Stein a/Rh., 5 Januar 1884.
Mein
lieber Franklin!
Ich
danke Dir aufs allerbeßteSchreibweise Olga Plümachers. für Deinen großen, interessanten Brief, und
insbesondere auch für die Mühe, die Du Dir in der Kadetten-Angelegenheit
gegeben hast. Deine Mittheilungen hierüber sind bereits an meinen Mann
abgegangen, da sie in sofern vollkommen brauchbar und genügend sind, als aus
ihnen hervorgeht, daß sich die Organisation des Lenzburger und Aarauer
Kadetten-Korps in keiner Weise von derjenigen unterscheidet, welche in
Schaffhausen bestand; die – auf das
Schaffhausener Kadetten-Wesen bezüglichen Drucksachen sind aber bereits auch an
meinen Mann abgegangen. Wenn Du nun gelegentlich in Aarau bei Sauerländer
vorsprechen willst, und | dort den Auftrag geben, sie sollen, falls ihnen
Reglemente der Aarauer K. vorlägen, zwei Ex. an mich, gegen Nachnahme
des Betrags senden, so ist mir das sehr recht – ist auch bei Sauerländer nichts
gedrucktes vorhanden, nun dann hat es weiter auch nichts auf sich. – Also
meinen beßten Dank für Deine Mühe! Und nun zu etwas kurzweiligerem.
Dein Urtheil über die Dramen Grabbes
unterschreibe ich vollständig; Du wirst Dich übrigens vielleicht erinnern, daß
ich Dir den „Faust u. Don Juan“ nicht deswegen zum Lesen gab, weil ich ihn für
etwas schönes, für eine ästhetisch werthvolle Composition erachtete, sondern
wesentlich nur als ein literarisches Curiosum. Und daß Grabbes
ungeheuerliche Trauerspiele literarische Curiosa sind, | wirst Du willig
zugeben, ebenso daß sie sich prächtig dazu eigenSchreibversehen Olga Plümachers. Staat "eigen" müsste es "eignen" heißen. , als Illustrationen einer
Schilderung des Weltschmerzes, resp. des Weltschmerzlers zu dienen. Zu
diesem Zwecke zog ich ja auch den „Faust u. Don Juan“ wieder aus der
RummelkammerSchreibweise Olga Plümachers für "Rumpelkammer" meines Gedächtnisses hervor, worin es etwa 30 Jahre geruht hatte. –
Daß Du Poesie und Jugend, und Jugendpoesie genießest und
dabei heiter und glücklich bist, freut mich recht herzlich und wünsche ich Dir
eine recht lange Reihe von Tagen und Jahre der Jugendlust. Was nun das junge
Liebesblümchen betrifft, so schweigt sich darüber beßer als es sich spricht,
oder gar schreibt. Ich danke Dir für Dein Vertrauen, und daß Du darüber zu
einer alten Frau schreiben kannst ist mir auch ein großer Trost, denn es zeigt
mir, daß das Blümlein keine gar zu verzweigten Herzwurzeln hat, | sondern eine
ziemlich oberflächenhafte Existenz ist. Und das ist gut, sehr gut.
Denn, daß so ein Liebesblümlein unter den hier vorliegenden Verhältnissen von
zu einem recht garstigen, lebenzerstörenden Unkraut heranwachsen kann,
das weißt Du selbst ganz gut. Du weißt, daß das Spiel Deines Herzens
(mehr ist‘s ja noch nicht) ein gefährliches ist. Wenn Du Dich aber „Tannhäuser“
und das junge Frauchen „Venus“ nennst, so scheint mir das nicht ganz passend.
