Lausanne.
VI. 84.
Liebe Mama,
Die schreckliche NachrichtVon wem Wedekind benachrichtigt wurde, ist nicht ermittelt; sein Vater hatte die Nachricht von der schweren Erkrankung Hans Rauchensteins erstmals am 21.6.1884 über seine Tochter Erika erhalten [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank und William Wedekind, 1.7.1884]. von der Krankheit Hans
RauchensteinsHans Rauchenstein, der jüngste Sohn des ehemaligen Professors an der Kantonsschule in Aarau Friedrich Rauchenstein, war Ende Mai plötzlich erkrankt und starb mit 25 Jahren am 27.6.1884. Wedekinds Vater berichtete seinen Söhnen Frank und William ausführlich darüber nach Lausanne [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank und William Wedekind, 1.7.1884]. traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und wie ganz anders
mag es erst diejenigen getroffen haben, die mit Leib und Seele dab/r/an
betheiligt sind. Ich konnt’ es zuerst kaum fassen, kaum verstehen, und all’
meine Phantasie reichte nicht aus, mich sofort mit der Sachlage beka
vertraut zu machen. Wer hätte das auch diesen Frühling nur ahnen und erwarten
können,/?/ Er, der Sonnenschein seiner ganzen FamilieArmin und Frank Wedekind waren während ihrer Schulzeit auf der Kantonsschule Aarau in den Schuljahren 1879/80 und 1880/81 in Pension bei dem Altphilologen Professor Friedrich Rauchenstein und dessen Familie (Halden 261)., aufs Beste
veranlagt, in blühender Gesundheit und die schönste Zukunft soeben erstHans Rauchenstein war seit dem 30.4.1884 Lehrer für alte Sprachen und Geschichte an der Kantonsschule Aarau. vor
seinen Blicken eröffnet – | doch wozu soll ich noch mehr sagen? Nützt es ja
doch nichts. Man kann in solchem Falle nur staunen, bed/tr/auern und
abwarten. Vergiß ja nicht, in deinem nächsten Briefe mir zu berichten, was du
neues über ihn erfahren hast. Ich hoffe immer noch etwas Tröstlicheres zu
vernehmen, als die letzte Schreckensnachricht war. –––. Nun muß ich dir für all’ das Schöne und
Gute, für die viele Freude danken, die Deine letzte SendungDer Brief Emilie Wedekinds zu der Sendung ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 6.6.1884. zu uns
bescheerte. Es war ein herrlicher Morgen, als ich ganz unerwartet all’
die Briefevermutlich Briefe der Geschwister Wedekinds sowie der genannte Brief Olga Plümachers an Emilie Wedekind, die nicht überliefert sind; erhalten ist der Brief Minna von Greyerz’ an Wedekind, 2.–5.6.1884. und die verschiedenen Beilagen auskramte. Besonders s dein
lieber Brief hat mir viele Freude bereitet; wurde ich darin doch auf
angenehmste Weise an
alles erinnert, was mir in Lenzburg, lieb war, wofür ich mich
interessire, und worüh/b/er ich ehedem viel zu plaudern pflegte! Der
Caffe mundet uns ganz vorzüglich; er athmet süßen angenehmen Heimatsduft, und
ich zweifele sehr | daran, ob ich in meinem künftigen Leben jemals wieder so
vielg/b/edeutendes GetränkeSchreibversehen, statt: Getränk. genießen werde. Ist er doch nicht nur ein
erfreulicher Gruß aus den heimischen Hallen, sondern erinnert mich auchOlga Plümacher versorgte die Familie ihrer Freundin Emilie Wedekind mit Kaffee aus Venezuela, wo ihr Ehemann Eugen Hermann Plümacher Kaffeehandel betrieb. über
dies bei jedem Schluck an die geliebte philosophische TanteOlga Plümacher, die philosophiehistorische Arbeiten publizierte. in Stein und wenn
ich während der
Lectüre ihres Werkes dazu denDie doppelte Durchstreichung wurde durch Unterpunktung wieder aufgehoben. d
