Kennung: 5666

Lausanne, 12. Juli 1884 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Friedrich Wilhelm

Inhalt

Lausanne 12.VI.1884.Schreibversehen, statt: 12.VII.1884. Wie sich aus dem Briefkontext ergibt, war der vorliegenden Brief Wedekinds Antwort auf den Brief seines Vaters vom 1.7.1884.


Lieber Papa,

besten Dank für Deinen lieben, großen Briefvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank und William Wedekind, 1.7.1884. Der Brief richtete sich gleichermaßen an Frank und William Wedekind, die sich in Lausanne eine Wohnung in der Villa Mon Caprice (Chemin de Montchoisy) teilten.. Wir haben ihn beide mit großem IntresseSchreibversehen, statt: Interesse. gelesen, so traurig auch leider sein Inhalt war. Trotz der ausführlichen Beschreibung, wollte mir das ganze Unglückdie Erkrankung und der Tod Hans Rauchensteins; siehe die vorangegangene Korrespondenz. doch immer noch nicht begreiflich erscheinen. Ich hatte ja auch nur eine ganz kurze NachrichtWer Frank Wedekind auf welchem Weg darüber informierte, ist nicht ermittelt. von der Krankheit erhalten und dann gleich darauf die schreckliche Todesbotschaftim Brief des Vaters (s. o.).. – Ich kann mir auch kaum vorstellen, wie sich Hammiinnerfamiliärer Kosename für Armin Wedekind. Armin und Frank Wedekind hatten während ihrer Schuljahre 1879/80 und 1880/81 an der Kantonsschule Aarau zeitweise bei der Familie Rauchenstein (Halden 261) gewohnt. zu dem unersetzlichen Verluste verhalten wird. Er hat zwar ja noch viele andere Bekannte mehr; aber wieder einen Freund zu finden, an dem er so von ganzem Herzen hängt, wie an Hans, an den er so durch jahre|langen, ununterbrochenen, innigsten Umgang gekettet ist, wird ihm wol nicht so leicht und nicht so bald möglich sein. –– Seine BerichteFriedrich Wilhelm Wedekind hatte seinen Söhnen William und Frank die Briefe Armin Wedekinds zur Lektüre nach Lausanne geschickt, die dieser von einer Reise von seinem Studienort Göttingen aus durch Thüringen nach Hause gesandt hatte [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank und William Wedekind, 1.7.1884]. Die Briefe sind nicht überliefert. über die Pfingstreise haben uns viele Freude gemacht. Ich hab’ sie mit vielem Interesse gelesen und Willy hat aufmerksam zugehört. Sie sind aber auch ganz frisch und lebendig geschrieben und erweckten in mir den festen Vorsatz, dereinst seinem Beispiele zu folgen und die nämlichen herrlichen Gegenden zu durchwandern. –– Hier in Lausanne haben wir nun schon seit vielen Wochen das her prachtvollste Wetter, nur von einigen h/k/urzen Gewittern unterbrochen. Seitdem die äüßerst ausgiebige Erdbeerzeit vorüber ist, sind schon die Birnen in unserem Garten reif geworden und die Reben sollen ebenfalls sehr gut stehen. Auf der AkademieFrank Wedekind besuchte ein Semester lang Vorlesungen zur französischen und deutschen Literatur an der Académie de Lausanne, bevor er ein Jurastudium in München aufnahm. werden bei der übergroßen Hitze die Collegien wol bald nach und nach beschlossen werden. Prof. RambertEugène Rambert hatte in Paris studiert und war von 1855 bis 1860 Professor für französische Literatur an der Académie de Lausanne, wechselte dann bis 1881 ans Eidgenössische Polytechnikum Zürich und kehrte 1881 nach Lausanne zurück, wo er bis 1886 lehrte. Außer als Hochschullehrer war er auch als Schriftsteller und Literaturkritiker tätig. hat schon vor acht Tagen seinen Schlußvor|trag gehalten, nachdem er uns mit allen französischen Poeten der Neuzeit einigermaßen bekannt gemacht hatte. Mr. Beaumontder private Französischlehrer von Frank und William Wedekind [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 11.6.1884]. hat