Denn ich glaube nicht, daß Dir gerade in den Beziehungen von des
Tannhäusers und der Frau Venus Gefahren von einer Lenzburgerin drohen. Diese
jungen Damen unserer Spießbürgerkreise sind zum CharackterSchreibweise Olga Plümachers. der „Frau Venus“ zu klug;
es gehört da doch eine ganz gehörige Portion rein-menschlicher, heidnisch-olympischer
Unklugheit dazu um die Rolle |
2.
der „Frau Venus“ zu spielen. Also nicht das
fürchte ich bei der Geschichte: wohl aber ein zu starkes und zu vorzeitiges
Verpuffen von jugendlich-frischen Gefühlen und Seelenemotionen, die beßer für
eine spätere, gesundere Leidenschaft aufgespart blieben. Eine große zielbewußte
Leidenschaft hebt den Menschen, wenn sie zur richtigen Zeit kommt,
wenn der Mensch reif ist und gerüstet zum Kampf und Sturm; kommt sie zu früh,
so vernichtet sie. Romeo geht mit sammt der Julia unter, weil er 18
Jahre und sie 14 Jahre alt sind; wäre er ein Mann von 30 und sie eine Dame von
22 Jahren gewesen, so hätte ihre Leidenschaft auf breiterem
Seelenfundament geruht, sie hätten Zeit gefunden, sie hätten warten und die
Umstände allmälichSchreibversehen Olga Plümachers. modeln können und wären endlich in den ersehnten | Hafen
der Ehe eingelaufen.
Leidenschäftchen, künstlich
aufgepäppelte Gefühlchen, mit etwas Sinnlichkeit, etwas Poesie und etwas
Langeweile großgezogen sind immer ein Seelenschaden, ob sie mit 18 oder mit 40
Jahren auftreten. Also hüte Dich mein lieber Junge, vor dem Hätscheln deiner
jetzigen Empfindungen und gehe nicht der Liebe, aber dem Liebeln aus dem
Wege! – Und nun die Gedichte. Was den Inhalt des ersten betrifft so gefällt es
mir in Bezug hierauf recht gut; das zweite ist minder. Daß das
eine mit Ach! das andere mit O! anhebt will mir nicht recht behagen, es ist
eine sind dies zu wohlfeile Silben und muthetn daher immer
leicht humoristisch an. Nun sollen aber die Gedichte Sonette
sein; die Sonette | haben aber immer 11 Silben in einer Zeile:
v
- - -
v - v
- v - -
„Heut
lern ich Dir die Regeln der Sonette,
v - -
Versuch
gleich eins, gewiß es soll gelingen
v - -
Vier
Zeilen je mit vieren zu verschlingen
v -
Und dann
noch sechse, daß man vierzehn hätte<">
u.s.w.
Du aber hast im ersten Gedicht 11, 10, 10, 11.; 10, 11, 11, 10;. und in
der zweiten Folge abwechselnd 11 u. 10. Im zweiten Gedicht nun hast Du gar nur
immer 8 L Silben. Das ist kein Sonett. Auch soll sich reimen 1 auf 4, 5
und 8; 2 auf 3, 6 u. 7, und 9 auf 11 und 13, sowie 10 auf 12 u. 14.
Ich denke jede Poetik wird das hier
gesagte bestättigenSchreibversehen Olga Plümachers. – warum ich prosaische Tante aber in dem Punct so kritisch
bin? Ja, siehst Du mein lieber Neffe, es war eine Zeit, wo ich auf Sonette
begierig, wo ich auch Silben zählte und zwar ängstlicher als
Du, weil | ich nicht viel zu sagen hatte. Die Form war bei
mir alles, der Inhalt nichts; bei Dir hat Dein jung‘ Herz die Form gesprengt,
oder – um à la Sportsman zu sprechen: Deine Gefühle haben das unbequeme
Sonetten-Gebiß zwischen die Zähne genommen und sind durchgegangen. Deine
sogenanteSchreibversehen Olga Plümachers. Sonette repräsentiren Paegasus als FolenFür "Pegasus als Fohlen". ! Das Sonett ist eine
der schwersten Formen in der deutschen Sprache; in keiner Andern läuft
man so Gefahr, daß nicht man dichtet, sondern daß die ReihmeSchreibversehen Olga Plümachers. einem
den Inhalt aufdrängen*), {*daß die Sprache für einen dichtet. wie in dieser.
Lorm hat formvollendete S. auch Herweg hat schöne, und die „geharnischten“
von Rückert werden Dir bekannt sein. – Richtig Lorm! Er heißt Dr.
