Lausanne 2.V.84.
Lieber Papa!
Gesternam 1.5.1884. Abend um 10 Uhr kam ich glücklich in LausanneWedekind ging für ein Studiensemester der Literatur neuerer Sprachen an die Académie de Lausanne. an,
wurde von WillyWedekinds Bruder William, der nach dem Schulabschluss im Frühjahr 1883 eine kaufmännische Ausbildung in Yverdon begonnen hatte und diese seit Ende November 1883 im Speditions- und Assecuranzgeschäft von Emile Ruffieux in Lausanne fortsetzte. herzlich am Bahnhof abgeholt und in unsere gemüthliche WohnungWilliam Wedekind wohnte in Lausanne anfangs in der Pension Mercanton (Rue du Midi, 4) [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Armin Wedekind, 21.-28.11.1883, in: Familienarchiv Wedekind, Leichlingen, FW L 49] und zog spätestens mit der Ankunft seines Bruders Frank in Lausanne in die angemietete Wohnung bei dem Tierarzt Emile Daniel Gros (s. u.).
geleitet. Gestern Morgen fand ich leider keine Zeit mehr, von Mieze AbschiedWedekinds Schwester Erika, genannt Mieze, besuchte seit wenigen Tagen die erste Klasse des Töchterinstituts und Lehrerinnenseminars in Aarau [vgl. Zwölfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1884/85, S. 4], wohin sie morgens mit dem Zug fuhr. zu
nehmen, da sie so rapid zum Bahnhof hinaus | lief,
daß alles Rufen umsonst war. In Aarau war ich bei SiebenmannSiebenmann & Cie., Civil- und Militärschneiderei in Aarau; das Geschäft von Jakob Siebenmann (Zwischen den Toren) [vgl. Catalogue officiel de la quatrième exposition nationale Suisse. Zürich 1883, S. 26], der bereits im Ruhestand war, wurde von Gustav Siebenmann (1848-1930), der unter der gleichen Wohnadresse verzeichnet war (Oberthor 226) [vgl. Adreß-Buch der Stadt Aarau 1884, S. 44], und dessen Bruder Otto Siebenmann (1846-1925) (Golattenmattgasse 227) [ebd.] weitergeführt. und erkundigte mich
nach dem Anzug. Er war allerdings noch nicht fertig, wird mir ihn aber, nachdem
ich ihm meine Adresse geschrieben hierherschicken. Bis Bern saß ich zwischen
einige dicke Engländer eingeklemmt, und konnte ob ihrem eifrigen Gespräch wenig
meinen Gedanken nachhängen. In Bern hatt’ ich mich bald zurecht gefunden und
spazirte die Arcadendie charakteristischen Bogengänge in den Gassen der Berner Altstadt: „Innerhalb der alten Stadt haben die Häuser im Erdgeschoss ‚Lauben‘ (Arcaden), welche zu beiden Seiten der Strassen fortlaufende gedeckte Gänge für Fußgänger bilden.“ [Karl Baedeker: Die Schweiz nebst den angrenzenden Theilen von Oberitalien, Savoyen und Tirol. Handbuch für Reisende. 23. Aufl. Leipzig 1889, S. 132] hinunter | über die Nideckbrückedie Nydeggbrücke über die Aare. zum Bärengrabensteinernes Bärengehege mit Zwinger am Ufer der Aare.. Auf dem
Rückweg kam ich in eine katholische Kirchedie von 1858 bis 1864 erbaute Kirche St. Peter und Paul (Rathausgasse 2). „Die neue kath. Kirche in roman.-got. Stil, mit klotz. Pfeilern u. unschönem Turm, spricht wenig an, entbehrt aber in ihrem Innern nicht e. ernsten Eindrucks.“ [Iwan von Tschudi: Der Turist in der Schweiz. Reisetaschenbuch. 27. Aufl. St. Gallen 1885, S. 64] und bewunderte die Schnörkeleien und Wappen am Rathhausdas spätgotische Rathaus (1406–1415) gegenüber der Kirche St. Peter und Paul, „mit einer grossen Treppe, oben die Wappen der bernischen Aemter“ [Karl Baedeker: Die Schweiz nebst den angrenzenden Theilen von Oberitalien, Savoyen und Tirol. Handbuch für Reisende. 23. Aufl. Leipzig 1889, S. 133].. Der Dom„Das herrlich, got., im Laufe des 15. Jh. erbaute Münster [...] mit prachtvoller Hauptpforte auf der Westseite, treffl. Ornamenten, geschmackvolle durchbrochene Dachgalerie, guten Glasmalereien im Chor, schön geschnitzten Chrorstühlen v. 1512, gewalt. Orgel [...] Monumenten, Gedächtnistafeln usw., ein einfaches, aber impos. Gebäude.“ [Iwan von Tschudi: Der Turist in der Schweiz. Reisetaschenbuch. 27. Aufl. St. Gallen 1885, S. 64] gegenüber, den ich am Morgen nur von
