Berlin, Marienstraße 23.II.l.
7.V.6.
Geliebte Mama!
Was wirst Du gesternBezogen auf das Schreibdatum wäre das der 6.5.1906. Wedekind antizipiert jedoch, dass sein am späten Nachmittag des 7.5.1906 (siehe Postausgangsstempel) in Berlin abgesandter Brief, erst am 9.5.1906 in Lenzburg (siehe Posteingangsstempel) und damit einen Tag nach Emilie Wedekinds 66. Geburtstag am 8.5.1906 eintreffen würde. von mir gedacht haben, als du nochimmer
keine Nachricht keinen Gruß und keinen Glückwunsch bekommen hattest. Aber ich
habe die anstrengendste Zeit meines Daseins hinter mir. Innerhalb acht Tagen
zwei PremierenMolières „Tartuffe“ am Deutschen Theater (Direktion: Max Reinhardt) mit Wedekind in der Titelrolle am 25.4.1906 und die Uraufführung von „Totentanz“ am Intimen Theater in Nürnberg (Eigentümer: Emil Meßthaler) mit Wedekind als Casti Piani am 2.5.1906.  und dazwischen eine VerheiratungTilly Newes und Frank Wedekind heirateten am 1.5.1906 in Berlin auf dem Standesamt 12A (XIIa) für Friedrich-Wilhelmstadt und Moabit, Amtslokal: NW 52, Alt-Moabit 120 [vgl. Berliner Adreßbuch 1906, Teil II, S. 95], wie das Heiratsregister im Landesarchiv Berlin [http://landesarchiv-berlin.de] belegt (bei Wedekind und Newes Familien-Buch-Nr. 275).. Ich habe auch nie in meinem
Leben | soviel zu schreiben gehabt, was absolut geschrieben werden mußte wie
gerade in diesen Tagene.Dr. RathenauWalther Rathenau war in Berlin als „Dr. phil., Geschäftsinhaber d. Berl. Handels-Gesellsch. […] Viktoriastr. 3 II“ [Berliner Adreßbuch 1906, Teil I, S. 1765], einer 1856 gegründeten Bank zur Industriefinanzierung, verzeichnet. Wedekind hatte ihn am 22.9.1904 über Maximilian Harden kennengelernt: „Abends mit M Harden bei Dr. Ratenau diniert.“ [Tb], der Director einer der
größten Berliner Banken. Zum Arbeiten komme ich dabei natürlich fast gar nicht.
Mein letztes WerkWedekind schloss seine Arbeit an dem Einakter „Totentanz“ mit der Anfertigung einer Reinschrift am 20.6.1905 ab und schickte das Manuskript an Karl Kraus nach Wien zur Publikation in der „Fackel“, im Oktober erschien die Buchfassung bei Albert Langen (auf 1906 datiert) [vgl. KSA 6, S. 613]. Den Plan, das Stück am Wiener Bürgertheater als geschlossene Aufführung auf die Bühne zu bringen, vereitelte die Zensur am 9.8.1906 [vgl. Karl Kraus an Wedekind, 12.9.1906]. war Totentanz, das wir nun wahrscheinlich zunächst mit Adele Sandrock und meiner Tilly
in Wien | aufführen werden. Wir haben vor einigen Wochenam 13.3.1906. Bei dem Gastspiel des Deutschen Theaters am Residenztheater in Dresden trug Wedekind den „Prolog zum Erdgeist“ vor [vgl. Dresdner Nachrichten, Jg. 50, Nr. 68, 11.3.1906, S. (4)]. Wedekind notierte: „Fahrt nach Dresden | Hotel Bellevue. | Erdgeist | Nachher mit den Schauspielern und Walther Oschwald bei Kneist.“ [Tb] Die Aufführung war ein Erfolg: „Die Erstaufführung von Frank Wedekinds ‚Erdgeist‘ im Dresdener Residenztheater durch das Ensemble des Deutschen Theaters unter Reinhardts Leistung gestaltete sich, wie unser Korrespondent depeschiert, zu einem sensationellen Theaterereignis. Wedekind, Gertrud Eysoldt, Steinrück, Winterstein, Waßmann, Pagay wurden unzähligemal gerufen. Der Beifallssturm am Schlusse übertönte vereinzeltes Zischen und Pfeifen. Das Haus war überfüllt.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 35, Nr. 133, 14.3.1906, Morgen-Ausgabe, S. (3)] noch einmal mit
Erdgeist in Dresden gastiert; an dem Tage war Mieze aber gerade auf eine
Tournee gereist, nachdem sie zwei Tage vorheram 11.3.1906. Erika Wedekind war am Neuen Königlichen Operntheater in Berlin in Gioachino Rossinis „Der Barbier von Sevilla“ als Rosina zu Gast. Wedekind notierte: „Mieze singt Rosine im Barbier v. Sevilla, ich stelle ihr Tilly vor“ [Tb]. hier in Berlin mit größtem Erfolg
im Barbier gesungen hatte, worauf meine Tilly und ich S
Und was macht denn das süße Mati. Ich glaube, sie wird sich
ganz gut mit meiner Tilly verstehn., wenn sie sich kennen lernen. 
Und nun leb wol
Grüße bitte alles aufs herzlichste, Geliebte Mama, und sei herzlichst gegrüßt von
Deinem getreuen Sohn
Frank
[Kuvert:]
Frau
Emilie Wedekind
Lenzburg
Ct.Aargau Schweiz.