Kennung: 823

München, 7. August 1901 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Bierbaum, Otto Julius

Inhalt

München, den 7. August. 1901.


Lieber Herr Bierbaum,

mit gleicher PostHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Manuskriptsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Otto Julius Bierbaum, 7.8.1901. übersende ich Ihnen in Ihre SommerfrischeOtto Julius Bierbaum verbrachte den Sommer an wechselnden Orten in der Schweiz; so hielt er sich einem Brief an Gemma Pruneti-Lotti zufolge am 10.8.1901 gerade am Rigi in der Zentralschweiz auf [vgl. Otto Julius Bierbaum: Briefe an Gemma. München 1921, S. 19], wohin Wedekind vermutlich geschrieben hat und von dort auch Antwort erhielt [vgl. Otto Julius Bierbaum an Wedekind, 19.8.1901]. das druckfertige ManuscriptWedekind hat sein Lied „Ilse“ [KSA 1/III, S. 45f.], das 1901 „auf umfangreichen Repertoirelisten Wedekinds“ [KSA 1/IV, S. 911] zur Vorbereitung der Tournee der Elf Scharfrichter (siehe unten) auftaucht und durch den Vortrag von Marya Delvard seit der Eröffnungsvorstellung der Elf Scharfrichter am 13.4.1901 erfolgreich war [vgl. KSA 1/IV, S. 913], Otto Julius Bierbaum für eine Publikation im Insel-Verlag (siehe unten) angeboten. Ein Manuskript ist überliefert in einer „Reinschrift aller drei Strophen des Liedes im 6/4-Takt und in der Tonart D-Dur“ [KSA 1/IV, S. 905], deren „äußere Gestaltung [...] auf ein Publikationsvorhaben“ [KSA 1/IV, S. 906] vermutlich im Insel-Verlag schließen lässt, außerdem in einer weiteren „Reinschrift aller drei Strophen [...] in der Tonart D-Dur und im 3/4-Takt; sie überliefert zudem eine auskomponierte Klavierbegleitung“, was „die Vermutung erhärtet, daß es sich um die Druckvorlage für das geplante, aber nicht realisierte Publikationsvorhaben im Insel-Verlag handeln könnte.“ [KSA 1/IV, S. 906] Das Lied ist im Erstdruck noch 1901 unter dem Titel „Ilse. Text und Musik von Frank Wedekind“ in der Sammlung „Brettl-Lieder von Frank Wedekind“ (Nr. 1) im Harmonie-Verlag in Berlin erschienen [vgl. KSA 1/IV, S. 906]; weitere vier Lieder (Nr. 2: „Brigitte B.“, Nr. 3: „Das Goldstück“, Nr. 4: „Die Sieben Heller“, Nr. 5: „Mein Lieschen“) wurden dort gleichzeitig publiziert. der „Ilse“. und zwar 4 Blätter, für zwei Ausgaben bestimmt, je zwei FürSchreibversehen, statt: für. höhere und für tiefere Stimme, das eine Blatt mit Guitarren- das andere mit Klavierbegleitung. Für die absolute Richtigkeit der Niederschrift garantiert die Redaction Weinhöppels, der mir auch gerne | bei der Correctur behülflich sein will. Ich würde Ihnen nun mit Leichtigkeit alle 8 oder 10 Tage ein derartiges Manuscript liefern können – vorausgesetzt, daß ich Ihnen damit nicht ungelegen komme, daß Sie noch die Absicht haben, meine Lieder im InselverlagDer am 1.10.1901 mit Rudolf von Poellnitz als Geschäftsführer gegründete Insel-Verlag in Leipzig (Lindenstraße 20) [vgl. Leipziger Adreß-Buch für 1902, Teil I, S. 459] ging aus der von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder herausgegebenen bibliophilen Monatsschrift „Die Insel“ hervor. Wedekind hatte wohl für diesen demnächst existierenden Verlag eine handschriftliche Sammlung „Brettl Lieder von Wedekind“ angelegt, wobei die „Anlage der Sammlung zur Vorbereitung für den Druck der Lieder“ diente, wie „die Korrespondenz Wedekinds [...] mit Otto Julius Bierbaum“ nahelegt, „mit dem er über Publikationsmöglichkeiten von Liedern im Insel-Verlag sich austauschte [...]. Zu den für den sofortigen Druck angebotenen Liedern gehörten ‚Ilse‘ und ‚Gethsemane‘ (‚Das Opfer‘). Die Drucklegung der Lieder im Insel-Verlag kam allerdings nicht zustande.“ [KSA 1/IV, S. 318] erscheinen zu lassen. Sollten sich Ihre Dispositionen geändert haben, so seien Sie überzeugt, daß ich Ihnen das im Anbetracht der Veränderung aller irdischen Dinge nicht übel nehmen würde. Ich muß das um so mehr betonen, da ich genötigt bin, an die Herausgabe der Lieder eine Bedingung zu knüpfen. Ich habe im Laufe dieses Sommers zwei schwere pekuniäre Rückschläge | erlitten. Der eine war der Ausfall der AufführungEmil Meßthaler, der vom 15.6.1901 bis 15.8.1901 als Direktor am Neuen Theater in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1901, S. 461] gastierte, hatte dort die Uraufführung des „Marquis von Keith“ geplant, das Vorhaben