Kennung: 5180

München, 25. April 1901 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

Meine liebe Mama!

um Weihnachten machte ich MiezeHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Erika Wedekind, 23.12.1900. sowohl wie dir den VorschlagDer Mutter gegenüber machte er den Vorschlag erst einen Monat später [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 21.1.1901]., mir jede Zuschrift an Donald sofort zuzuschicken. Ich bin heute noch überzeugt daß, wenn Ihr meinen Rat befolgt hättet, diese trostlose Dresdener EpisodeDonald Wedekind versuchte während seines Aufenthalts bei seiner Schwester Erika in Dresden im September und Oktober 1900 eine regelmäßige Unterstützungszahlung durch seine Familie zu erwirken [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 3.10.1900]. Er erneuerte diesen Vorschlag aktuell in einem (nicht überlieferten) Brief an seinen Schwager Walter Oschwald [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 22.4.1901] und drohte möglicherweise – wie früher schon – mit Suizid [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 9.12.1900], sollte ihm dies verweigert werden (siehe unten). nicht stattgefunden hätte. Statt dessen hat ihm Mieze ohne mein Wissen sofort wieder einen langen BriefDer Brief Erika Wedekinds an ihren Bruder Donald – wahrscheinlich die Antwort auf dessen Schreiben an Walther Oschwald von Mitte des Monats [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 22.4.1901] – ist nicht überliefert. geschrieben, in dem sie ihm die Stellung die ich in der Angelegenheit zu nehmen gedachte, vollkommen preisgiebtDies konnte Frank Wedekind aus der Schlusspassage von Donald Wedekinds letztem Brief schließen [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 22.4.1901]. Woher er allerdings Kenntnis von weiteren Inhalten in Erika Wedekinds Brief hatte, ist unklar, möglicherweise aus dem nicht überlieferten Brief der Mutter (s.u.).. Ich bin nun | auch jetzt noch dazu bereit, die Beantwortung m/s/einer Briefe auf mich zu nehmen. Aber erste Bedingung dabei wäre natürlich, daß Donald nichtsNeben der Unterstreichung des ganzen Satzes hat Wedekind dieses Wort zusätzlich noch zweimal unterstrichen.. Wenn Ihr euch zur Erfüllung dieser Bedingung nicht verstehen könnt dann kann ich euch auch mit dem besten Willen nicht helfen. Wie soll ich meinen Einfluß auf Donald wahren, wenn ihm Mieze Dinge über mich schreibt, von denen ich selber gar keine Ahnung habe, wie die Mittheilung, ich hätte ihr irgend etwas in ihrem Verhalten zur Pflicht gemacht. Ich finde überhaupt daß in dieser Angelegenheit viel zu viel geschrieben wird. Jetzt soll ichvermutlich Aufforderungen der Mutter in ihrem letzten (nicht überlieferten) Brief (s. u.). an Armin schreiben, Armin soll an mich schreiben, Donald soll an Armin sh/c/hreiben. Wozu das alles! Was kann Armin jetzt in | dieser Angelegenheit helfen! Wenn ihr mit Donald fertig werden wollt, dann antwortet ihm auf seine Briefe das, was ich euch in die Feder dictieren werde; aber auch nicht ein Wort mehr. Dann gebe ich euch die Versicherung, daß die ganze Correspondenz innerhalb weniger w/W/ochen eingeschlafen sein wird.

Du schreibst mirDas Schreiben ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 23.4.1901., liebe Mama, ich solle jetzt etwas für Donald thun. Aber du lieber Gott, ich thue ja fortwährend für ihn was man nur für einen Menschen thun kann. Wenn sich meine Freunde in BerlinDonald Wedekind war seit der letzten Märzwoche in Berlin [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 22.4.1901]. seiner annehmen, so geht das alles auf meine Rechnung. Und wenn er in Berlin täglich Gelegenheit hat mit den einflußreichsten Menschen zusammenzutreffen, so trage ich das Risico dafür. | Mieze ist eine reiche Frau, sie verdient im Jahr fünf Mal mehr als ich und hat die besten Beziehungen zu allen Bühnen Deutschlands. Dabei hat sie aber in der ganzen Welt niemanden, der Donald auch nur drei Tage bei sich beherbergen würde. Mein Freund ReßnerDer mit Wedekind befreundete Franz Ressner (Pseudonym von Carl Rößler) war Oberregisseur und Schauspieler an Ernst von Wolzogens Buntem Theater (Überbrettl) (Direktion: Ernst von Wolzogen und Moritz Muszkat) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 263] in Berlin. Eine Mitarbeit Donald Wedekinds dort kam nicht zustande [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 13.5.1901]. hat sich Donad/l/ds nur/n/ meinetwillen angenommen, ohne ihn zu kennen und ohne von mir bis jetzt auch nur ein Wort des Dankes dafür erhalten zu haben. Thatsächlich bin ich Reßner natürlich ungeheuer dankbar dafür, es hätte mir kaum je jemand einen größeren Gefallen erweisen können. Ich habe ihm aber eben deshalb bis heute noch nicht geschrieben, weil ich das Briefschreiben in solchen Fällen für durchaus nachtheilig halte.

