[1. Briefentwurf:]
Lieber hochverehrter Herr Harden!
Wollen Sie bitte nicht verargen, daß ich in Berlin keine
Gelegenheit fand, Sie anzurufen. Vor unserem DurchfallDas Berliner „Simson“-Gastspiel am 26. und 30.3.1914 am Lessingtheater (Frank Wedekind spielte den Og von Basan, Tilly Wedekind die Delila) fand schlechte Kritiken [vgl. KSA 7/II, S. 1358f.]. So urteilte Fritz Engel über Wedekinds Darstellung: „er spielt schlecht.“ [Wedekind-Gastspiel. In: Berliner Tageblatt, Jg. 43, Nr. 157, 27.3.1914, Morgen-Ausgabe, S. (2)] fesselte mich die
Arbeit. Daß ich nachher nicht dazu kam lag daran, daß wir einen Abend mit
Reinhardt und den anderen mit Grunwald zusammenwaren, ein Umworbensein, daß/s/
ich (zum größten Theil) Ihnen verdanke. Reinhardt erzählte wie nach Ihrem
Vortrag im Esplanade die Aufführungen von Wetterleuchten sofort ausverkauft
waren. und welch gewaltigen Einfluß die Besprechungen der Zukunft auf den
Besuch des Shakespearezyklus haben Grunwald gab nach den ersten Worten
seiner zwanzigjährigen Verehrung für Ihr Wirken Ausdruck | und sprach davon,
seine Bühne künftig in Ihrem Geiste zu leiten. Barnowsky empfindet es
schmerzlich, daß Sie seinen wiederholten Einladungen zum Besuch seiner Vorstellungen
noch nicht folgen wollten.
Es kann Sie daher nicht überraschen, verehrter Herr Harden,
daß ich in Ihnen von heute ab den Leiter der deutschen Theater-Geschichte sehe.
Ich sehe etwas erfüllt was vor 25 Jahren bei Gründung der Freien Bühne von Ihnen
begonnen wurde, und was Sie dann kurzer
Hand abschüttelten als Wege eingeschlagen wurden, die Ihnen nicht zusagten. Zu
Ihrer heutigen Machtstellung beglückwünsche ich die Deutsche Bühne von ganzem
Herzen.
Erlauben Sie noch, einen Eindruck zu erwähnen, den ich weder
Reinhardt | noch Barnowsky gegenüber aussprechen/e/ würde. Es tut
Ihnen weh daß ich die beiden in einem Athem nenne. Barnowsky scheint mir aber
so wenig eine Konkurrenz für Reinhardt zu sein wie Georg Hirschfeld
eine für Gerhart Hauptmann war. Barnowsky scheint mir das Ausrufungszeichen
hinter dem Genie Max Reinhardt zu sein. Er bestätigt Barnowsky
bestätigt, stützt und fu untermauert Reinhardt im leichteren Publikum ‒ natürlich ohne es zu
wollen sondern aus brennender Eifersucht. Das Lessingtheater könnte für
Reinhardt deshalb wol kaum in besseren Händen sein. Reinhardt kann dieser
Überzeugung nicht beipflichten, solange eine Theater-Kasse eine Kasse bleibt und das
hat ja auch sein gutes.
Diese Eindrücke mußte ich Ihnen mitteilen | in der Hoffnung,
daß das Erkanntwerden Ihres Weges Errungenschaft Sie bestärkt und ermutigt. Sie haben sich eine gewaltige
verantwortungsvolle Aufgabe geschaffen. Darf ich das laut verkünden? Ich warte auf ein Stichwort.
sehne mich danach. Wenn ich das nicht öffentlich ausspreche hindert mich
nur die Besorgnis Ihre Kreise zu stören.
Mit herzlichem Gruß
Ihr ergebener
FrW.
[2. Abgesandter Brief:]
Lieber hochverehrter Herr Harden!
Wollen Sie bitte nicht verargen, daß ich in BerlinWedekind fuhr am 22.3.1914 zu seinem „Simson“-Gastspiel am 26. und 30.3.1914 im Lessingtheater nach Berlin und reiste am 31.3.1914 zurück nach München [vgl. Tb]. keine
Gelegenheit fand, Sie anzurufen. Vor unserem Durchfall fesselte mich die
Arbeit. Daß ich nachher nicht dazu kam lag daran, daß wir einen Abend mit
Reinhardtam 28.3.1914, ein Samstagabend, den Wedekind mit Max Reinhardt verbracht hat, außerdem mit dessen Frau, der Schauspielerin Else Heims, mit dem Dramaturgen Arthur Kahane und dessen Freundin Paula Oswald sowie mit Erich Reiß (Verleger von Maximilian Harden, der auch die „Blätter des Deutschen Theaters“ verlegte): „Mit Reinhardt Heims Kahane u. Frau und Reiß im Elite Hotel“ [Tb]. und den andern mit Grunwaldam 30.3.1914, ein Montagabend, den Wedekind unter anderen mit Willy Grunwald, Direktionsmitglied der Sozietät Deutsches Künstlertheater in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1914, S. 300], verbracht hat: „Elite Hotel mit Grunwald“ [Tb]. zusammenwaren, ein Umworbensein, das ich
Ihnen verdanke. Reinhardt erzählte, wie nach Ihrem VortragMaximilian Harden hatte am 25.1.1914 im Hotel Esplanade in Berlin einen Vortrag über Berliner Theater gehalten, von der Presse angekündigt: „Maximilian Harden wird am Sonntag, 25. Januar, nachmittags 5 Uhr, im großen Konzertsaale des Hotels Esplanade zum Besten des Vereins Seemannserholungsheim einen Vortrag über ‚Die Berliner Theater‘ halten.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 43, Nr. 14, 9.1.1914, Morgen-Ausgabe, S. (3)] im Esplanade die
