Zürich 6.I 88.
Sehr geehrtes FräuleinAdressatin des Briefs ist wahrscheinlich Gertrud Schwarz, aus deren Nachlass der Brief stammt. Anrede und Tonfall des Briefes entsprechen auch Wedekinds Korrespondenz mit Sophie Haemmerli-Marti [vgl. Wedekind an Sophie Haemmerli-Marti, 23.1.1888], die mit Gertrud Schwarz befreundet war [vgl. Anna Kelterborn-Haemmerli: Sophie Haemmerli-Marti. Ein Bild Ihrer Jugend. 1. Teil. In: Lenzburger Neujahrsblätter, Jg. 21 (1950), S. 44].,
wiewol mir der Zufall die Gelegenheit unterbreitete, Ihnen
mündlich einige Dankesworte zu stammeln, so kann ich damit doch das complicirte
Gewebe unserer gegenseitigen Verbindlichkeiten noch absolut mit/nicht/ as/l/s
abgeschlossen betrachten. Was unsere vorjährigen Philippikenkämpferische Reden, Streitreden. anbelangt, so
wiederhol ich Ihnen, daß ich ohne Ihre positive Versicherung | daß Sie sich mit
Ihrer Auffassung im Recht befinden, noch durchaus nicht davon überzeugt wäre.
Denn erst nachdem ich mir den Sachverhalt genau in’s Gedächtniß zurückzurufen
versucht, kam ich vergangenen Winter zu dem Resultat, daß ich der Schuldige
sei, wonach ich dann mit bescheidenen Kräften aber nach bestem Wissen und
Gewissen zu handeln bemüht war. Nachdem es Ihnen nun aber gefallen, das Blatt
so entschieden umzuwenden, muß ich freilich die Waffen strecken. Ich
capitulire, ich stehe ab von meinem bisherigen | Protest, aber ich versichere
Sie hoch und theuer, hauptsächlich in/a/uf Grund der leidigen aber
unumstößlichen Thatsache, daß die Damen immer Recht habenzeitgenössisch verbreitete Redewendung..
Und nun gar einen Papierkorb! Einen Papierkorb von Ihrer Hand,
von Ihrer eigenen herrlich-feinen Kunst, von Ihrem eigenen Fleiß, die schönste
Zierde meiner kleinen traulichen Studierbude. Für allerhand werthlose
Schnitzel, für fremde bedeutungslose Papiere ist er entschieden zu reizend,
entschieden zu kunstvoll; und für meine eigenen Papiere –– ja, nun verstehe ich
Sie. Sie schaufeln mit spielender Hand ein anmuthiges, schimmernd-|weißes Grab,
damit meine elende lebensmühde Muse endlich weiß, wo sie hingehört und
nicht mehr so gemeingefährlich, vagabundenartig in der Welt herumzuirren
braucht. – O, daß die Damen doch immer Recht haben!
Empfangen Sie nun zum Schluß noch einmal meinen Dank, den
Dank des Arztes, der ihr den Rest gegeben hat, des Geliebten, der sie
unglücklich gemacht und des Pfarrers, der die Leichenrede hält, in einer Person
– Sie schelmisch-muthwillige, kleine Todtengräberin! – Grüßen Sie Ihre eigene
lebensfrohe, frische, fröhliche Muse von der dahingeschiedenen Schwester und
seien Sie selber tausend Mal gegrüßt von Ihrem ganz ergebenen
Fr. Wedekind.