Du schreibst mir, liebe Mama, ich | möchte Donald jetzt eine feste Stellung verschaffen. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn er nicht zu vertrode/d/elt wäre hätte er bei seinem Verkehr in Berlin nach den ersten acht Tagen eine feste Beschäftigung gehabt. Aber ich bin überzeugt, daß er nicht einmal das Ein Mal Eins auswendig kann. Anderseits ist das Element in dem er in Berlin augenblicklich verkehrt, das allergünstigste für ihn. Wenn er irgendwo schwimmen lernen kann, so ist es eben gerade diese Gesellschaft. Übrigens höre ich von so und soviel Bekannten, die ihn in Berlin getroffen haben, daß er kreuzfidel ist, daß er wieder sprechen gelernt hat und daß seine Interessen am praktischen Leben | sich mit jedem Tage steigern. Anderseits höre ich auch von Beiträgen die er dem Simplicissimus und der Insel eingeschickt ist/ha/t, die aber leider vor der Hand noch nicht zu gebrauchenNach Donald Wedekinds Novellen-Publikationen im „Simplicissismus“ in den Jahren 1896 und 1897 ist dort nichts mehr von ihm erschienen, ebensowenig in der Zeitschrift „Die Insel“. sind. Meiner Ansicht nach kann er jetzt gar nicht lange genug in dem Berliner Hexenkessel schmoren. Je mehr er durchmacht, je mehr er erlebt, um so besser ist es für ihn. Seinen dortigen Bekannten kann er nicht mit solch albernen DrohungenDonald Wedekind versuchte wiederholt seinen Bitten um Geld mit der Androhung von Selbstmord Nachdruck zu verleihen [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 9.12.1900 und Frank Wedekind an Donald Wedekind, 7.1.1901]. kommen wie er sie euch auftischt und die unter allen Umständen eines Menschen unwürdig sind. Wenn ihm das Wasser am Mund steht, dann weiß er ja auch immer noch daß er nach München kommen kann. Das ist ihm aber vorderhand noch viel zu unbequem, | er hat eine Heidenangst vor dem Verkehr mit mir und das ist das was mich an unseren Beziehungen am meisten freut.

Also liebe Mama, lassen wir die Dinge am besten gehen, wie sie gehen müssen und wollen. Wenn ich einsehe, daß Donald zu einem praktischen Zweck wirklich einmal Geld braucht, dann würde ich m/M/ieze darum bitten, es ihm zu schicken. Sonst aber ist es für ihn jetzt daß/s/ Wichtigste, daß er sich möglichst viel mit fremden Menschen abfinden lernt. Dazu giebt es für ihn keinen besseren Platz als Berlin. Wenn ihm ein verliebtes Mädchen 10 Mark schenkt, so ist al/d/as allerdings an sich nichts erfreuliches. Es ist aber immer noch viel erfreulicher als wenn er die 10 Mark durch unwürdige Drohungen von Dir erpreßt. |

