Kennung: 5173

München, 10. Oktober 1900 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

Liebe Mama,

ich komme herzlich spät dazu, Dir Deine beiden lieben Briefenicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.1900 und 10.9.1900. zu beantworten. Aber daran sind die Verhältnisse schuld. Vor allem, daß diese ErbschaftsgeschichteWedekinds Tante Auguste Bansen, die jüngste Schwester seines Vaters, war am 15.12.1899 in Hannover kinderlos gestorben und hinterließ ihren Neffen und Nichten ein Erbe von je 5000 bis 6000 Mark [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind, 20.1.1900; AfM Zürich, PN 169.05.92]. Noch in der Haft beauftragte Wedekind seinen Schwager Walther Oschwald mit der Interessensvertretung in dieser Sache gegenüber dem Hannoveraner Anwalt Hans Heiliger, der die Erbschaftangelegenheit abwickelte. Zum Leidwesen Wedekinds zog sich die Auszahlung jedoch in die Länge und gestaltete sich für ihn entsprechend konfliktreich (siehe seine Korrespondenz mit Walther Oschwald). zusammenfiel mit meinem neuen Eintritt ins Leben, mit dem Ende meiner Festungshaft. Ich möchte denjenigen sehen den unter solchen Verhältnissen nicht die Aussicht auf eine außerordentliche Hülfe, deren Eintritt sich von Monat zu Monat von Woche zu Woche verzögert, aus | aller Contenance brächte. In der That war ich zum Schluß auch mit meiner Gesundheit am alleräußersten RandeWedekind hatte sich aufgrund einer „Nervenkrise“ [Wedekind an Walther Oschwald, 1.8.1900] im Juli 1900 in Leipzig in eine Klinik einweisen lassen, nachdem er persönlich nach Hannover gereist war, um die Auszahlung der Erbschaft zu erwirken, jedoch ohne Erfolg. und auch heute noch ist jeder Tag eine Art von Reconvalescenz für mich. Es kam vor allem auch daher, daß ich mich in den ersten Monaten meines Aufenthaltes in München bei der Fertigstellung meines neuen StückesWedekind arbeitete bis Mitte Mai 1900 am „Marquis von Keith“ [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 28.5.1900], also auch dann noch, als im April und Mai die ersten Akte in der Zeitschrift „Die Insel“ bereits erschienen waren [vgl. KSA 4, S. 413].Marquis v. Keith“ effectiv geistig überanstrengt hatte. Ein Trost bei alledem war mir der Gedanke an das arme LehnchenWedekinds Cousine Helene Wedekind (verwitwete Maedge), seit 1.5.1897 verheiratet mit dem Kaufmann Georg Uhlig, war mit ihrer Familie am 24.1.1899 nach New York ausgewandert. in Amerika, die unter der infernalischen Procedur dieses Herrn | Heiliger wahre Höllenqualen gelitten haben muß.

Wie Du weißtvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1900. hatte ich die Absicht, mich in meiner dramatischen Kunst zu vervollkommnen, um wieder selber als Schauspieler auftreten zu können. Ich hatte mich auch thatsächlich mit einem hiesigen Hofschauspieler in Verbindung gesetzt und war eben im Begriff die erste Unterrichtsstunde zu nehmen als heute vor acht Tagenam 2.10.1900 (genau gerechnet). ein Agentnicht identifiziert. hier eintraf und mich aufforderte, sofort mit nach Rotterdam zu kommen und dort im kgl. Schauspielhaus, wo eine deutsche Truppe gastiert, die Titel|rolle des Kammersänger zu spielenAm 6.10.1900 fand in Rotterdam am Großen Schauspielhaus ein „Gastspiel des Dr. HEINE-Ensemble“ statt ‒ im Anschluss an Max Halbes „Jugend“ wurden Wedekinds drei Szenen „Der Kammersänger“ aufgeführt [vgl. Rotterdamsche Nieuwsblad, Jg. 23, Nr. 6919, 6.10.1900, S. (4)]. Wedekind spielte in seinem Stück erstmals die Titelrolle; eingeladen dazu habe ihn Carl Heine, wie die niederländische Presse berichtete.. Bedingungen: freie Hin-und Rückfahrt, freie Unterkunft im ersten Hotel in Rotterdam und 100 Mark Honorar. So abenteuerlich mir die Sache erschien ging ich darauf ein. Heute Morgen bin ich zurückgekommen Alles gelang aufs beste; ich hatte mit meinem Stück sowohl wie als Darsteller den größten Erfolg. So ist in der unverhofftesten Weise das Eis gebrochen und ich beginne jetzt sofort mit der Einstudierung der TitelrolleWedekind spielte die Rolle des Marquis von Keith erstmals am 20.10.1902 in einer geschlossenen Vorführung des Akademisch-Dramatischen Vereins am Münchner Schauspielhaus, bei der er auch Regie führte – ein Jahr nach der Uraufführung des Stücks am Berliner Residenztheater am 11.10.1901 unter der Regie von Martin Zickel. meines Marquis v. Keith. Dieses Stück erscheint im Lauf der nächsten Tage als BuchWedekinds neues Stück erschien unter dem Titel „Marquis von Keith (Münchner Scenen), datiert auf 1901, bereits im Herbst bei Albert Langen in München [vgl. KSA 4, S. 425], so dass er Exemplare an Freunde verschicken konnte [vgl. Wedekind an Otto Eisenschitz, 1.11.1900]. bei Albert Langen. Ich werde mir die Freude machen, Dir ein Exemplar | davon zuzuschicken. Nach dem allgemeinen UrtheilWedekind hatte sein Stück nach der Fertigstellung im Mai seinen Münchner Freunden vorgelesen [vgl. KSA 4, S. 533, 536f.]. Da Rezensionen der Zeitschriftenpublikation des „Marquis von Keith“ (unter dem Titel „Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet von Frank Wedekind“) in „Die Insel“ nicht belegt sind, bezieht sich Wedekinds Äußerung wahrscheinlich auf die Reaktionen seiner Zuhörer. ist es das beste und reifste was ich bis jetzt geschrieben habe.