dunkeln Mokkasaft schlürfe, dann müßte wirklich ein Wunder geschehen, sollt’
ich nicht vollständig von ihrem erhabenen pessimistischen Geiste beseelt und
inspirirt werden. ––– Den Brief von Tante Plümacher, den du mit Recht ein
kleines Juwel nanntest, hab’ ich mit großem Vergnügen gelesen. Doch erhielt ich
seither nun schon ein
größeres und auch ein ganz großes Juwel von ihr. Das größere Juwel ist ein
langes Schreibenvgl. Olga Plümacher an Wedekind, 23.6.1884. über eine Rei Tour nach Arenabergdas Schloss Arenenberg am Ufer des Bodensees gegenüber der Insel Reichenau im Kanton Thurgau, ehemaliger Wohnsitz der holländischen Königin Hortense de Beauharnais und von Louis Napoleon, des späteren französischen Kaisers Napoleon III., worin sie mir die
schöne Umgebung des Schlosses sehr poetisch und die Sääle im Inneren und einige
Gemählde sehr geistvoll und fesselnd beschreibt. Dieses größere | Juwel
begleitete das ganz große, nähmlich ihr neues Werkdie 1884 im Verlag Weiss in Heidelberg unter dem Verfassernamen O. Plümacher erschienene Abhandlung „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart. Geschichtliches und Kritisches“., aufs Eleganteste, d. h.
nur seines Inhaltes würdig, eingebunden. Meine Freude kannst du dir leicht
vorstellen. Ich durchflog schnell das Inhaltsverzeichniß des Buches und ersah
daraus, wie viel darin zu lernen, positiv Wissenschaftliches zu lernen sei. Ich
habe bereits die ersten
Abschnitte durchflogen und bin bis zum Christenthumdas zweite Kapitel in Olga Plümachers Buch „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart“ mit der Überschrift „Der Pessimismus und das Christenthum“ (S. 48-72). gekommen. Es scheint mir
ein sehr verdienstliches Werk zu sein, das in manchem Kopfe ein wenig durch
seine logische Strenge aufräumen und manchen verworrenen Gedankengang
discipliniren kann. Doch Du wirst es jetzt ja ohne Zweifel auch erhalten haben.
Bitte, schreibe mir doch dein Urtheilvgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 13.8.1884. darüber, damit ich es vergleichen kann mit dem
Eindruck, den das Buch auf mich macht, denn man ist in solchen Fällen doch nie
ganz sicher, ob man auch wirklich vorurtheilsfrei an die Lectüre geht. –––
Mit großem Vergnügen vernahm ich, daß Du Frau JahnBertha Jahn, Mutter von vier Kindern, seit Herbst 1882 verwitwet, war Inhaberin der Lenzburger Löwenapotheke. Sie wurde zur vertrauten Kritikerin von Wedekinds literarischen Projekten, zu der er seit Herbst 1884 auch eine erotische Beziehung pflegte. meine
Bilddas im Fotoatelier Gysi in Aarau angefertigte Foto Wedekinds [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. gesandt | hast. Bei meiner Abreise von Lenzburgam 1.5.1884. sagtest du ja auch, du
wollest sie einmal besuchen. Wenn Du etwas neues über sie weißt, so, bitte,
schreib es mir; es würde mich sehr interessiren. Es leben gewiß wenig Menschen,
die sie gekannt und
darauf hin nicht mehr oder weniger verehrt haben. Ein so lauteres, tiefes und
doch so lebhaftes Gemüth ist gewiß nicht leicht wo anders zu finden Und eben
diese Veranlagung ist es, die jeden fesseln muß, da sich jeder von ihr
verstanden, tief und gründlich verstanden fühlt, ohne daß ihr Wesen dabei etwas
s/S/chwankendes, Unstetes hätte. Es ist vielmehr das Allumfassende ihres
Geistes, das, im Dienste ihrer großen Güte und Menschenliebe, so vielen
Menschenkindern so unendlich viel Schönes und Gutes zu erweisen vermag. –––
Hier in Lausanne ist das Wetter gegenwärtig wunderschön und
