Kennung: 660

München, 3. April 1914 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Harden, Maximilian

Inhalt

[1. Briefentwurf:]


Lieber hochverehrter Herr Harden!

Wollen Sie bitte nicht verargen, daß ich in Berlin keine Gelegenheit fand, Sie anzurufen. Vor unserem DurchfallDas Berliner „Simson“-Gastspiel am 26. und 30.3.1914 am Lessingtheater (Frank Wedekind spielte den Og von Basan, Tilly Wedekind die Delila) fand schlechte Kritiken [vgl. KSA 7/II, S. 1358f.]. So urteilte Fritz Engel über Wedekinds Darstellung: „er spielt schlecht.“ [Wedekind-Gastspiel. In: Berliner Tageblatt, Jg. 43, Nr. 157, 27.3.1914, Morgen-Ausgabe, S. (2)] fesselte mich die Arbeit. Daß ich nachher nicht dazu kam lag daran, daß wir einen Abend mit Reinhardt und den anderen mit Grunwald zusammenwaren, ein Umworbensein, daß/s/ ich (zum größten Theil) Ihnen verdanke. Reinhardt erzählte wie nach Ihrem Vortrag im Esplanade die Aufführungen von Wetterleuchten sofort ausverkauft waren. und welch gewaltigen Einfluß die Besprechungen der Zukunft auf den Besuch des Shakespearezyklus haben Grunwald gab nach den ersten Worten seiner zwanzigjährigen Verehrung für Ihr Wirken Ausdruck | und sprach davon, seine Bühne künftig in Ihrem Geiste zu leiten. Barnowsky empfindet es schmerzlich, daß Sie seinen wiederholten Einladungen zum Besuch seiner Vorstellungen noch nicht folgen wollten.

Es kann Sie daher nicht überraschen, verehrter Herr Harden, daß ich in Ihnen von heute ab den Leiter der deutschen Theater-Geschichte sehe. Ich sehe etwas erfüllt was vor 25 Jahren bei Gründung der Freien Bühne von Ihnen begonnen wurde, und was Sie dann kurzer Hand abschüttelten als Wege eingeschlagen wurden, die Ihnen nicht zusagten. Zu Ihrer heutigen Machtstellung beglückwünsche ich die Deutsche Bühne von ganzem Herzen.

Erlauben Sie noch, einen Eindruck zu erwähnen, den ich weder Reinhardt | noch Barnowsky gegenüber aussprechen/e/ würde. Es tut Ihnen weh daß ich die beiden in einem Athem nenne. Barnowsky scheint mir aber so wenig eine Konkurrenz für Reinhardt zu sein wie Georg Hirschfeld eine für Gerhart Hauptmann war. Barnowsky scheint mir das Ausrufungszeichen hinter dem Genie Max Reinhardt zu sein. Er bestätigt Barnowsky bestätigt, stützt und fu untermauert Reinhardt im leichteren Publikum ‒ natürlich ohne es zu wollen sondern aus brennender Eifersucht. Das Lessingtheater könnte für Reinhardt deshalb wol kaum in besseren Händen sein. Reinhardt kann dieser Überzeugung nicht beipflichten, solange eine Theater-Kasse eine Kasse bleibt und das hat ja auch sein gutes.

Diese Eindrücke mußte ich Ihnen mitteilen | in der Hoffnung, daß das Erkanntwerden Ihres Weges Errungenschaft Sie bestärkt und ermutigt. Sie haben sich eine gewaltige verantwortungsvolle Aufgabe geschaffen. Darf ich das laut verkünden? Ich warte auf ein Stichwort. sehne mich danach. Wenn ich das nicht öffentlich ausspreche hindert mich nur die Besorgnis Ihre Kreise zu stören.

Mit herzlichem Gruß
Ihr ergebener
FrW.


[2. Abgesandter Brief:]


Lieber hochverehrter Herr Harden!

