Lausanne 25/6/.VII.84.
Liebe
Mamma
Dein
Geburtstagskuchen hat ganz famos geschmeckt und ebenso der liebe Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884. der ihn begleitete.
Den Brief hab’ ich sofort verschlungen, den Kuchen aber erst um Mittag in
Willys Gesellschaft bei einer Tasse Kaffe, Gesternam 25.7.1884, der Tag an dem die Sendung der Mutter eintraf [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind]. Abend haben wir dann noch den letzten Rest zu Kaffe und
einer Pfeife Tabak genossen. Es war recht gemüthlich. – Schon am Mittag wollt
ich unsere Philisterinstudentensprachlich für Vermieterin; Hortense Gros. zu dazu einladen. Aber der Plan fand bei Willy
wenig Anklang | Ich begreife nicht, was ihm die liebenswürdige Dame so
plötzlich verleidet hat. Gestern abendSchreibversehen, statt: Abend. waren wir auf dem See, alle zusammen, Mdm. Gros,
Dora Wagnernicht näher identifiziert., Fräulein Schnabelawovskynicht näher identifiziert. , Willy und ich. Da hat er sich denn
wieder mit ihr versöhnt. Noch besser aber unterhielt er sich mit Fräulein
Schnabelawovsky, die lange in Amerika war und ihm viel von Polen erzählte.
Es
war ganz windstille und warm, aber trotdemSchreibversehen, statt: trotzdem. der Himmel bedeckt und die Wellen
gingen recht hoch. Wir n/f/uhren auch recht ziemlich weit hinaus und Mdm Gros bekam ein
wenig Angst. Dora Wagner sprach ihr Muth ein und Frl. Schnabelawovsky sagte, wenn es ihr zu stark
schaukele, so könne sie nur | aussteigen. Aber Madame blieb doch drinnen und
wir haben alle glücklich wieder ans Ufer gesetzt. Später führte uns Frl. Schnabelawovsky ins
Hotel Beaurivage wo sie bekannt zu sein schien. Es wurde nähmlich nicht auf der
Altanebalkonartiger Anbau ans Obergeschoss., sondern auf in dem hohen herrlichen VestibülFoyer, Hotelhalle. gespieltIm Hôtel Beau-Rivage in Ouchy, am Ufer des Genfer Sees, fanden abends regelmäßig Konzerte statt. wo N
niemand Zutritt hat, der nicht im Hotel wohnt. Abends halb elf Uhr waren wir
wieder zuhause und dann wurde noch der Topfkuchenrest verzehrt. Den
Geburtstagskranz der in der That viel zu schön für uns mich war, hab’ ich Fanny AmslerWedekind hatte nach einem Foto, das Minna von Greyerz ihm zeitweilig überlassen hatte, eine Zeichnung von Fanny Amsler, der Frau des Arztes Gerold Amsler, angefertigt [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 31.5.1884], die hier gemeint sein dürfte. umgehängt. Er steht ihr ganz vortrefflich und
giebt ihr so etwas BachantischesSchreibversehen, statt: Bacchantisches; (lat.) Ausgelassenes, Trunkenes.. –– Die KinderEmile und Hortense Gros, bei denen Frank und William Wedekind in Lausanne wohnten (Villa Mon Caprice, Chemin de Montchoisy), hatten vier Kinder. sind schon seit 8 Tagen mit der
Bonne(frz.) Kindermädchen; nicht näher identifiziert. bei deren Eltern in den Bergen. Auch Mdm geht heute
Abend fort und zwar nach | Bière zu ihrer Nichte Mdm. Sonvairannicht näher identifiziert.. Die
alte Tantenicht identifiziert; Wedekind hatte sie bereits früher schon getroffen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. ist auch schon dort und Dora W. wird Mdm begleiten. Sie haben uns dringend eingeladen, sie doch
einen Tag dort zu besuchen. Das könnte auch ganz amüsant werden. Besonders die alte Tante möcht ich
mal wieder sehn.
Vor
vierzehn Tagenam 13.7.1884. waren wir in Yverdon. Sonnabend Abendden 12.7.1884. um 6 Uhr marschierten wir
hier ab und kamen gegen 9 Uhr nach Echallondie Ortschaft Echallens, 16 Kilometer nördlich von Lausanne. wo ein großes Fest war. Doch
hielten wir uns dort nicht auf. und setzten
unseren Weg bis nach VoueranDie Ortschaft Vuarrens, 21 Kilometer nördlich von Lausanne. fort. Es war halb zehn Uhr und stockfinstere Nacht
als wir dort ankamen. In der Dorfkneipe trafen wir einen bekannten Bauernnicht identifiziert., der
uns einlud, am andern Morgen bei ihm zu | frühstücken. Unser Schlafgemach, war
das einzige Zi Gastzimmer im ganzen Wirtshas/u/s, aber sah r/s/ehr
R/r/einlich und nett aus. Wir hatten zwei gute Betten, n v
aber Willi seins war etwas zu breit und meins zu kurz. Das machte übrigens
nichtSchreibversehen, statt: übrigens nichts., denn das da es eine eiserne St/B/ettstelle hatte, , so
konnte man die Füße bequem unten herausstrecken. Man hatte uns ein großes Stück
Brod als Bettmümpfeli(schweiz.) Betthupferl. heraufgebracht, dazu Waschgeschirr und in einem Winkel
des Zimmers fand sich sogar ein recht geräumiger goldiger Pot de Chambre(frz.) Nachttopf (wörtlich: Zimmertopf).. –– Am
anderen Morgen standen wir beide früh auf und hatten beide gut geschlafen.
