18 Dec. 84.
Hochverehrte Tante.
Sie zürnen mir gewiß ein wenig, daß ich Ihre freundlichen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 22.11.1884. so lange unbeantwortet lasse.
Aber verzeihen Sie mir; Den Tag über bin ich im Colleg und am Abend, wo sich am
besten Briefe schreiben lassen meist im Theater. Ich habe mit großer Freude
vernommen daß es Ihnen und den Ihrigen im allgemeinen wohl ergeht und daß Sie alle gesund sind, wenn
ich auch bedaure, daß der stille Friede des LöwenzwingersAnspielung auf Bertha Jahns Haus, die Löwenapotheke in Lenzburg, das sie mit ihren vier Kindern Victor, Lisa, Hanna und Ernst bewohnte. In Wedekinds Briefgedicht „Seiner lieben Tante Frau Bertha Jahn [...]“ schrieb er: „Ich aber stehe hier in dieser Stube / Ganz einsam unter wilder Löwenbrut; – / Wie einst dem Daniel in der Löwengrube / So sind auch mir die Löwen alle gut.“ [Wedekind an Bertha Jahn, 18.10.1884]. durch so bedeutende
Veränderungengemeint ist vermutlich die Abreise Adolf Spilkers zum 1.10.1884 nach Oldenburg [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 1.7.1884], der Bertha Jahns 1882 verstorbenen Ehemann Viktor Jahn als Apotheker in Lenzburg vertreten hatte. ein wenig gestört wurde. Meinen, b wärmsten Dank für die
Theilnahme mit der Sie sich | nach meinen StudienWedekind war in München als Jurastudent eingeschrieben. erkundigen. Offen gestanden:
ich studire nicht viel, weil ich dabei bedeutend mehr lerne als wenn ich viel
studiren würde. Dies Paradoxon wird Ihnen begreiflich werden, wenn s/S/ie
die Annehmlichkeiten der g/G/roßstadt bedenken. Ich gehe sechs bis
sieben Mal per Woche
ins Theater und habe schon viel Schönes gesehen. Am meisten freute ich mich auf
die Aufführung von Maria StuartFriedrich Schillers Trauerspiel „Maria Stuart“ wurde am Königlichen Hof- und Nationaltheater München zuletzt am 14.11.1884 gespielt, „[a]us Anlaß des 25-jährigen Bestehens der deutschen Schillerstiftung [...] mit ermäßigten Preisen“ [Königliches Hof- und National-Theater 1884 [Theaterzettel], S. (687)]. Die Veranstaltung war zunächst für den 9.11.1884 angekündigt worden.; aber sei es, daß ich sie zu kritisch
betrachtete, oder von Lenzburg her verwöhntIn Lenzburg war „Maria Stuart“ von einem Laientheater 1876 mit großem Erfolg aufgeführt worden; die Titelrolle spielte Bertha Jahns Schwester Fanny Oschwald [vgl. Martha Ringier: Fanny Oschwald-Ringier 1840-1918. In: Lenzburger Neujahrsblätter, Jg. 13, 1942, S. 14]. war, sie hinterließ nur wenig e/E/indruck.