Wollen Sie bitte nicht verargen, daß ich in BerlinWedekind fuhr am 22.3.1914 zu seinem „Simson“-Gastspiel am 26. und 30.3.1914 im Lessingtheater nach Berlin und reiste am 31.3.1914 zurück nach München [vgl. Tb]. keine Gelegenheit fand, Sie anzurufen. Vor unserem Durchfall fesselte mich die Arbeit. Daß ich nachher nicht dazu kam lag daran, daß wir einen Abend mit Reinhardtam 28.3.1914, ein Samstagabend, den Wedekind mit Max Reinhardt verbracht hat, außerdem mit dessen Frau, der Schauspielerin Else Heims, mit dem Dramaturgen Arthur Kahane und dessen Freundin Paula Oswald sowie mit Erich Reiß (Verleger von Maximilian Harden, der auch die „Blätter des Deutschen Theaters“ verlegte): „Mit Reinhardt Heims Kahane u. Frau und Reiß im Elite Hotel“ [Tb]. und den andern mit Grunwaldam 30.3.1914, ein Montagabend, den Wedekind unter anderen mit Willy Grunwald, Direktionsmitglied der Sozietät Deutsches Künstlertheater in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1914, S. 300], verbracht hat: „Elite Hotel mit Grunwald“ [Tb]. zusammenwaren, ein Umworbensein, das ich Ihnen verdanke. Reinhardt erzählte, wie nach Ihrem VortragMaximilian Harden hatte am 25.1.1914 im Hotel Esplanade in Berlin einen Vortrag über Berliner Theater gehalten, von der Presse angekündigt: „Maximilian Harden wird am Sonntag, 25. Januar, nachmittags 5 Uhr, im großen Konzertsaale des Hotels Esplanade zum Besten des Vereins Seemannserholungsheim einen Vortrag über ‚Die Berliner Theater‘ halten.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 43, Nr. 14, 9.1.1914, Morgen-Ausgabe, S. (3)] im Esplanade die Aufführungen von WetterleuchtenAugust Strindbergs Kammerspiel „Wetterleuchten“ (1907) hatte unter der Regie von Max Reinhardt am 10.12.1913 an den Kammerspielen des Deutschen Theaters zu Berlin Premiere und erlebte 100 Aufführungen. Wedekind hat die Inszenierung am 13.1.1914 gesehen: „Abend Wetterleuchten von Strindberg.“ [Tb] sofort ausverkauft waren und welch gewaltigen Einfluß die BesprechungenMaximilian Harden hat dem großen Shakespeare-Zyklus vom 14.11.1913 bis 13.3.1914 unter der Regie von Max Reinhardt am Deutschen Theater zu Berlin in drei aufeinander folgenden „Zukunft“-Heften ausführliche Besprechungen in Leitartikeln gewidmet [vgl. Theater. Shakespeare-Cyclus. In: Die Zukunft, Jg. 22, Nr. 20, 14.2.1914, S. 205-229; Theater. II. König Lear. In: Die Zukunft, Jg. 22, Nr. 21, 14.2.1914, S. 239-251; Theater. III. Romeo und Julia. In: Die Zukunft, Jg. 22, Nr. 22, 28.2.1914, S. 273-293]. Wedekind hat am 8.2.1914 zumindest „Romeo und Julia“ gesehen [vgl. Tb]. | der Zukunft auf den Besuch des Shakespeare-Zyklus haben. Grunwald gab nach den ersten Worten seiner zwanzigjährigen Verehrung für Ihr Wirken Ausdruck und sprach davon, seine Bühne in Ihrem Geiste zu leiten. Barnowsky empfindet es schmerzlich, daß Sie seinen wiederholten Einladungen zum Besuch seiner Vorstellungen noch nicht folgen wollten.