Seit acht Tagen sind Graf Keyserling und ich wieder in MünchenWedekind hatte Mitte oder Ende März 1901 in Begleitung von Max und Luise Halbe, Eduard von Keyserling und Hans Richard Weinhöppel eine Reise nach Italien unternommen, „die ihn über Bozen und Verona nach Venedig führte“ [KSA 4, S. 590]. Am 13.4.1901 war er zurück in München [vgl. Wedekind an Bertha Doebler, 14.4.1901].. Ich singe jetzt jeden Abend bei den „ScharfrichternDas Münchner Kabarett Die Elf Scharfrichter, das seine Bühne im Hinterhaus des Wirtshauses Zum goldenen Hirschen (Türkenstraße 28) hatte, eröffnete am 13.4.1901: „Wir machen nochmals darauf aufmerksam, daß die Eröffnungsvorstellung der elf Scharfrichter Samstag, 13. April, Abends 8 Uhr, als Galaexekution [...] stattfindet.“ [Die elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 166, 10.4.1901, Vorabendblatt, S. 2] Diese Vorstellung hat Wedekind besucht. Tags zuvor, am 12.4.1901, hatte bereits eine als ‚Ehrenexekution‘ bezeichnte Auftaktveranstaltung stattgefunden: „Mit der Ehrenexekution des gestrigen Abends hat das sogenannte ‚Ueberbrettl‘ auch in München seinen Einzug gehalten.“ [Die elf Scharfrichter. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 104, Nr. 102, 13.4.1901, Abendblatt, S. 1] „Am letzten Freitag haben die Elf Scharfrichter uns zum ersten Male in ihre Henkerstube an der Türkenstraße blicken lassen“ [Ernst Posselt: Die Elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 178, 17.4.1901, Vorabendblatt, S. 2]. Wedekind war Gründungsmitglied und gehörte dem Ensemble mit Unterbrechungen bis 1903 an., dem Münchner Überbrettl, und zwar vor dem besten Publicum Münchens. Wir haben die ganze Hofoper zu Zuhörern. Ich habe zu dem Zweck zu meinen Gedichten die allerconfiscirtestenzeitgenössisch verbreitet für: allerübelsten. Melodien gemacht. Mein Freund Richa Hans RichardDer Komponist und Sänger Hans Richard Weinhöppel gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Elf Scharfrichter und trat dort unter dem Pseudonym Hannes Ruch auf., dessen sich Mieze vielleicht noch erinnert und meine Wenigkeit, sind, was die Musik betrifft die beiden Stützen des Unternehmens. Jeden Abend ist das Haus bis auf den letzten Platz ausverkauft. Dabei haben wir eine Anzahl der schönsten Frauen zu Mitwirkenden, mit denen man nach Schluß der Vorstellung im Zuschauerraum zusammen kneipt. Nach dem | allgemeinen Urtheil steht unser Unternehmen künstlerisch in jeder Beziehung hoch über dem Wolzogen’schen Bunten TheaterErnst von Wolzogens Buntes Theater (Überbrettl) wurde am 18.1.1901 in Berlin im Secessions-Theater (Alexanderstraße 40) eröffnet und gilt als das erste deutsche Kabarett. Im November bezog Wolzogen mit seinem Theater ein eigenes Haus in der Köpenickerstraße 67/68 [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 268]. in Berlin. Meine Compositionen werden übrigens demnächst auch im DruckIm November 1901 erschienen „Brettl-Lieder von Frank Wedekind“ bei der Harmonie Verlagsgesellschaft für Literatur und Kunst in Berlin (o. J.) – fünf Gedichte in einer Fassung für Gesang, Gitarre und Klavier, die auch als Separatdruck erschienen waren. In der Sammlung enthalten waren „Ilse“, „Brigitte B.“, „Das Goldstück“, „Die sieben Heller“ und „Mein Lieschen“ [vgl. KSA 1/III, S. 324-326]. erscheinen.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Mach dir Donalds wegen nicht zu viel Sorgen. Mit den herzliche/st/en Wünschen für Euer Aller Wohlergehen und den besten Grüßen an Dich und die Andern bin ich Dein getreuer
Sohn
Frank.


Max Halbe kommt mit seiner Frau erst Morgen von Wien zurück. Er wird sich sehr freuen, daß Ihr seiner in Freundschaft gedenktMax und Luise Halbe hatten anlässlich der Uraufführung von Halbes Drama „Haus Rosenhagen“ am 14.2.1901 in Dresden [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 21.1.1901] während ihres Aufenthalts dort Wedekinds Mutter und Schwester getroffen, woran die Mutter in ihrem nicht überlieferten Brief offenbar erinnert hat..

München 25. April 1901.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Dresden-Strehlen
Julius Otto Strasse 9. |

FRANK WEDEKIND
Franz Josefstr. 42/II.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 6 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Empfängeradresse in lateinischer Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt und Einzelblatt. Seitenmaß 12,5 x 20 cm. 9 Seiten beschrieben. Kuvert 13 x 10,5 cm. 1 Seite beschrieben. Mit aufgedruckter Absenderadresse.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben. Kuvert im Querformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Uhrzeit im Postausgangsstempel München: „6–7 N“ (= 18 bis 19 Uhr). Uhrzeit im Posteingangstempel Dresden: „1–2 N“ (= 13 bis 14 Uhr).

Erstdruck

Briefwechsel mit den Eltern 1868‒1915. Band 1: Briefe

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon
Verlag:
Göttingen: Wallstein
Jahrgang:
2021
Seitenangabe:
325-327
Briefnummer:
161
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Konvolut Burkhardt, Nidderau
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 25.4.1901. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

21.03.2024 10:47