außen betrachtete, interessirte mich aber bedeutend mehr, zumal da er das erste
Bauwerk der Art war, daß ichSchreibversehen, statt: das ich. aus der Nähe zu sehen Gelegenheit hatte. Den
Bundespalastdas Bundeshaus: „in der Bundesgasse das Bundes-Rathhaus [...], ein Flügelbau aus Sandsteinquadern im Florentiner Palaststil“ [Karl Baedeker: Die Schweiz nebst den angrenzenden Theilen von Oberitalien, Savoyen und Tirol. Handbuch für Reisende. 23. Aufl. Leipzig 1889, S. 135], der seit 1857 als Parlamentsgebäude diente (Bundeshaus West; 1892 um das Bundeshaus Ost erweitert). hatt’ ich mir dann aber doch bedeutend imposanter vorgestellt, und
auch sein Inneres an | Treppen und Corridoren weist nicht viel Bemerkenswerthes
auf. Ich hatte mir vorgenommen, nach dem Essen Otto v. Greyerzein Cousin von Minna von Greyerz aus Bern, den Wedekind in Lenzburg kennengelernt hatte, studierte seit dem Sommersemester 1882 an der philosophischen Fakultät der Universität Bern Germanistik [vgl. Matrikelbücher der Universität Bern, Sommersemester 1882, Nr. 4301. Staatsarchiv des Kantons Bern, Signatur: BB IIIb 1159]. aufzusuchen. Als
ich aber die Arcaden wieder hinaufschlenderte, da stand er plötzlich vor mir
und war sehr erfreut, mich wiederzusehn. Leider war ihm gestern Morgen ein
Onkelnicht identifiziert. gestorben, und er deshalb anfänglich in einer etwas gedrückten Stimmung. Trotzdem
widmete er mir aber den ganzen Nachmittag. Nachdem | ich bei Anderes das Restaurant Anderes (Spitalgasse 37) [vgl. Karl Baedeker: Die Schweiz nebst den angrenzenden Theilen von Oberitalien, Savoyen und Tirol. Handbuch für Reisende. Leipzig 1889, S. 131].zu Mittag
gegessen, trafen wir uns verabredeterweise und wanderten sofort in die/as/ Kunstausstellungmuseum1879 eröffnetes Museum in der Waisenhausstraße.. Zwei Stunden lang verweilten wir unter
all’ den Herrlichkeiten, vertieften uns in das Schöne und unterhielten uns über
die EffectstückeMalerei mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten (Chiaroscuro)., es war der Glanzpunkt des ganzen Tages. In einem besonderen
Zimmer waren Bilder und Entwürfe eines jungen jüngst verstorbenenGottlieb (auch: Gottfried) Boss war im Alter von 26 Jahren am 28.7.1883 bei einem Erdbeben auf Ischia ums Leben gekommen. | Berner
Malers namens Boß ausgestellt, worunter sich manch interessantes Stück befand.
Später begleitete mich Greyerz ins Münster und machte
mich dort auf vieles aufmerksam an Sculpturen und Glasgemälden, was mir ohne
dem wol kaum aufgefallen wäre. Das Denkmal Rudolfs von Erlachdie Bronzestatue Rudolfs von Erlach am Münsterplatz, „ein colossales Reiterstandbild auf hohem, mit zierlichen Ornamenten geschmücktem, Piedestal von Solothurnermarmor, zu dem mehrere Stufen hinaufführen [...] Die Statue imponirt durch edle Auffassung und schöne Durchführung des Details; besonders trefflich modellirt ist das Pferd“ [Führer durch Bern und Umgebung. Bern 1875, S. 51]. hatt ich schon am
morgenSchreibversehen, statt: am Morgen. bewundert. Aber so trefflich auch er selber
ausgeführt sein mag, so gefiel mir doch | sein Pferd wegen zu großer Plumpheit absolut
nicht. Die Aussicht von der TerasseSchreibversehen, statt: Terrasse. Gemeint ist die Münsterplattform an der Südseite des Münsters. aus war leider wegen bedeckten Himmels
äußerst beschränkt; einzig die neue Brückedie am 24.9.1883 eingeweihte Kirchenfeldbrücke. gerade unter
uns, wirklich ein kolossales Werk, vermochte meine Aufmerksamkeit zu fesseln.