Heinrich Landesmann, unter welchem Namen er phil. Kritiken |
3.
schreibt, aus
denen hervorgeht, daß er sich zum erkenntnißtheoretischen Idealismus
bekennt: d.h. er nimmt an, daß es kein positives Wissen geben kann,
weil all‘ unser sogenanntes Wissen über die Welt und ihr Wesen nur unsere
Vorstellungen sind. Gewiß ist uns nur unser eigenVorschlag einer Lesart: "eigner" . jeweiliger
Bewußtseinsinhalt; ob der Welt, die wir vorstellen, wirklich ein Sein
entspricht, unabhängig von unserer Vorstellung, kann nie und nimmer
festgestellt werden, weil der Gedanke nie aus der Haut des Gedankens fahren
kann; vielleicht ist die „Welt“ und Himmel und Höll und vor allem ausVorschlag einer Lesart: "auch". die Vielheit
nur ein Traum der Gottheit, der ewigen Eins. Soll man Landesmann einen Namen
geben, so wäre er als Neu-Kantianer zu bezeichnen, aber eineSchreibversehen Olga Plümachers statt "ein". feinerer,
gedankenvollerer, poetisch- | sinnvollerer als der zahlreiche Troß der jetzt
auf den Kathedern das große Wort führenden Neu-Kantianer.
Seine Kantische
poetische Weltanschauung und seine philosophische sind ein- und -dieselben, nur
werden sie verschieden dargestellt: entweder im dichterischen Bilde oder
im nüchternen Begriffssystem. –
Und nun gelegentlich „Tannhäuser“
noch eins: wenn Du in Aarau zu Sauerländer gehst, der doch wohl auch
Kunsthandel hat, so frage nach dem Gabriel Max-Album, d.h. einer Reihe
Photographien nach Gemälden besagten originellen, sehr gedankentiefen jungen
Münchener Malers.
Und dann suche Dir das Bild „Tannhäuser“
heraus und sehe es gut an, besonders auch die rechte, auf dem
Treppengeländer liegende Hand des Tannhäusers. Ich bin ganz | „hin“
für das Bild. –
Doch nun genug – über genug! Ein
paar Worte des Dankes wollte ich Dir schreiben und es wird so eine lange Epistel
– und doch habe ich gegen andere so große Briefschulden! Und dann habe ich Dich
auch so kritisch gezaust – nun bist Du mir vielleicht böse; und doch – nein, Du
wirst nicht böse, Du bist zu gescheid dazu! Du wirst fühlen, daß es nicht
Mangel an Intresse ist an Deinen dichterischen Versuchen, sondern gerade meine
Theilnahme und meine Ueberzeugung, daß das Dichten bei Dir mehr ist als eine
Kinderkrankheit, welche mich veranlaßte die mir übersanntenSchreibweise Olga Plümachers. Proben h
nicht nur auf ihren Inhalt hin, neugierig zu lesen, sondern auf ihre künstlerische
Berechtigung hin zu prüfen, so gut ich es versteh – wobei ich übrigens als
feststehendes Ergeb | niß meiner Selbsterkenntniß sagen muß: daß ich nur eine geringe
poetische Ader habe. –
Und nun zum Schluß etwas Kaffee-Prosa:
ich bemerke mit Bedauern, daß die neue Sendung Kaffee etwas geringer
scheint; probirt habe ich sie noch nicht, aber die Bohnen sind verkrüppelter.
Die Liebe Mama kann also den Preis des ihr übersannten Kaffees auf 86, resp. 82
(bei größenSchreibversehen Olga Plümachers. Es müsste "großen" heißen. Quantitäten) herabsetzen. Wenn aber Mama für Euch selber
wieder braucht, (im Frühling oder Sommer) so sende ich ihr noch vom alten,
von dem ich noch 1 2/3 Sack habe und nun für mich (und
Euch) behalten werde. –
Herzliche Grüße der lieben Mama und
den GeschwisterSchreibversehen Olga Plümachers. Es müsste "Geschwistern" heißen. .
Deine Dich liebende Tante
Plümacher.
Zum
Beweis, daß Du mir nicht zürnst, schickst Du mir wohl gelegentlich ein regelrechtes,
ganz glatt gekämmtes 14-Silbiges Sonett, nicht wahr lieber Franklin?