leider vor drei Wochen Hochzeit gehalten und dann eine kurze Reise nach Italien unternommen. In der letzten Stunde gab er Willy seine Rechnung, wie er jeden Monat zu thun pflegt, für 6 Stunden. Du möchtest nun so gut sein und ihm die 18 frs. aufs BüreauWilliam Wedekind absolvierte seine Ausbildung im Büro des Kaufmanns Emile Ruffieux am Place St. François 11 in Lausanne [vgl. Schweizerisches Handelsamtsblatt, Nr. 68, Teil II, 11.5.1883, S. 545]. schicken, damit er Herrn B. nächsten Dienstag bezahlen kann. Die Quittung wird er Dir dann sofort zurücksenden. –– Herr Rüffieux ist schon seit geraumer Zeit in die Berge gegangen mit seiner Frau, nach Chateau d’EuxChateau d’Oex, Dorf in den Waadter Alpen, „deutsch Oesch (994m), auf grünem Thalboden weit zerstreutes Dorf, wird als Sommerfrische und Luftkurort viel besucht“ [Karl Baedeker: Die Schweiz, nebst den angrenzenden Theilen von Oberitalien, Savoyen und Tirol. Handbuch für Reisende. 21. Aufl. Leipzig 1885, S. 226]., um eine Sommerfrische zu h machen. Ebenso die ganze Pension Duplandas von Louise Duplan geführte Mädchenpensionat in der Vila „La Verger“ (Rue de Valentin 65), das auch Erika Wedekind 1887 besuchte.. Vor ihrer Abreise begleiteten wir sie noch einmal Abends in den Garten von Hotel Beau Rivage(frz.) ‚schöne Küste‘; 1861 eröffnetes Hotel in Ouchy mit großer Parkanlage am Ufer des Genfer Sees., wo wöchentlich drei Mal Concert ist. Es bietet das eine sehr b angenehme Gelegenheit | die Abende zu verbringen. Der Eintritt ist natürlich ganz frei. Man setzt sich dann dort auf die Bäng/k/e vor dem Hotel, oder geht im Parke spazieren e/o/der kann sich auch in aller g/G/emüthlichkeit, wie’s die Engländerinnen thun, auf den Rasen setzen. Das Gras ist dann allerdings nicht wie in Lenzburg, jeden Abend feucht vom Thau, sondern vollständig trockner/en/ und der Boden warm bis in die späte Nacht hinein. Eine kleine Capelle spielt dann auf der Veranda des Hauses Opernpartieen oder Tänze oder Potpourri’s in gleicher Weise, wie wir es letzten Sommer in Baden verschiedene Mahle zu gehört haben. z/Z/uweilen producirt sich auch ein Sängerpaar, das unter Clavierbegleitung französisch oder italienisch vorträgt aber gewöhnlich weit weniger Beifall erntet als das Orchester. ––– Lestern DonnerstagSchreibversehen, statt: Letzten Donnerstag; der 10.7.1884. fann/d/ hier bei Beginn der Schulferien eine Art von JugendfestDie „Fête du Bois“, seit 1850 als Schülerfest ausgerichtet: „Nach den Promotionen der Cantonal- und Mittelschule findet in der Nähe des Signal Anfangs Juli auf Staatskosten ein freundliches Wald- und Jugendfest, Fête du Bois genannt, statt. (Bogenschiessen, Banket und Tanz im Freien bis Sonnenuntergang).“ [Lausanne und Einiges über den Canton Waadt nebst kurzer Biographie Edward Gibbon’s 2. Aufl. Lausanne 1860, S. 58] statt. Es wurde auf einer großen Waldwiese | hinter dem Signaldas Signal de Sauvabelin (648 m), knapp zwei Kilometer nördlich des Stadtzentrums von Lausanne (489 m), ehemals ein Wachtposten (frz. signaler) am Rand eines Eichen- und Buchenwalds, jetzt Aussichtsplattform: „Sehr berühmte Aussicht vom *Signal (648m), ½ St.[unde] oberhalb der Stadt [...]. Die Aussicht umfasst einen grossen Theil des Sees“ [Karl Baedeker: Die Schweiz, nebst den angrenzenden Theilen von Oberitalien, Savoyen und Tirol. Handbuch für Reisende. 