Kennung: 925

Paris, 12. März 1899 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Heine, Beate

Inhalt

Paris, 12.III.1899.


Hochgeehrte, liebe Frau Doctor,

ich habe eine schwere Zeit hinter mir von viel Arbeit und vielem Aerger, nicht, daß es mir gerade schlecht gegangen wäre ‒ ich hoffe, das liegt ein für allemal hinter mir ‒ aber allerhand KrakehlereienStreitigkeiten mit Albert Langen als Verleger des „Simplicissimus“, für den Wedekind nach wie vor Gedichte schrieb. mit Langen, der mir das Leben natürlich so sauer wie möglich zu machen sucht. Die Hauptsache aber war das: Ich weiß nicht, ich weiß nicht wie es mit meinem StückWedekind schrieb an „Ein gefallener Teufel“ [KSA 4, S. 77-148], der Urfassung des „Marquis von Keith“ (1901) [vgl. KSA 4, S. 411-413]. wird. Den einen Tag erscheint es mir sehr gut und den anderen Tag sehr schlecht. Immerhin bin ich über das Schlimmste hinaus. Ich beschäftige mich momentan damit, es noch einmal durchzuarbeiten und hoffe in vierzehn Tagen, drei Wochen, endgültig damit fertig zu sein. Erwarten Sie keine interessanten Erzählungen von mir; erlebt habe ich bei alledem noch garnichts, als daß ich alle acht Tage mit einigen gleichfalls sehr beschäftigten Freunden in einer stillen Kneipe zusammensitze. Grétor habe ich einmal wiedergesehen, leider war Langen dabei und der Abend wurde abschreckend stimmungslos. Wir dinirten zusammen und gingen dann in eines jener Locale, wo mein Freund Richard und ich seinerzeit glückselige Stunden verlebt haben, ‒ um uns entsetzlich zu langweilen. Aber genug davon! Wie geht es Ihnen! Denken Sie noch immer daran, nach Berlin zu gehen? Wie fühlt sich Ihr Herr Gemahl in Hamburg? Es wäre doch jammerschade, wenn er den WirkungskreisCarl Heine war artistischer Leiter und Oberregisseur am Carl Schultze-Theater (Direktion: José Ferenczy) in Hamburg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 367]. aufgäbe, da es vielleicht doch nur der Anlaß dazu wäre, daß ein anderer nach ihm käme, um die Früchte seiner Anstrengungen zu ernten.

Wie geht es Ihnen, liebe Freundin? Vor mir an der Wand hängt die Erinnerung an das Mitteldeutsche BundesschießenWedekind hatte bereits in einem früheren Brief [vgl. Wedekind an Beate Heine, 14.8.1898] an das Mitteldeutsche Bundesschießen erinnert, das vom 3. bis 10.7.1898 in Leipzig stattfand. und auf dem Schreibtisch bin ich von Erinnerungen an Sie umringt. Unser kleiner Kreis hier hat sich seit einiger Zeit durch Dauthendey vermehrt, den ich zum letzten Mal in London gesehen und der sich seitdem verheirathet hatDer Schriftsteller und Maler Max Dauthendey hatte am 6.5.1896 auf Jersey Annie Johanson geheiratet, die Tochter eines schwedischen Großkaufmanns.. Bei der Erzählung meiner Erlebnisse an der Bühne läuft ihm das Wasser im Munde zusammen. Er hat vier Jahre des abentheuerlichsten LebensMax Dauthendey, der zunächst in London, dann in Paris lebte, war zwei Jahre zuvor nach Mexiko übergesiedelt, um dort seine künstlerischen Pläne zu verwirklichen, kehrte Ende 1897 nach Europa zurück, nach Paris, reiste dann gemeinsam mit Karl Gustav Vollmoeller im Frühjahr 1898 durch Griechenland, lebte anschließend mehr oder weniger in Berlin und seit Frühjahr 1899 wieder in Paris ‒ dies alles ökonomisch keineswegs abgesichert, sondern im Gegenteil in beständiger finanzieller Misere. hinter sich und weiß augenblicklich nicht recht, was mit seiner Person anfangen. Vorderhand hat er sich aufs Zeichnen geworfen und arbeitet für Meier-GräfeDer Schriftsteller und Kunsthistoriker Julius Maier-Graefe war in Paris auch als Kunsthändler tätig.. Aber was interessirt Sie das? –

Grétor ist noch der Held von früher, nur ausgewachsen, imposante Figur trotz seines Hinkens. Er verkehrt nur noch mit englischen Herzögen und erzählt mit pathetischem Ausdruck seine letzte Begegnung mit Bismarck, obschon er in unserem Kreis annehmen konnte, daß ihm kein Mensch eine Silbe glaubt. Thatsache ist, daß er im ersten Hotel von Paris wohnte, in dem auch der Prince of WalesPrince of Wales (Titel des englischen Thronfolgers) war seinerzeit Albert Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha, dem der Titel am 8.12.1841 im Alter von vier Wochen verliehen worden ist und der erst nach 59 Jahren als Edward VII. auf den englischen Thron kam. absteigt, und in London ein großes Haus führt. Wenn ich mit dem Stück zu Ende gekommen, werde ich ihn wiedersehen, da er alle Naselang nach Paris kommt.

Mit Sicherheit rechne ich auf Ihren Besuch im Juni und freue mich sehr darauf. Sie werden mir wol mehr zu erzählen haben als ich Ihnen. Denken Sie, daß ich dick geworden bin wie FalstaffSir John Falstaff, Figur in mehreren Dramen William Shakespeares, die äußerst korpulent ist.. Man wird nicht ungestraft von heute auf Morgen zum Philosophen. Ich hoffe aber auch diesem Uebel rasch abzuhelfen, sobald ich von meinem Wahn geheilt bin.