aber schließlich nicht realisiert. meines Marquis von Keith in Berlin; der andere war der gänzliche pekuniäre Mißerfolg der Scharfrichter-TournéeWedekind war gerade von der Tournee der Elf Scharfrichter vom 19.7.1901 bis 3.8.1901 zurück, die in Cannstatt bei Stuttgart begonnen hatte (vom 20. bis 24.7.1901 im Wilhelma-Theater) [vgl. Cannstatter Zeitung, Jg. 61, Nr. 171, 24.7.1901, 1. Blatt, S. 3], dann nach Darmstadt führte (vom 26. bis 30.7.1901 im Spielhaus der Künstlerkolonie) [vgl. Darmstädter Zeitung, Jg. 125, Nr. 348, 27.7.1901, Nachmittags-Blatt, S. 1497; Nr. 350, 29.7.1901, Nachmittags-Blatt, S. 1506], anschließend nach Kreuznach (heute: Bad Kreuznach, am 31.7.1901 im Kurtheater) [vgl. KSA 1/IV, S. 1269] und zuletzt in den mondänen Badeort Ems (heute: Bad Ems); finanziell war die Tournee des Ensembles, dessen Mitglied Wedekind war, offenbar weniger erfolgreich gewesen, als erhofft., die mit einem Deficit für jeden der Theilnehmer endete. Auf Anfang Oktober habe ich ein sehr vortheilhaftes EngagementWedekind hatte mit José Ferenczy, Direktor des Central-Theaters in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 255], der ein literarisches Kabarett plante, das Martin Zickel initiiert hatte [vgl. Wedekind an Martin Zickel, 20.5.1901], einen Vertrag für das Kabarett-Projekt im Herbst geschlossen, den er dann bald zu lösen suchte [vgl. Wedekind an Martin Zickel, 21.9.1901]. Er wurde vertragsbrüchig und trat das Engagement nicht an. mit dem Central-Theater in Berlin abgeschlossen, aber momentan bin ich in Folge obiger Ereignisse aller Mittel entblößt. Ich halte es deshalb nicht für unbillig wenn ich an die Herausgabe meiner – wenigstens der bekannteren – Lieder dieselbe Bedingung knüpfe, die Weinhöppel mit seinem Verlegerwohl Wilhelm Salzer, Musikalienverleger in Leipzig (Verlagsadresse: Querstraße 13) [vgl. Leipziger Adreß-Buch für 1902, Teil I, S. 888], der Lieder von Hans Richard Weinhöppel, unter dem Pseudonym Hannes Ruch Hauskomponist und musikalischer Leiter der Elf Scharfrichter, im neu gegründeten Scharfrichter-Verlag in München verlegte, allerdings erst im Jahr darauf. 1901 waren noch „keine Kompositionen aus dem Repertoire der ‚Elf Scharfrichter‘ im gleichnamigen Verlag erschienen. Im April 1902 übernahm der Leipziger Musikverleger Wilhelm Salzer die Leitung der ‚Elf Scharfrichter‘ von Marc Henry und leitete damit vermutlich die Publikationen des Scharfrichter-Verlages ein. Im Herbst 1902 übernahm der Verleger Friedrich Hofmeister den Scharfrichter-Verlag von Salzer in Kommission. Im Oktober 1902 eröffneten die ‚Kompositionen von Hannes Ruch‘ das Verlagsprogramm im Scharfrichter-Verlag, der überwiegend Werke der Mitglieder der ‚Elf Scharfrichter‘ verlegte. Gedruckt lagen die ‚Balladen von Frank Wedekind‘, vier Lieder in Separatdrucken gleicher Aufmachung, spätestens im Frühjahr 1903 im Scharfrichter-Verlag vor“ [KSA 1/III, S. 332]. hat, und die mir vielleicht auch ein anderer | Musikverlag zugestehen würde, nämlich 100 Mark Vorschuß bei Ablieferung eines jeden Manuscriptes. Sollte diese Bedingung momentan Ihre Kräfte übersteigen, so brauchte sie ja vielleicht nur für die nächsten 4 oder 5 Lieder eingehalten zu werden. Aber augenblicklich ist die Not bei mir wirklich groß, so daß ich ohne sofortigen Ertrag nicht gut arbeiten kann. Anderseits sag ich mir, daß jetzt gerade der günstigste Augenblick zur Herausgabe der Lieder ist, da sie dann bei Beginn der SaisonDie Presse hatte den Beginn der nächsten Saison der Elf Scharfrichter für den 1.10.1901 angekündigt: „Wie bereits berichtet, beginnt die Wintersaison der Scharfrichter am 1. Oktober.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 328, 18.7.1901, Vorabendblatt, S. 2] sofort auf den Markt geworfen werden können. Übrigens würde Ihnen das eine, im Text noch nicht gedruckte LiedWedekinds hier „Gethsemane“ betiteltes Lied „Das Opfer“ [KSA 1/III, S. 276] (späterer Titel: „Mein Mädel“), das er Otto Julius Bierbaum wie sein Lied „Ilse“ (siehe oben) für eine Publikation im Insel-Verlag einzureichen anbot. „Ein Druck des Liedes durch die ‚Insel‘ kam [...] nicht zustande.“ [KSA 1/IV, S. 548f.] Es ist mit Noten in vier handschriftlichen Fassungen erhalten [vgl. KSA 1/IV, S. 549-551]Gethsemane“ mit der Musik natürlich auch für | die „Insel“ zur Verfügung stehen.