Bern hat mir im allgemeinen keinen sehr günstigen Eindruck hinterlassen. Die Stadt ist wer/d/der alt noch neu, eng
und eingezwängt, besitzt nicht e/E/ine schöne Straße | und der abgelebte
Patricierhochmut und der prozenhafte Krämerreichthum schaut/e/n zu allen
Häusern heraus. Von Bern aus hatten wir einen französischen Conducteur(schweiz.) Schaffner., an dem
ich zum ersten m/M/al mein Französisch versuchte, aber geläufig ging es
natürlich nicht. In Freiburg war es nat bereits stockfinster und die Fahrt begann äußerst langweilig zu werden, besonders da an jeder
kleinen Station | gehalten wurde. Als wir von Chebrexdie Gemeinde Chexbres auf einer Anhöhe am Ufer des Genfer Sees, den Wedekind bei seinem Blick aus dem Fenster vermutlich sehen wollte.
abfuhren, blickt’ ich mit fieberhafter Spannung zum Wagenfenster heraus, aber
auf der verkehrten Seite, und als ich meinen Irrthum bemerkend auf die andere
Seite eilte, waren wir eben in einen Tunnel eingefahren. Um so überraschender
war die Ausfahrt aus dem Tunnel, als der/as/ unbegrenzte Seebecken
bestrahlt vom finsterumwölkten Monde vor meinen Augen lag. | Mit dieser
Aussicht, nur durch einige Tunnel unterbrochen, ging die Fahrt bis nach Lausanne.
Willy war am Bahnhof und empfing mich recht herzlich. Wir
spazirten sofort dem neuen Heim zu und zwar vom Bahnhof aus auf der Straße nach OuchiOuchy, der Hafen von Lausanne am Genfer See. wenige Schritte abwärts und dann linkt/s/
durch Gärten hin bis zu einer Garten Thür linker Hand. Die Herrschaftender Tierarzt Emile Daniel Gros und seine Frau Hortense (geb. Mayor). hatten
sich bereits zurückgezogen | und so saßen wir noch eine kleine Weile auf meinen
ZimmerSchreibversehen, statt: meinem Zimmer. und schwatzten. Mein Zimmer ist äußerst nett eingerichtet und ganz
geräumig und was Willy seinem in dieser Beziehung abgeht, das gewinnt es durch eine
die freie Aussicht auf den See. Monsieur und Madame sind sehr freundlich, sprechen
kein Deutsch und haben 4 kleinere Kindernicht identifiziert., wob/v/on das Älteste, ein
Mädchen leider taubstumm ist. Über die Kost kann ich noch nicht urtheilen aber
| das Frühstück war reichlich und gut. Nach dem Frühstück gingen wir zusammen auf
den Bahnhof, denn Willy hatte für den Morgen von Herrn Rüffieux frei erhalten,
und spedirtenversandten. meinen Koffer nach Haus. Dann besuchten wir die Kathedraledie Kathedrale Notre-Dame in Lausanne, „e. der schönsten got. Bauwerke der Schweiz, in der alten Cité, i. J. 1275 von Papst Gregor X. in Gegenwart Kaiser Rudolfs v. Habsburg eingeweiht u. in neuester Zeit in edler Einfachheit restaurirt.“ [Iwan von Tschudi: Der Turist in der Schweiz. Reisetaschenbuch. 27. Aufl. St. Gallen 1885, S. 161] und
den Mont Benondie Esplanade de Montbenon, Park in Lausanne mit Panoramaaussicht auf die Alpen und Genfer See., besahen die Stadt ein wenig und waren um 10 Uhr bei Mr.
RüffieuxDer Kaufmann und Versicherungsagent Emile Ruffieux, Commission & Expédition, Assurances et Importation (Place St. François 11), war der Lehrherr von William Wedekind; er war Anfang des Jahres zu Besuch in Lenzburg gewesen [vgl. William Wedekind an Frank Wedekind, 18.1.1884].. Er war äußerst freundlich, erkundigte sich nach Dir und Onkel Erich
und war sehr erfreut darüber, Dich bald | wiedersehen zu dürfen. Auf dem
Heimweg sah ich mich nach dem Namen unserer Straße um und
die genaue Adresse heißt demnach
p.
a. Mr. E.
Gros
villa Mont-Caprice,
chemin de Montchoisy
Lausanne.
übrigens habe das Pensionsgeld auch noch Zeit bis du in 10 Tagen
hierherkommst. Nach den Collegiendie Vorlesungen an der Académie de Lausanne. werde ich mich heute Nachmittag erkundigen.
Das Hotel | Beau Site liegt hinter dem Hotel Grand Pont neben dem Mont Benon. Es scheint ungefähr gleicher Qualität zu sein aber Willy
wird sich noch des Näheren erkundigen. Eben hat Willy seine
Wäsche einzupacken begonnen und so will ich denn den
Brief schließen, damit er die unentgeltliche Fahrgelegenheit benutzen kann. Ich
hoffe daß bei Euch alles wohl geblieben ist und grüße e/E/uch alle, und
vor allem Dich, lieber Papa. Dein treuer Sohn
Franklin