Es kann Sie daher nicht überraschen, verehrter Herr Harden, daß ich in Ihnen von heute ab den Leiter der deutschen Theater-Geschichte sehe. Ich sehe etwas erfüllt, was vor fünfundzwanzig Jahren bei der Gründung der | Freien BühneMaximilian Harden und Theodor Wolff hatten seinerzeit in Berlin die Gründung des Theatervereins Freie Bühne initiiert, der in Umgehung der Zensur geschlossene Aufführungen moderner Stücke veranstaltete; auf die Freie Bühne ist der Durchbruch des Naturalismus und der Aufstieg Berlins als Theaterhauptstadt zurückzuführen. Sie hatten zur Vereinsgründung am 5.3.1889 in der Berliner Weinstube Kempinski eingeladen: Otto Brahm, Paul Schlenther, Heinrich und Julius Hart, Julius Stettenheim, Samuel Fischer, Paul Jonas, Georg Stockhausen [vgl. Schanze 1978, S. 275]. Maximilian Harden, der den Verein (am 5.4.1889 Eintrag in das Vereinsregister) ebenso wie Theodor Wolff bald wieder verließ, begründete seinen Austritt mit der „Vereinsmeierei“, der Reklamesucht, mit der „auf Mitgliederfang im großen Stil“ gegangen werde, und dem „Niveau einer Provinzschmiere“, mit dem ausgezeichnete Stücke präsentiert würden, und sprach abschließend eine Mahnung aus: „Und hüte dich vor Clique und Claque – Freie Bühne!“ [Maximilian Harden: Die Freie Bühne in Berlin. In: Das Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes, Jg. 59, Nr. 14, 5.4.1890, S. 209-212] von Ihnen begonnen wurde und was Sie dann kurzer Hand abschüttelten, als Wege eingeschlagen wurden, die Ihnen nicht zusagten. Zu Ihrer heutigen Machtstellung beglückwünsche ich die Deutsche Bühne von ganzem Herzen.

Erlauben Sie, noch einen Eindruck zu erwähnen, den ich weder Reinhardt noch BarnowskyMax Reinhardt, Direktor des Deutschen Theaters zu Berlin und der Kammerspiele des Deutschen Theaters [vgl. Neuer Theater-Almanach 1914, S. 304, 306], und Victor Barnowsky, Direktor des Berliner Lessingtheaters [vgl. Neuer Theater-Almanach 1914, S. 309]. gegenüber aussprechen würde. Es tut Ihnen weh, daß ich die beiden in einem Athem nenne. Barnowsky scheint mir aber so wenig ein Konkurrent für Reinhardt, wie Georg Hirschfeld einer für Gerhard/t/ Hauptmann war. Barnowsky scheint mir das Ausrufungszeichen hinter dem Genie Reinhardt | zu sein. Barnowsky bestätigt, stützt, untermauert Max Reinhardt gegenüber all denen die Reinhardt für eine Parteisache halten ‒ natürlich ohne es zu wollen sondern aus brennender Eifersucht. Das Lessingtheater könnte für Reinhardt deshalb wohl kaum in besseren Händen sein. Selbstverständlich kann Reinhardt dieser Überzeugung nicht beipflichten solange Konkurrenz Konkurrenz bleibt und das hat ja auch sein gutes.

Diese Eindrücke mußte ich Ihnen mittheilen in der Hoffnung, daß das Erkanntwerden Ihrer Errungenschaft, Sie stärkt und ermutigt. Sie haben sich eine gewaltige | verantwortungsvolle Aufgabe geschaffen. Wenn ich das nicht öffentlich ausspreche, so hindert mich nur die Besorgnis, Ihre Kreise dadurch zu stören.

Mit herzlichem Gruß
Ihr ergebener
Frank Wedekind.


München 3. April 1914.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 7 Blatt, davon 9 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Briefentwurf: Bleistift. Abgesandter Brief: Feder. Tinte.
Schriftträger:
1. Briefentwurf: Papier. Ringbuchblätter. 9 x 14,5 cm. 4 Blatt, 4 Seiten beschrieben. Gelocht. 2. Abgesandter Brief: Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14 x 18 cm. 3 Blatt, 5 Seiten beschrieben.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Briefentwurf befindet sich in der Aargauer Kantonsbibliothek [Wedekind-Archiv B, Nr. 171], der wir für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe danken. Die Ringbuchblätter, auf denen er notiert ist, sind oben rechts jeweils mit den Ziffern „1“, „2“, „3“ und „4“ paginiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    3. April 1914 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus V. Frank Wedekind, Thomas Mann, Heinrich Mann – Briefwechsel mit Maximilian Harden

Herausgeber:
Ariane Martin
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag Jürgen Häusser
Jahrgang:
1996
Seitenangabe:
110-111
Briefnummer:
77
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Bundesarchiv Koblenz

Potsdamer Straße 1
56075 Koblenz
Deutschland

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Maximilian Harden
Signatur des Dokuments:
Nr. 109.
Standort:
Bundesarchiv Koblenz (Koblenz)

Danksagung

Wir danken dem Bundesarchiv Koblenz für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Maximilian Harden, 3.4.1914. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

17.01.2024 16:39