21. Aufl. Leipzig 1885, S. 212]. Über die Aussicht schrieb Wedekind am 19.6.1884 das Gedicht „Auf dem Signal“ [vgl. KSA 1/I, S. 177 und 1/II, S. 1029]. abgehalten. So schön wie das in Lenzburg oder Aarau war es nun freilich nicht. Die Leute hier haben überhaupt keinen Sinn für gesellschaftliches Leben. Die Feier in der Kirche, gerade die bedeutende Weihe bei unseren Jugendfesten, war durch fehlte vollständig. Die männliche Schuljugend schoß, die Jüngeren mit Pfeil und Bogen, die ä/Ä/lteren mit Gewehr und Geschützen nach aufgesteckten Zielen. Mittags war großes Banquet und Nachmittag Tanz, der aber gründlich verregnet wurde. – In Lenzburg werdet ihr nun wol auch bald JugendfestDas jährliche Jugendfest Lenzburg fand in diesem Jahr am 18.7.1884 statt. haben. Ich wünsche von ganzem Herzen besseres Wetter dazu, als es hier an jenem Tag war. – Die Nachricht von dem UnwohlseinBertha Jahn hatte einen Schlaganfall erlitten [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884]; durch wen und auf welchem Weg Frank Wedekind diese Nachricht erreichte, ist nicht ermittelt. von Tante Jahn hat mich sehr beunruhigt. Hoffentlich war es nur vorübergehend; wenn es nur keine schlimmen f/F/olgen zurückläßt. Mieze oder Doda könnten mir ja einmal ein paar | Zeilen darüber schreiben, und auch über anderes mehr. Mieze weiß gewiß viel Neues aus ihrer/m/ aarauer InstitutslebenWedekinds Schwester Erika, genannt Mieze, besuchte seit Ende April 1884 die erste Klasse des Töchterinstituts und Lehrerinnenseminars in Aarau [vgl. Zwölfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1884/85, S. 4]. zu erzählen. Ich müßte mich sehr irren, wenn ich nicht eine von ihren Mitschülerinnen bereits kennte; eine gewisse Lina Renoldsiehe Wedekinds Korrespondenz mit ihr von Dezember 1883 bis April 1884. Erika Wedekind charakterisierte ihrer Mitschülerin am Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau in ihrem nächsten Brief [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 16.7.1884]., die zu bisweilen zu Frl. Hubervermutlich eine Verwandte oder die Tochter von Wedekinds früherer Aarauer Zimmerwirtin Regula Huber-Aschmann (Zollrain 88). kam und sehr niedliche Gedichte machte, die sie mir dann jeweilen zur Beurtheilung vorlegte. Frida Zschokkedie jüngere Schwester von Wedekinds ehemaligem Klassenkameraden Ernst Zschokke, die im Mädchenpensionat Duplan in Lausanne lebte und die Wedekind aus Aarau kannte, wo sie bis Januar 1884 das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar besucht hatte [vgl. Elfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1883/84, S. 5]. kannte sie ebenfalls und ich wäre gespannt wieder etwas von ihr zu vernehmen. ––– Und jetzt leb’ wol, lieber Papa. Mit herzlichsten Grüßen an Dich und Mamma, Mieze, Doda und Mati verbleib ich Dein treuer dankbarer Sohn
Franklin.


P. S. Die Briefe von HammiWedekinds Vater bat Ende des Monats um Rücksendung der Briefe mit Armin Wedekinds Reisebericht aus Thüringen (s. o.): „Jedenfalls aber haben in der Kiste noch Platz: die Briefe Hammis über die Thüringer Reise“ [Friedrich Wilhelm Wedekind an William Wedekind, 24.7.1884; Mü FW B 312]. werden wir bei nächster Gelegenheit zurücksenden.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Kariertes Papier. Doppelblatt + Einzelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Die korrekte Datierung auf Juli, statt, wie von Wedekind angegeben, auf Juni, ergibt sich aus dem Briefkontext.

  • Schreibort

    Lausanne
    12. Juli 1884 (Samstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Lausanne
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
54-57
Briefnummer:
13
Kommentar:
Im Erstdruck ohne das „P. S.“ ediert. Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 40-42 (Nr. 15).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 190
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.7.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (12.03.2025).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

07.03.2025 17:13