Kennung: 5013

Oetlikon, 5. Februar 1888 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Haemmerli-Marti, Sophie

Adressat*in

  • Henckell, Karl
  • Wedekind, Frank

Inhalt

Sophie Marti
entbietet den beiden Musenjüngern

Herrn Franklin Wedekind u.
Herrn Karl Henckell,
vor deren Geistes Leuchte und göttlichem Beruf sie sich in Demuth neiget,

Gruß und Heil!

Zugleich wagt sie es, voll Ehrfurcht und Vertrauen ihre Augen aufzuheben und zwei inhaltsreiche Fragen, die ihrer Seele Tiefen entstiegen, zur gnädigen Beantwortung vorzulegen:

I Ist es wirklich nöthig, die göttliche Gabe der Poesie immer und überall anzuwenden, auch da, wo sie | unter Umständen sogar gefährlich werden könnte? Um deutlicher zu sein, sollte man sich nicht ein bischen in Acht nehmen, z. B. in BriefenSophie Marti bezieht sich mit ihren ironischen Fragen auf Wedekinds scherzhaften Brief vom 23.1.1888. seine Phantasie und sein schriftstellerisches Talent zu sehr walten zu lassen? Es kann sonst etwa ’mal Zeug herauskommen, das Niemand auf der lieben Welt glaubt, am allerwenigsten der Verfasser selber – ist’s nicht so, Herr Franklin?

II. Wie wär’s, wenn die beiden Götterjünglinge einmal herunterstiegen von Olympos HöhenDer Olymp ist das höchste Gebirge Griechenlands; in der griechischen Mythologie gilt er als Wohnsitz der Götter., sich zum heiteren Genuß ins bunte Gewühl der Sterblichen zu mischen? Es bietet sich gerade dazu prächtige Gelegenheit, die Sie sicher nicht | unbenutzt dürfen vorbeigehn lassen! Bitte lachen Sie mich nicht aus, aber ich kann doch wahrhaftig nichts dafür, daß es mich sehr freuen würde, Sie Beide nächsten Donnerstagam 9.2.1888, dem ‚schmutzigen Donnerstag‘, an dem die Badener Fasnacht mit Fasnachtsbräuchen und den Maskenbällen begann. am Badener KurhausGemeint ist der 1875 eröffnete Kursaal der Stadt Baden.-Maskenball zu treffen! Er beginnt um 8 Uhr, und soll sehr schön und sehr amüsant sein! Sie dürfen aber ja nicht zu spät kommen, denn um halb 9 Uhr wird ein feiner Fischertanz aufgeführt – ich freue mich ganz schrecklich – nicht sowohl weil ich dann allen Leuten die Wahrheit sagen darf, als weil mir’s dann Niemand übel nimmt, was mir leider nur zu oft passirt. Und dann ist’s ja auch ein herrliches Gefühl, einmal | so von ganzem Herzen närrisch sein zu dürfen, während doch jeder heimlich bei sich selber über seinen immensen Witz staunt! Aber bitte, kommen Sie, es wäre zu nett, herausfinden werd ich Sie schon und amüsiren werden Sie sich sicher auch.

Ich verspare also alle anderen Mittheilungen auf den Donnerstag, nur etwas muß ich Ihnen noch schnell sagen, das Sie sicher intressirt: Meine alte Theemaschinevermutlich ein Samowar. ist nämlich in letzter Zeit mächtig stolz geworden und weigert sich des Entschiedensten, gewöhnlichen Menschenkindern ihre Dienste zu leihen, seit sie, wie sie behauptet, einen Begriff von „Etwas Höherem“ bekommen. Vergebens stelle ich ihr vor, daß | es uns Menschen nicht anders ergeht, und wir uns drein fügen müßten, trotzdem wir viel mehr sind als eine Theemaschine – Vergebens, sie bleibt dabei, und so muß ich ihr wohl den Willen lassen.