Bei alledem vergesse ich keineswegs die M. 500, die ich von Herrn Heymel als VorschußWedekind hat von Alfred Walter Heymel, Mitherausgeber der Zeitschrift „Die Insel“, aus welcher der Insel-Verlag hervorging, dessen Gesellschafter er war (vom Stammkapital von 70.000 Mark hielt er 50.000 Mark) [vgl. Kuhbandner 2008, S. 169], bereits früher Vorschüsse für den Vorabdruck des „Marquis von Keith“ in der „Insel“ entgegengenommen [vgl. Wedekind an Alfred Walter Heymel, 23.2.1900 und 7.4.1900] und nun offenbar 500 Mark an Vorschusshonorar für einen Neudruck von „Frühlings Erwachen“ (siehe unten) erhalten, das dann von dessen Rechtsanwalt zurückgefordert wurde [vgl. Otto Julius Bierbaum an Wedekind, 19.8.1901]. auf „Frühlings-Erwachen“ erhalten habe. Ein druckfertiges, derart revidiertes Exemplar von Fr. Erw., daß ein Conflict mit der Behörde thunlichst ausgeschlossen wäre, kann ich Ihnen jederzeit in wenigen Tagen herstellen. Ich möchte mich aber auch hierin durchaus auf den Standpunkt der Billigkeit stellen. Wenn Ihnen oder Herrn Heymel die Herausgabe des BuchesEine Neuauflage von „Frühlings Erwachen“ (1891 Erstausgabe bei Jean Groß in Zürich, 2. Auflage 1894 bei Caesar Schmidt) im Insel-Verlag kam nicht zustande; eine 3. Auflage erschien erst 1903 im Albert Langen Verlag in München [vgl. KSA 2, S. 772]. augenblicklich nicht gelegen wäre, dann würde ich mich | gerne gedulden und wir könnte die M. 500 bei Inselhonoraren oder später bei dem Ertrag meiner Lieder in Verrechnung bringen.

Ich fürchte lieber Herr Bierbaum, daß Ihnen diese geschäftlichen Erörterungen in Ihrer Weltabgeschiedenheit nicht sehr gelegen kommen. Ich würde mich auch scheuen, Sie damit zu behelligen, wenn mich die Verhältnisse nicht augenblicklich dazu nötigten. Darf ich Sie um eine baldige Antwort bitten?

Mit den herzlichsten Grüßen und den besten Wünschen für Ihr Wohlergehen

Ihr
Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 1 Doppelblatt und 1 Einzelblatt. Seitenmaß 12,5 x 20 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    7. August 1901 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Rigi
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Deutsches Literaturarchiv Marbach

Schillerhöhe 8-10
71672 Marbach am Neckar
Deutschland

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
A: Schröder, Rudolf Alexander
Signatur des Dokuments:
A: Schröder, Briefe anderer 99.12
Standort:
Deutsches Literaturarchiv Marbach (Marbach am Neckar)

Danksagung

Wir danken dem Deutschen Literaturarchiv Marbach für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Otto Julius Bierbaum, 7.8.1901. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Überarbeitet von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

14.05.2024 15:19