Das Frühstück bei dem Bauersmann | war eine wahre Labsal. Er selber lag noch im
Bett in der Wohnstube, aber Madame empfieng und/s/ in der
Küche und bewirthete uns am großen Eßtisch mit einigen Tassen kräftigen Kaffes,
mit Brod und guten Käse und mit großen Stücken Stachelbeerwähe(schweiz.) flacher Blechkuchen aus Mürbeteig, hier belegt mit Stachelbeeren.. Es war das ein Segen für
den ganzen Tag. Beim Abschied erschien auch Monsieur in Hemd und Sonntagshose
und drückte uns kräftig die Hand. Wir dankten aufs w/W/ärmste und dann
gings weiter gen Yverdon. Der Morgen war prachtvoll und die herrliche Gegend,
die wir gemüthlich rauchend mit strammen Schritt durchwanderten, suchte/w/eit
und breit ihres Gleichen. Wir kamen über ein hohe Brücke. Darunter ein Waldbach
sich in/vo/n einer Felsenstufe zur andern stürzte und klare mit weichem
| Sande ausgelegte Bassins bildete. Hier warfen wir schnell Rock Hose und Hemd
herund/t/er und hielten kühlende Rast in den schimmernden Fluthen. Als
wir wieder MarschfertigSchreibversehen, statt: marschfertig. waren, wurden die Pfeifen von neuem belebt und nun hatten wir noch 2 Stunden zu
marschieren bis zum Ziel. Die Hitze war afrikanisch. Fast wollten uns die
Kräfte versagen, al denn auch die Füße waren schon stark angegriffen,
als wir plötzlich von hohem Bergrücken herab im Thal unten den blauen Spiegel
des Neuenburger Set/e/s erblickten – Ω τάλαττα! ω τάλαττα!!Schreibversehen, statt: Ω θαλαττα! ω θαλαττα!! (Griech.) Oh das Meer! oh das Meer!! Literarischer Topos für die Erreichung des rettenden Ziels nach großer Anstrengung (nach Xenophon: „Anabasis“ 4,7,24). –– Vor
Yverdon stärkten wir unsere Le erschlafften Lebensgeister noch bei
kurzer Siesta und dann zogen wir unter Glockengeläute ein in die w/b/reiten
Straßen der alten Burgunderstadt. –– | VerdansDer Kaufmann und Nudelfabrikant Auguste Verdan und seine Frau Louise in Yverdon waren die ersten Station in William Wedekinds kaufmännischer Ausbildung gewesen, die er Anfang 1882 begann; im November 1883 wechselte er zu Emile Ruffieux nach Lausanne [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 19]. hatten keine Ahnung von unserer
Absicht, aber der Empfang, als wir ankamen, war doch die Herzlichkeit selber.
Herr Verdan sorgte sofort für die nöthigen Erfrischungen und zeigte uns dann
die Neuerungen in/auf/ seinem Gute. Nach dem Mittagessen streckten wir
uns alle drei, Herr Verdan, Willy und ich, nebeneinander unter einem Baum an
der Orb ins Gras nieder und hielten ein Mittagsschläfchen. Am Nachmittag wollte
uns Mdm absolut auf dem See spazieren
fahren, aber erstens ließ sich das Boot nicht finden und zweitens bekam
Monsieur auf dem Wege Bauchgrimmen, sodaß wir unverrichteter Sache heimkehrten.
Abens/d/ 8 Uhr wurde angespannt und man führte uns im Wagen bis nach
ChavornayOrtschaft 10 Kilometer südlich von Yverdon., wo wir den | Zug nach Lausanne nahmen. –– Die nächste Woche sind wir
also mit Monsieur und Rosanicht näher identifiziert, eine Hausangestellte bei Familie Gros. ganz allein zu Hause. Übrigens hat Willy im Sinne
mit Fräulein Schnabelawovsky noch einmal nach Beau-RivagSchreibversehen, statt: Beau-Rivage, (frz.) schöne Küste; das Hotel am Ufer des Genfer Sees (s. o.). und auf den See zu gehn. Sie ist aber auch
eine sehr intelligente und hübsche Dame. Schade daß sie schon 30 Jahre hinter
sich hat. Morgen Nachmittag fahren wir wahrscheinlich mit Mr. Gros
nach EvianÉvian-les-Bains, französische Ortschaft auf der Lausanne gegenüberliegenden Seite des Genfer Sees, der für seine Mineralwasserquellen bekannt ist.. –– Mieze laß ich bestens für ihren freundlichen Briefvgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 16.7.1884. danken. Ich würde ihr sicher schon
geantwortet haben, wenn ich Zeit dazu gefunden hätte. –– Papa werde ich bei
nächstemfür: demnächst. einen längeren Briefvgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 6.8.1884. schreiben. Vorderhand meinen wärmsten Dank für
den herzlichen Glückwunsch und das schöne Geschenk. An Dich, liebe Mamma die |
besten Grüße und viele Küsse von deinem treuen dankbaren
Franklin.
Ich lasse Dodafamilieninterner Kosename für Wedekinds jüngsten Bruder Donald; der Kontext ist unklar. danken.