ich hoffe von ganzem Herzen, daß es bei euch so auch so sein werde,
damit die Erbsen auch Früchte tragen, die jetzt so schön | blühen und zu denen
ich die Stecken gesteckt habe. Besonders die Umgegend der Stadt, die Dörfer auf
den Höhen und am Seeufer entlang bieten einen herrlichen Anblick und die schönsten
Spaziergänge. Ich habe auch schon einige Male meinen Herrn Philisterstudentensprachlich für: Vermieter; der Tierarzt Emile Daniel Gros. auf seiner
Landpraxis begleitet und ihm bei Operationen assistirt. Da geht es dann an
einem schönen Mittag nach dem Essen die Landstraße hinaus, auf dem
klaren See entlang, oder unter hohen Buchen und Tannen in die Berge hinauf bis
ins nächste Dorf, wo irgend ein Pferd, ein Esel oder eine Kuh krank ist. Das
Thier wird zum Stalle heraus geführt und wenn es sich nicht irgend wo am Beine
beim Gehen verletzt hat, so leidet es gewöhnlich an Husten oder Emphisem„Emphysem (griech. Windgeschwulst, Luftgeschwulst), Ansammlung von atmosphärischer Luft oder andern Gasarten in den Geweben, vorzugsweise in dem Zellgewebe unter der äußern Haut“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 5. Leipzig 1886, S. 606], daneben auch als Lungenemphysem als „abnorme Anfüllung der Lunge mit Luft“, die sich „auf das Bindegewebe der Lunge oder ihre Brustfellüberzugs [...] oder auf eine krankhafte Erweiterung der Lustbläschen selbst“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 10. Leipzig 1888, S. 1009] erstreckt.. Die
Untersuchung seitens des Doctor
bestialis(lat.) Tierarzt. geht dann exact so in gleicher Weise vor wie vom Doctor humanus(lat.) Arzt für Menschen; Humanmediziner. .
Es wird der Puls gefühlt, der Athem behorcht, die Brust geklopft, die Hitze |
des Fiebers gemessen, und dann, falls es nöthig ist, noch irgend eine Operation
vorgenommen. Der Eigenthümer des Thieres führt e/E/inen sodann in seinen
Keller hinunter und nachdem man dort zusammen ein Glas Wein getrunken, treten
Herr Gros und ich den Heimweg wieder an. ––– Herrlich ist es jetzt, hier zu
baden nur macht das Heraufsteigen vom Ufer halt doch wieder einige Mühe und
annulirthebt auf. leicht die Erfrischung. Ich wäre dir deshalb sehr dankbar dafür, wenn
du mir für solche Gelegenheiten den leinenen Rock, der in der Gespensterstube
im Schranke hängt, mit der Wäsche senden wolltest. Oskar Schibler hat mir einen
sehr lieben Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.6.1884. geschrieben. Er läßt sich bei dir noch vielmals für die
Zusendung meiner Adresse bedanken. Minna lasse ich vielmals danken für ihren
lieben großen Briefvgl. Minna von Greyerz an Wedekind 2.–5.6.1884.. Ich werde ihn heute Abend noch beantworten. Leider bleibt
mir jetzt keine Zeit, denn ich muß zum Zeichnen gehen, sonst würd’ ich ihn der
Wäsche beilegen. | Mati lasse ich herzlich danken für das schöne Hauseine Zeichnung von Wedekinds achtjähriger Schwester Emilie (Mati) [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 6.6.1884], die der Sendung ebenso wie die gepressten Blumen beilag. Wedekind bedankte sich mit einem Briefgedicht dafür [vgl. Frank Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 26.6.1884]. und die
gepreßten Blümelein Ich will ihr auch ein Verslein dafür schreiben aber es hat
Eile. Also leb denn W/w/ohl, liebe Mamma. Und sei mit all’ den Deinen
herzlich gegrüßt von Deinem treuen
Franklin.
Sende die Wäsche doch unter unserer Adresse.
F. W.
p. a. Mr. E.
Gros.
Mon Caprice
Lausanne.
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