Weber hat sich also auch verheirathetHans von Weber war verlobt ‒ er heiratete seine Geliebte Anna Jäger erst am 29.3.1899.. Und Martens ist in München aufgeführt wordennicht ermittelt. Fritz Strich schrieb: „Es kam damals kein Drama von Martens zur Aufführung.“ [GB 1, S. 358], natürlich mit Erfolg. Ich freue mich aufrichtig darüber und werde es ihm auch selber schreiben, sobald ich dazu komme, ihm zu seiner VerlobungKurt Martens hat Wedekind seine Verlobung (die Heirat fand in München am selben Tag statt wie die seines Cousins Hans von Weber) mit Mary Fischer brieflich mitgeteilt [vgl. Kurt Martens an Wedekind, 5.2.1899]. zu gratuliren.

Mit gleicher Post schicke ichHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Buchsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Carl Heine, 12.3.1899. Ihnen den KammersängerWedekinds Einakter „Der Kammersänger“ war einige Tage zuvor als Neuerscheinung im Albert Langen Verlag in München angezeigt [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 52, 4.3.1899, S. 1742].. Ersuchen Sie aber bitte Ihren Herrn Gemahl, die WidmungDie Erstausgabe des Einakters „Der Kammersänger. Drei Scenen von Frank Wedekind“ (1899) im Albert Langen Verlag enthält die gedruckte Widmung: „Dem Meister deutscher Bühnenkunst / Dr. Carl Heine / in treuer Freundschaft gewidmet“ [KSA 4, S. 333]. In der 2. Auflage (1900) lautet die Widmung dann gekürzt: „Dem Meister deutscher Bühnenkunst / Dr. Carl Heine / gewidmet“ [KSA 4, S. 9] ‒ sie wurde so nach den Verlagswechseln auch in die 4. Auflage (Bruno Cassirer Verlag) und im Abdruck des Einakters 1913 in den „Gesammelten Werken“ (Georg Müller Verlag) übernommen [vgl. KSA 4, S. 9; 333f.]. Carl Heine hat sich für die Erstausgabe mit der Widmung bedankt [vgl. Carl Heine an Wedekind, 16.3.1899]. nicht falsch zu verstehen. Es ist der Ausdruck aufrichtiger Dankbarkeit und es wäre ein schlechter Dienst, wenn ich ihm zumuthete, sich wieder als ErsterCarl Heine hatte am 25.2.1898 in Leipzig die Tragödie „Der Erdgeist“ uraufgeführt und damit das erste Wedekind-Stück überhaupt auf die Bühne gebracht, außerdem am 1.7.1898 ebenfalls in Leipzig Wedekinds Schwank „Fritz Schwigerling“ („Der Liebestrank“). die Finger daran zu verbrennen. Wenn das Stück gut ist, dann werden sich wol auch andere Interessenten dafür finden. Aber eine Bitte hätte ich an Sie, liebe Frau Doctor: daß Sie mir das offene fachmännische Urtheil Ihres Herrn Gemahls gelegentlich verrathen, aber ungeschminkt, damit würden Sie mir auf jeden Fall nützen, ohne daß es Consequenzen hat.

Von den abentheuerlichen Plänen, die ich im Kopf trug, als ich hierherkam, habe ich bis jetzt keinen auch nur in Angriff genommen. Ihre Zahl hat sich derweil noch um einige vermehrt und ich werde Paris wol nicht verlassen, bevor ich meinen Ideen gegenüber wenigstens meine Schuldigkeit gethan. Nachher werde ich dann wol versuchen, meinen Frieden mit dem deutschen ReichDer wegen drohender Haft aufgrund von Majestätsbeleidigung im „Simplicissimus“ vor knapp viereinhalb Monaten aus München über Zürich nach Paris geflohene Wedekind hatte vor, sich den deutschen Behörden zu stellen. zu machen. Wie die Dinge jetzt liegen, kann ich nach menschlichem Ermessen wol damit rechnen, mit einigen Monaten Festung davon zu kommen. Und muß ich dafür sorgen, daß ich mir derweil keine neuen Angriffe zu Schulden kommen lasse, und das, sehen Sie, ist es eben, was mich in unausgesetzten Widerspruch zu Langen setzt. Der Hund möchte nichts lieber, als daß ich mir die Gurgel noch vollends abschneide. Auf diese Weise hat es sich wie von selbst gemacht, daß in unserer Correspondenz nicht mehr von „Dichten“, sondern nur noch von „zum Rasiermesser greifenZitat aus einem nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Albert Langen, 12.3.1899. Albert Langen, der sich seit einigen Wochen in Paris aufhielt, wohnte dort, wie er seiner Frau Dagny Björnson mitgeteilt hat: „Hotel de Calais, rue de la Paix, coin de la rue des Capucines“ [Abret/Keel 1987, S. 308].“ die Rede ist. So zum Beispiel: „Lieber Herr LangenZitatbeginn aus einem nicht überlieferten Brief (siehe oben)., es war mir gestern Abend mit dem besten Willen unmöglich, zum Rasiermesser zu greifen...“ Schließen Sie daraus auf die Gemüthlichkeit unseres Verkehrs und meiner Stimmung.

Und nun leben Sie wohl, liebe Frau Doctor. Ich füge den Zeilen meine besten Wünsche bei und erhoffe von einem gütigen Schicksal, daß es Ihnen und Ihrem Herrn Gemahl sehr sehr gut gehen möge.

Seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem Ihnen treu ergebenen
Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Paris
    12. März 1899 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    Paris
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Hamburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
336-339
Briefnummer:
152
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Beate Heine, 12.3.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

07.03.2024 18:48