Das erste was ich mir anschaffte als ich das Geld erhaltenWedekind hatte, um nicht länger auf das bevorstehende Erbe seiner Tante Auguste Bansen warten zu müssen, bei seiner Schwester Erika ein Darlehen über 3000 Mark aufgenommen [vgl. Walther Oschwald an Wedekind, 9.9.1900]. hatte war ein Rad. Dieses Rad hat mir bis jetzt schon ungemein viel Freude bereitet. Ich radle täglich mit Max Halbe, dem Dichter der Jugend, in der Umgegend von München herum. Das prachtvolle Herbstwetter kommt uns dabei ungemein zu statten. Überhaupt hab ich das Gefühl, als ob ich jetzt, wo ich einigermaßen den Ertrag meiner langjährigen Mühen und Arbeit erndte, | erst richtig jung würde. Vor vierzehn Tagen war in München das OktoberfestDas Oktoberfest auf der Münchner Theresienwiese dauerte vom 23.9.1900 bis zum 7.10.1900 [vgl. October-Fest-Zeitung, Jg. 7, 1900, S. (2)]., dasselbe was in /Dre/sden die Vogelwiesetraditionelles Dresdner Volksfest: „Die Dresdner Vogelwiese, ein großes Volksfest, veranstaltet von der Dresdner Bogenschützen-Gilde, mit Vogelschießen, Schau- und Schankbuden, Karussels, Illumination und Feurwerk usw. findet alljährlich Ende Juli und Anfang August auf den Elbwiesen oberhalb Dresdens statt und dauert 8 Tage.“ [Führer durch Dresden. Überreicht von Gustav Härtig. Dresden 1901, S. 28] ist, nur mit dem Unterschied, daß hier auch die geistige Aristokratie, HeyseAn den berühmten und einflussreichen Münchner Schriftsteller Paul Heyse (Louisenstraße 22) [vgl. Adreßbuch von München 1900, Teil I, S. 228 und Tb 5.7.1889] hatte sich Wedekind 1891 mit seinem Lustspiel „Kinder und Narren“ mit der Bitte um Fürsprache gewandt [vgl. Wedekind an Paul Heyse, 9.3.1891], allerdings ohne Erfolg., LenbachDer Professor und Kunstmaler Franz Ritter von Lenbach (Louisenstraße 33) [Adreßbuch von München 1900, Teil I, S. 326] zählte zu den Münchner Honoratioren und war ein bekannter und erfolgreicher Porträtmaler. e. ct. an den Belustigungen theilnimmt. Bisher hatte ich immer eine unüberwindliche Abneigung gegen derartige Veranstaltungen, während ich mich auf der heurigen Oktoberwiese mit meinen Freunden kostbar amüsirt habe. Möglich auch, daß an alledem die acht MonateWedekind war seit dem 2.6.1899 im Leipziger Gefängnis, ab dem 21.9.1899 dann auf der Festung Königstein inhaftiert und wurde am 3.2.1900 entlassen. Gefängnis und Festung schuld sind. So war auch vor acht Tagen | die Fahrt den Rhein hinunter ein ungetrübter Genuß für mich. Ich kam dabei nicht über das Gefühl hinaus als hätte ich in frühester Kindheit schon einmal dieselbe ReiseFriedrich Wilhelm Wedekind war am 18.7.1872 mit seinen beiden 8 und 9 Jahre alten Söhnen Frank und Armin und von Hannover in die Schweiz gereist. Armin Wedekind schilderte die Reise, die über Frankfurt und Heidelberg den Rhein entlang nach Zürich führte, in seinem „Tagebuch aus Bändlikon“ [vgl. Tb Armin Wedekind]. gemacht. Jeder Ausblick, jeder Berggipfel, jede Ruine war mir eine dunkle Erinnerung. Nach meinem Auftreten in Rotterdam am vergangenen Samstagam 6.10.1900. habe ich mir ganz Holland angesehen, Amsterdam, den Haag, Harlem, Utrecht, Dortrecht. Auf