“ [Wülfing/Bruns/Parr 1998, S. 500] in Berlin, die sich freitags zwanglos in unterschiedlichen Lokalen versammelte. Mitglieder waren Buchhändler, Sänger, Musiker, Musikhistoriker, Schriftsteller, Philologen, Architekten und andere akademisch gebildete Berufsgruppen. Mitglied war auch Franz Wüerst [vgl. Wülfing/Bruns/Parr 1998, S. 502], der Bruder Beate Heines., noch aus meiner Mädchenzeit. Uebrigens weiß ich seit heut, warum er immer | so mißmuthig u. vergrätzt aussieht − er hat ein chronisches Magenleiden! Er thut mir immer ein Bischen leid, ich glaube, es hat ihn selten einer wirklich gern! Und Sie wissen, daß ich das als Haupt-Erforderniß im Leben betrachte. So, u. nun zum Schlusse. Vielleicht schreibt Carl noch ein Wort dazuDer vorliegende Brief enthält keinen Zusatz Carl Heines.. Die Bücher bekommen sie sofortWedekind hat Bücherwünsche geäußert, vermutlich in seinem letzten Brief, der (bis auf die erste Seite) nur gedruckt zugänglich ist und sie in dieser Fassung nicht enthält [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.6.1899]. Seinem nächsten Brief zufolge hat er um Tolstojs Roman „Anna Karenina“ und um Reden Bismarcks gebeten, Bücher, die ihm da schon, erhalten von Beate Heines Hamburger Buchhändler, seit „mehr als drei Wochen“ [Wedekind an Beate Heine, 31.7.1899] vorlagen.. Uebrigens fand ich es sehr rührend von Ihnen, daß Sie sich des hübschen NachmittagsWedekind erinnerte in seinem letzten Brief an diesen gemeinsamen Nachmittag in Hamburg [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.6.1899]. in Hamburg unter dem Brückenkopf erinnerten, das freute mich − ja, ja − das Nicht-Verwöhnen ist ein gutes Prinzip − aber es kann nicht Jeder durchführen − ich, wie Sie wissen, am Allerwenigsten! Womit ich bin in herzlichster Freundschaft
Ihre
Beate Heine.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 17,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Oben auf Seite 1 ist mit Bleistift von fremder Hand notiert „Herr Lgd. Adam“ (die Abkürzung wohl für ‚Landgerichtsdirektor‘; gemeint sein dürfte Eduard Alfred Adam, Landgerichtsrat in Leipzig und Mitglied der Kaiserlichen Disziplinarkammer), außerdem „Wedekind 20.7 99 St“, womit der Eingang in das Gefängnis markiert sein dürfte, in dem Wedekind in Untersuchungshaft saß.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Die Niederschrift des am 7.7.1899 begonnenen Briefs wurde am 15.7.1899 fortgesetzt.

Der Bleistiftnotiz von fremder Hand zufolge hat Wedekind den Brief am 20.7.1899 erhalten.

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 65
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Beate Heine an Frank Wedekind, 7.7.1899 - 15.7.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

09.03.2024 15:50