Aufführungen von WetterleuchtenAugust Strindbergs Kammerspiel „Wetterleuchten“ (1907) hatte unter der Regie von Max Reinhardt am 10.12.1913 an den Kammerspielen des Deutschen Theaters zu Berlin Premiere und erlebte 100 Aufführungen. Wedekind hat die Inszenierung am 13.1.1914 gesehen: „Abend Wetterleuchten von Strindberg.“ [Tb] sofort ausverkauft waren und welch gewaltigen
Einfluß die BesprechungenMaximilian Harden hat dem großen Shakespeare-Zyklus vom 14.11.1913 bis 13.3.1914 unter der Regie von Max Reinhardt am Deutschen Theater zu Berlin in drei aufeinander folgenden „Zukunft“-Heften ausführliche Besprechungen in Leitartikeln gewidmet [vgl. Theater. Shakespeare-Cyclus. In: Die Zukunft, Jg. 22, Nr. 20, 14.2.1914, S. 205-229; Theater. II. König Lear. In: Die Zukunft, Jg. 22, Nr. 21, 14.2.1914, S. 239-251; Theater. III. Romeo und Julia. In: Die Zukunft, Jg. 22, Nr. 22, 28.2.1914, S. 273-293]. Wedekind hat am 8.2.1914 zumindest „Romeo und Julia“ gesehen [vgl. Tb]. | der Zukunft auf den Besuch des Shakespeare-Zyklus
haben. Grunwald gab nach den ersten Worten seiner zwanzigjährigen Verehrung für
Ihr Wirken Ausdruck und sprach davon, seine Bühne in Ihrem Geiste zu leiten. Barnowsky
empfindet es schmerzlich, daß Sie seinen wiederholten Einladungen zum Besuch
seiner Vorstellungen noch nicht folgen wollten.
Es kann Sie daher nicht überraschen, verehrter Herr Harden,
daß ich in Ihnen von heute ab den Leiter der deutschen Theater-Geschichte sehe.
Ich sehe etwas erfüllt, was vor fünfundzwanzig Jahren bei der Gründung der | Freien
BühneMaximilian Harden und Theodor Wolff hatten seinerzeit in Berlin die Gründung des Theatervereins Freie Bühne initiiert, der in Umgehung der Zensur geschlossene Aufführungen moderner Stücke veranstaltete; auf die Freie Bühne ist der Durchbruch des Naturalismus und der Aufstieg Berlins als Theaterhauptstadt zurückzuführen. Sie hatten zur Vereinsgründung am 5.3.1889 in der Berliner Weinstube Kempinski eingeladen: Otto Brahm, Paul Schlenther, Heinrich und Julius Hart, Julius Stettenheim, Samuel Fischer, Paul Jonas, Georg Stockhausen [vgl. Schanze 1978, S. 275]. Maximilian Harden, der den Verein (am 5.4.1889 Eintrag in das Vereinsregister) ebenso wie Theodor Wolff bald wieder verließ, begründete seinen Austritt mit der „Vereinsmeierei“, der Reklamesucht, mit der „auf Mitgliederfang im großen Stil“ gegangen werde, und dem „Niveau einer Provinzschmiere“, mit dem ausgezeichnete Stücke präsentiert würden, und sprach abschließend eine Mahnung aus: „Und hüte dich vor Clique und Claque – Freie Bühne!“ [Maximilian Harden: Die Freie Bühne in Berlin. In: Das Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes, Jg. 59, Nr. 14, 5.4.1890, S. 209-212] von Ihnen begonnen wurde und was Sie dann kurzer Hand abschüttelten, als Wege
eingeschlagen wurden, die Ihnen nicht zusagten. Zu Ihrer heutigen Machtstellung
beglückwünsche ich die Deutsche Bühne von ganzem Herzen.
Erlauben Sie, noch einen Eindruck zu erwähnen, den ich weder
Reinhardt noch BarnowskyMax Reinhardt, Direktor des Deutschen Theaters zu Berlin und der Kammerspiele des Deutschen Theaters [vgl. Neuer Theater-Almanach 1914, S. 304, 306], und Victor Barnowsky, Direktor des Berliner Lessingtheaters [vgl. Neuer Theater-Almanach 1914, S. 309]. gegenüber aussprechen würde. Es tut Ihnen weh, daß ich
die beiden in einem Athem nenne. Barnowsky scheint mir aber so wenig ein
Konkurrent für Reinhardt, wie Georg Hirschfeld einer für Gerhard/t/ Hauptmann war. Barnowsky
scheint mir das Ausrufungszeichen hinter dem Genie Reinhardt | zu sein.
Barnowsky bestätigt, stützt, untermauert Max Reinhardt gegenüber all denen die
Reinhardt für eine Parteisache halten ‒
natürlich ohne es zu wollen sondern aus brennender Eifersucht. Das
Lessingtheater könnte für Reinhardt deshalb wohl kaum in besseren Händen sein.
Selbstverständlich kann Reinhardt dieser Überzeugung nicht beipflichten solange
Konkurrenz Konkurrenz bleibt und das hat ja auch sein gutes.
Diese Eindrücke mußte ich Ihnen mittheilen in der Hoffnung,
daß das Erkanntwerden Ihrer Errungenschaft, Sie stärkt und ermutigt. Sie haben
sich eine gewaltige | verantwortungsvolle Aufgabe geschaffen. Wenn ich das
nicht öffentlich ausspreche, so hindert mich nur die Besorgnis, Ihre Kreise
dadurch zu stören.
Mit herzlichem Gruß
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
München 3. April 1914.