Auch die Königin Elisabeh/t/hDie Rolle der Elisabeth, Königin von England, in Friedrich Schillers Trauerspiel „Maria Staurt“ wurde in München von der Schauspielerin Rosa Herzfeld-Link verkörpert. ärgerte mich, weil sie kein Zungen-RIn der zeitgenössischen Stimmlehre galt das Zungen-R noch als Ausspracheideal, man unterschied „das Zungen-R (oder das reine) und das Gaumensegel-R (oder das unreine). Bei ersterem ist die Zungenspitze der vibrierende Teil [...] Aus der Bezeichnung ‚das reine‘ geht hervor, daß wir nur das Zungen-R als das richtige erkennen. Trotzdem das Zungen-R sehr schwer zu bilden ist (denn es erfordert einen gewissen Grad von Energie und Beweglichkeit der Zunge, besonders ihrer Spitze), muß man doch mit aller Kraft nach dessen Erreichung streben, da es unerläßlich ist, wenn wir Anspruch auf eine deutliche, schöne Sprache machen wollen; ja es ist gar nicht möglich in der Kunst, wie überhaupt in der öffentlichen Rhetorik, ohne dieses R. mit großem Erfolge zu wirken.“ [Oskar Guttmann: Die Gymnastik der Stimme, gestützt auf physiologische Gesetze. Leipzig 1882, S. 127] Wedekind hielt an diesem Ideal fest, auch als es zu verschwinden begann. In dem Glossarium „Schauspielkunst“ (1910) schrieb er: „Als ich kürzlich in Düsseldorf auftrat, erregte ich bei den Schauspielern allgemeines Kopfschütteln und Achselzucken, weil ich Zungen-R sprach“ [KSA 5/II, S. 374]. Wedekind sprach das Zungen-R nicht nur bei seinen Auftritten als Schauspieler und Liedersänger, sondern kultivierte es auch in der Alltagsunterhaltung: Zeitgenossen berichten, Wedekind habe sich „in gewählter Redeweise, die einem keinen Buchstaben unterschlug, aber dem R – einem theaterhaft hervorgerollten Zungen-R – noch eine ganz besondere Sorgfalt widmete“ [Holm 1932, S. 58f.], ausgedrückt und „entgegen dem Stil seiner Zeit ein hochdramatisches, einstudiert rollendes Zungen-R“ gesprochen [Martin Kessel: Romantische Liebhabereien. Sieben Essays nebst einem aphoristischen Anhang. Braunschweig 1938, S. 75].
aussprach und über den
schlechten Seiten ihrer Rolle allen königlichen Anstand vergaß. – In der
hiesigen Oper hab ich an mir selber die unangenehme Entdeckung gemacht, daß | ich
kein Musikverständniß besitze. Es wird Ihnen das nicht minder überraschend
vorkommen, als mir selber. Aber wenn ich Ihnen sage, daß ich mit wahrer
Entrüstung eine sehr gute Aufführung von Wagners Meistersingerndie letzten Aufführungen von Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Königlichen Hof- und Nationaltheater München fanden am 27.11. und 14.12.1884 statt. verließ und
mich meiner Lebtag
noch nie so sehr gelangweilt habe, wie gestern AbendAnlässlich von „Beethovens Geburtstags-Feier“ [Königliches Hof- und National-Theater 1884 [Theaterzettel], S. (773)] wurden am 17.12.1884 das Festspiel „Die Ruinen von Athen“ und die Oper „Fidelio“ gespielt. in BethofensSchreibversehen, statt: Beethovens. Fidelio, so
bleibt leider Gottes keine andere Lösung übrig. Nur die Coloratursängerin BastaDie Sopransitin Marie Basta vom Königlichen Hof- und Nationaltheater München, wo sie von 1880 bis 1888 engagiert war, war zuletzt am 11.12.1884 als Susanne in Mozarts Oper „Figaros Hochzeit“ zu hören.
mit ihrer zwar scharfen und sehr gelenkigen Stimme hör’ ich ganz gern
und gerathe deshalb mit WalterBertha Jahns Neffe Walther Oschwald, mit dem Wedekind die Matura abgelegt hatte und nun in München Jura studierte., dessen Enthusiasmus der umfangreichen
PrimadonnaAls Primadonna der Münchner Hofoper galt die Sopranistin Mathilde Weckerlin [vgl. Der Sammler, Jg. 53, Nr. 155, 30.12.1884, S. 8], die seit 1876 in München engagiert war; zuletzt zu hören war sie wie Marie Basta am 11.12.1884 in Mozarts Oper „Figaros Hochzeit“ als Gräfin Almaviva. gielt,
nicht selten in heftigen Streit. Jeder kämpft dann mit Feuereifer für seine
Dame und seinen Glauben, und da natürlich von Capitulation keine Rede sein
kann, so verläßt jeder von | vonSchreibversehen (Wortwiederholung beim Seitenwechsel), statt: von. uns als Sieger den Kampfplatz mit dem
erhebenden Bewußtsein, den Gegner überwunden zu haben. – Von Spile/k/erAdolf Spilker aus Vilsen bei Hannover; nach einer Apothekerlehre in Nienburg war er als Provisor tätig, ab Herbst 1883 in der Lenzburger Löwenapotheke der verwitweten Bertha Jahn; er wechselte zum 1.10.1884 nach Oldenburg.