der Rückfahrt blieb ich einen Tag in Köln und studierte den Dom von InnenSchreibversehen, statt: von innen. und außen. Jetzt bin ich eben im Begriff, einen neuen Einakter„Die Konzeption des unvollendet gebliebenen dramatischen Werkes in 4 Akten entwickelte Wedekind bereits 1893 in Paris. Fragmente des ‚Sonnenspectrum. Ein Idyll aus dem modernen Leben‘, welche den 1. und 2. Akt betreffen, sind aus dem Jahr 1894 überliefert. Die zeitlich letzte Fassung besteht nur aus dem gesamten 1. Akt aus dem Jahr 1895/1896. […] Um das Fragment […] zu verwerten, entschloss er sich, Teile des 1. Akts, leicht überarbeitet, als Einakter zu edieren.“ [Vinçon, 2021, Bd. 2, S. 202] Die ersten beiden Szenen des Stücks erschienen unter dem Titel „Garten des Todes“ im „Simplicissimus‘ [Jg. 6, Nr. 31, 21.10.1901, S. 242] [vgl. KSA 3/II, S. 1355 f.].Das Sonnenspectrum“ | fertig zu schreiben, vom dem ich mir mindestens in der Presse einen bedeutenden Erfolg verspreche. Mein Kammersänger ist derweil schon in dritter AuflageWedekinds Einakter „Der Kammersänger. Drei Scenen“ erschien im Februar 1899 bei Albert Langen. Mitte 1900 folgte die zweite Auflage in einer überarbeiteten Fassung [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 67, Nr. 142, 22.6.1900, S. 4730] und noch im selben Jahr deren unveränderter Nachdruck als dritte Auflage [vgl. KSA 4, S. 332f.]. Der Verlag bewarb die Neuauflage mit den Worten: „Der Kammersänger wurde bisher in Berlin (Sezessionsbühne), Breslau, Halle, Hannover (Dr. Carl Heine-Ensemble), Leipzig, München, Prag und Wien (Sezessionsbühne) mit durchschlagenden Erfolge aufgeführt und gelangt demnächst in Altona, Berlin (Lessingtheater), Dresden, Hannover (Residenz-Theater), Hamburg, Wien (Theater in der Josephstadt) Wiesbaden, Zürich und Zwickau zur Aufführung. Ich bitte die Herren Sortimenter, in deren Stadt ‚Wedekinds Kammersänger‘ auf dem Spielplan steht, das Buch ständig auf Lager zu behalten und an den Aufführungstagen im Schaufenster auszustellen. […] München, Anfang September 1900. Albert Langen“ [Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 67, Nr. 217, 18.9.1900, S. 6953]. erschienen.

Ich hoffe von Herzen, liebe Mama, daß es Dir sehr gut gehe/t/ und daß Du Dich dieser schönen Tage in vollem Besitz Deiner Gesundheit erfreust und daß Du Dich ihrer noch recht recht lange erfreuen mögest. Grüße bitte Mieze und Walther.

Mit den herzlichsten Grüßen und besten Wünschen für Dich
Dein treuer Sohn
Frank.


München, Franz-Josef-Straße 42.II.
10. Oktober 1900.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Feder. Tinte.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    10. Oktober 1900 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Dresden
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

(Band 2)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
55-57
Briefnummer:
181
Kommentar:
Im Erstdruck unvollständig ediert. Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 318-320 (Nr. 158).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 10.10.1900. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

19.04.2024 15:40