Kennung: 828

München, 21. März 1905 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Bierbaum, Otto Julius

Koautoren*in

  • Bierbaum, Gemma

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

OJB
MÜNCHEN 38
WOTANSTR. 44
TELEFON-NUMMER 10164.


21.3.5.


Lieber Herr Wedekind! Als mich dieser Tage der Inhaber des Wiener VerlagsFritz Freund, Schriftsteller und Verleger in Wien (IX, Kolingasse 3), war der Inhaber des Wiener Verlags Fritz Freund (Wien IX, Garelligasse 2) [vgl. Lehmanns Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger für Wien 1905, Teil VII, S. 308], den er 1903 von Oscar Friedmann (dem Bruder von Egon Friedell) übernommen hatte. Wedekind hat im Vorjahr bereits brieflichen Kontakt mit dem Verleger gehabt [vgl. Wedekind an Fritz Freund, 5.6.1904] und am 5.6.1904 seinen Brief an den „Wiener Verlag“ [Tb] notiert. Herr Fritz Freund besuchte, erzählte er mir, daß er sich vergebens an CassiererSchreibversehen, statt: Cassirer. in Berlin mit dem Anerbieten gewandt habe, die in Deutschland verboteneWedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ (1903) wurde am 14.7.1904 in Berlin beschlagnahmt: „Auf Beschluß des Amtsgerichts Berlin ist am 14. d. M. die Beschlagnahme der Buchausgabe des Trauerspiels ‚Die Büchse der Pandora‘ von Frank Wedekind (Verlag von Bruno Cassirer, Berlin) erfolgt.“ [Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 71, Nr. 164, 18.7.1904, S. 6145] Wedekind wurde dazu in München vorgeladen, wie er am 4.8.1904 notierte: „Vorladung auf heute in 14 Tagen wegen Verbreitung Unzüchtiger Schriften“ [Tb]; das war am 18.8.1904 die „Vorverhandlung in München“ [KSA 3/II, S. 1102], nach der am 12.5.1905 vor dem Landgericht I in Berlin der Prozess gegen Wedekind und seinen Verleger Bruno Cassirer wegen Vergehens gegen §184 (‚Verbreitung unzüchtiger Schriften‘) in der Buchausgabe eröffnet wurde und sich über drei Instanzen hinzog [vgl. KSA 3/II, S. 1153-1181]. In der Wiener Presse war die Zensurmaßname publik gemacht worden: „Der Oberstaatsanwalt am Landgerichte I in Berlin hat gegen den Verleger Bruno Kassirer sowie gegen den Verfasser der Komödie ‚Die Büchse der Pandora‘, Frank Wedekind, die Anklage nach § 184 des Strafgesetzes wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften erhoben. Die Anklage spricht dem Werke jegliche literarische Qualität ab und erklärt es als pornographische Schmutzliteratur. (Das Stück ist bereits auf mehreren reichsdeutschen Bühnen, unter anderen in Nürnberg, aufgeführt worden. Die Nachricht von dem bevorstehenden Prozesse wird in literarischen Kreisen großes Aufsehen machen.)“ [Neues Wiener Tagblatt, Jg. 38, Nr. 284, 13.10.1904, S. 13] Büchse der Pandora zu übernehmen und von Wien aus zu vertreiben. Ich nehme an, daß die Ablehnung dieses Vorschlages nicht in Ihrem Sinne ist, und teile es Ihnen deshalb mit. Der Wiener Verlag hat, wie Sie wol | wissen, schon ein paar derartige Geschäfte gemacht, die auch den Autoren gut bekommen sind. So hat er von SchnitzlersReigenArthur Schnitzler hatte von „Reigen“ (entstanden 1896/97), da sein Verleger Bedenken hatte, die Szenenfolge im S. Fischer Verlag in Berlin als Buch zu veröffentlichen, im Jahr 1900 auf eigene Kosten einen Privatdruck in einer Auflage von 200 Exemplaren „als unverkäufliches Manuscript“ herstellen lassen; die Erstausgabe des „Reigen“ erschien 1903 im Wiener Verlag und „erregte [...] außerordentliches Aufsehen: in acht Monaten wurden 14000 Exemplare verkauft.“ [Thomas Koebner: Arthur Schnitzler. Reigen. Stuttgart 1997, S. 11f.] Felix Salten schrieb zu der Ausgabe im Wiener Verlag: „Von den Büchern, die Arthur Schnitzler geschrieben hat, ist dem ‚Reigen‘ der größte äußere Erfolg zuteil geworden. [...] In acht Monaten hat diese Dialogreihe zehn Auflagen erlebt.“ [Felix Salten: Arthur Schnitzler und sein „Reigen“. In: Die Zeit, Jg. 2, Nr. 398, 7.11.1903, Morgenblatt, S. 1] Sie war in Deutschland verboten: „Durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts I Berlin [...] vom 31. Januar 1905 ist die Unbrauchbarmachung des Buches: ‚Reigen‘ von Arthur Schnitzler auf Grund des § 184 [...] angeordnet. [...] Berlin, den 9. Februar 1905. Staatsanwaltschaft I.“ [Verbotene Druckschriften. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 72, Nr. 38, 15.2.1905, S. 1584] 30.000, von Kahlenbergs NixchenDer Briefroman „Nixchen: Ein Beitrag zur Psychologie der höheren Tochter“ (1899) von Helene von Monbart (Pseudonym: Hans von Kahlenberg) lag 1904 im 12. bis 14. Tausend im Wiener Verlag vor; im Sommer 1905 war im Wiener Verlag das 91. bis 95. Tausend angekündigt [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 72, Nr. 178, 28.7.1905, S. 6715]. Der ebenfalls wegen Vergehens gegen §184 in Deutschland verbotene Roman hat eine Zensurgeschichte, die der von Wedekinds „Büchse der Pandora“ ähnelt: „Die Schriftstellerin Helene von Monbart hat im Jahre 1899 bei Karl Reißner in Dresden unter dem Namen Hans von Kahlenberg den Roman ‚Nixchen‘ erscheinen lassen [...]. Verfasserin und Verleger wurden von der Anklage, mit diesem Roman eine unzüchtige Schrift verbreitet zu haben, vom Landgericht I in Berlin freigesprochen. Auf die Revision des Staatsanwalts hob das Reichsgericht das Urteil auf; aber am 29. September vorigen Jahres erkannte das Landgericht abermals auf Freisprechung. Daneben aber erkannte es auf Einziehung des Romans sowie auf Unbrauchbarmachung der Platten und Formen. [...] Gegen das Urteil, soweit es auf Einziehung und Unbrauchbarmachung lautet, hatte nur die Angeklagte von Monbart Revision eingelegt, die am 8. d. M. durch Justizrat Jonas aus Berlin vertreten wurde.“ [Vom Reichsgericht. – „Nixchen.“ – Begriff der unzüchtigen Schrift. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 71, Nr. 7, 11.1.1904, S. 303] gar 70.000 Stück verkauft.