erhielt ich Antwortnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Adolf Spilker an Wedekind, 2.12.1884. auf meinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Adolf Spilker, 8.11.1884. Seine Zeilen
melden zwar nichts vom Unwohlsein ihrer/s/ Verfassers, sehen aber doch
ganz darnach aus. Er
klagt viel über Kälte und sehnt sich offenbar nach dem Kaminfeuervermutlich der Ort, an dem Adolf Spilker Bertha Jahn aus Heinrich Heines „Reisebildern“ vorgelesen hatte [vgl. Wedekind an Anny Barck, 28.11.1883].. Das
Schlußgedicht zum „Kuß“Wedekinds Gedicht „Der Kuss. In seiner Entstehung und Fortentwicklung bis zur höchsten Vollkommenheit, nach dem Leben dargestellt“ umfasst fünf Teile [vgl. KSA 1/I, S. 155-160 und Kommentar KSA 1/II, S. 1247-1255], der letzte Teil beginnt mit dem Vers: „Es naht der Herbst. Schon röthen sich die Blätter.“ werde ich Ihnen senden, sobald es fertig ist. Leider
ist meine Jungfer Musehier Metapher für dichterische Inspiration. immer noch nicht eingetroffen und ich muß vermuthen, daß
sie irgend wo gefangen gehalten wird. Sie können sich leicht vorstellen, wie
schrecklich einsam ich mich als Strohwittwerveraltet für: Strohwitwer. fühle, zumal ich ihr so viel
Interessantes mitzutheilen hätte. Aber Gedult bringt RosenSchreibversehen, statt: Geduld bringt Rosen; Redensart [vgl. Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Bd. 1, Leipzig 1867, Sp. 1402] im Sinne von: Geduld wird belohnt., und ich hoffe von
ihr, daß sie mir | daß sie mir auch
diese Rose wieder bringt. – Victor wünsch ich viel Glück und guten Erfolg zu
seinem PrologAuf der zweiten Abendunterhaltung der Aarauer Kantonsschüler Aarau am 30.1.1885 trug Bertha Jahns Sohn Victor, der die Abschlussklasse des Gymnasiums besuchte, den von ihm verfassten Prolog vor [abgedruckt bei Hans Kaeslin: Schülerabend-Prologe. In: Aargauer Neujahrsblätter, Jg. 18, 1944, S. 32-34].. Ich zweifle gar nicht daran, daß er die Sache practisch in die
Hände nehmen und gut ausführen wird. Ich aber kann mich glücklich schätzen, einen so
trefflichen und W lieben NachfolgerAuf dem ersten Aarauer Kantonsschülerfest am 1.2.1884 hatte Wedekind den Prolog vorgetragen [vgl. KSA 1/I, S. 114-117 und KSA 1/II, S. 1983f.]. gefunden zu haben. –
In Lenzburg scheint wirklich sehr viel geklatscht zu werden.
Daß Fritzi Kullnicht näher identifiziert. die Schule verlassen mußte, thut mir sehr leid für ihn, denn er
ist ein aufgeweckter kluger Kopf und kann gewiß unter Umständen auch fleißig
sein, und daß er den Lenzburger Bezirksschullehrern gegenüber Lausbubereien
verübt hat, kann ihm meine Sympathie noch nicht entziehen. |
Und nun leben Sie wohl, liebe Tante. Meine besten
Empfehlungen an Frl. Lisadie 18jährige Tochter von Bertha Jahn. und an Frl. Hannadie 14jährige Tochter von Bertha Jahn., die ihrer hochgeschätzten Frau Mamma wol schon recht
hülfreich, bei Abfassen von Weihnachtsgedichten an die Hand geht. Auch an Ernstder 11jährige Sohn Bertha Jahns, der später nach einem Pharmaziestudium die Lenzburger Löwenapotheke übernahm.
recht freundliche Grüße. Ich wünsche Ihnen recht vergnügte
Weihnacht, liebe Tante und verbleibe in kindlicher Ergebenheit Ihr dankbarer
Neffe Franklin.