Ich füge hinzu, daß Herr Freund mir den Eindruck eines sehr verständigen Verlegers macht.

Und nun will meine Frau schreiben:


Sehr geehrter und lieber Herr Wedekind, Sie kommen ganz bestimmt zu uns am nächsten Sonnabendder 25.3.1905 (Samstag). Wedekind war vom 23. bis 31.3.1905 zu einem „Hidalla“-Gastspiel (Premiere: 25.3.1905) in Nürnberg [vgl. Tb], wo er am Intimen Theater die Hauptrolle des Karl Hetmann spielte; insofern konnte er der Einladung nicht folgen. zum Abendbrod! um 8 Uhr20 Uhr.! Wir geben eine kleine Gesellschaft und werden wir uns herzlichst freuen Sie als unser Gast zu haben! Also, schnelle Zusage! Mit den ergebenste Grüsse Ihre
Gemma B. |


Entschiedener sind Sie gewiß noch nicht zu Tisch und Tanz befohlen worden, lieber Herr Wedekind. Kommen Sie, bitte! Es werden etwa 18 Personen da sein, Damen und Herren, und, wie ich glaube, nur solche, mit denen Sie gerne zusammen sein werden. Zum Tanze sind Sie nur gezwungen, wenn Sie die Lust treibt.

Mit bestem Gruße
Ihr
Otto Julius Bierbaum

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Mischschrift (Kurrent und lateinische Schrift). Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 20 x 26 cm. Mit gedrucktem Briefkopf. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Seite 3 enthält (wie Seite 1) einen gedruckten Briefkopf (nicht wiedergegeben). Wedekind hat auf der ansonsten unbeschriebenen Rückseite des zweiten Blattes (Seite 4) mit Bleistift das Datum „21.3.5“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    21. März 1905 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 16
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Otto Julius Bierbaum, Gemma Bierbaum an Frank Wedekind, 21.3.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Überarbeitet von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

10.05.2024 21:03