GroßvaterSophie Marti, die im Januar 1888 Lehrerin in Oetlikon geworden war, wohnte bei der Müllersfamilie in der Dorfmühle. Der Großvater, der nur noch in seinem Bett lag, starb während ihres Aufenthalts im Herbst 1888 [vgl. Sophie Haemmerli-Marti: Mis Aargäu, Land und Lüt us miner Läbesgeschicht (1939], S. 118]. und ich werden mit jedem Tag bessere Freunde, er erzählt mir viel aus seiner Jugendzeit, und fragt dann oft ganz plötzlich, ob ich ihn/m/ nicht sagen könne, wie der Erfinder des Blitzableiters geheißenDer Politiker (Mitautor der amerikanischen Verfassung), Schriftsteller und Erfinder Benjamin Franklin, nach dem Wedekind benannt worden war (Benjamin Franklin Wedekind), hatte 1752 den Blitzableiter erfunden. habe? Sie sehen, auch hier sind Sie in gutem Andenken geblieben — Ihre Grüße machten große Freude und werden herzlich erwidert.

Und nun leben Sie | wohl und laßen Sie sich Donnerstags nicht vergebens suchen. - Doch was ist das? Leises Flüstern und Raunen von meiner Bibliothek her, — versteh ich’s recht, so sind es beste Empfehlungen und Grüße von d. Herren Goethe, Schiller, Lessing und Wieland an ihre werthen Collegen in Zürich!

Apropos, wie Sie sehen, hab ich Ihnen das fidele PostreiseliedDas Volkslied „Die Stationen des Lebens“, von August Friedrich Langbein gedichtet und vertont, wurde zuerst 1788 in Weimar veröffentlicht [vgl. „Der Teutsche Merkur“, Jg. 16, 1788, 2. Bd., April, S. 373-374]. Der Großvater hatte das Lied Sophie Marti beigebracht [vgl. Sophie Haemmerli-Marti: Mis Aargäu, Land und Lüt us miner Läbesgeschicht (1939], S. 115]. hier zum Andenken aufgeschrieben, und hoffe, daß es Ihnen recht zu Gemüthe steigt! |

Auf fröhliches Wiedersehen denn im göttlichen Reiche der Narrheit, und nochmals besten Gruß!

Oetlikon, 5./II 1888. S. M.


[Beilage:]


Altes Lied.

(Bekannte Melodie!)


Schon haben viel Dichter, die lange verblichen,
Das Leben mit einer Postreise verglichen;

Doch hat uns bis heute, so viel mir bekannt,
Die Poststatiónen noch keiner genannt.


Die erste geht sanft durch das Lädchen der Kindheit,
Hier seh’n wir, geschlagen mit glücklicher Blindheit,

Die lauernden Sorgen am Wege nicht stehn,
Und rufen beim Blümchen: Ei, eia, wie schön!


Wir kommen mit klopfendem Herzen zur zweiten,
Als Jüngling und Mädchen, die schon was bedeuten,

Hier setzt sich die Liebe mit uns auf die Post
Und reicht uns bald suße, bald bittere Kost! |


Die Fahrt auf der dritten giebt tüchtige Schläge,
Der heilige Ehstand verschlimmert die Wege,

Oft mehren auch Mädel und Jungen die Noth
Sie laufen am Wagen und schreien um Brod.


Noch ängstlicher ist auf der vierten die Reise
Für steinalte Mütter und wankende Greise.
Der Tod auf dem Kutschbock als Postillion
Jagt wild über Hügel und Thäler davon.


Auch Reisende, jünger an Kräften und Jahren,
Beliebt oft der flüchtige Postknecht zu fahren;
Doch alle kutschirt er zum Gasthof der Ruh’ –
Nun, ehrlicher Schwager, wenn das ist, fahr zu!

–––––

– Aus Urgroßvaters Gedächtnißkasten.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 6 Blatt, davon 9 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 2 Doppelblatt. 7 Seiten beschrieben. Seitenmaß 11,5 x 18 cm. Beilage. 1 Doppelblatt. 2 Seiten beschrieben. Seitenmaß 11,5 x 18 cm. Alle Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf Seite 1 des Briefs hat Wedekind das Datum („5. II 88“) notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Oetlikon
    5. Februar 1888 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    Oetlikon
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Zürich
    Datum unbekannt

Erstdruck

Lenzburger Neujahrsblätter

Titel des Aufsatzes:
Sophie Haemmerli-Marti und Frank Wedekind – eine Begegnung
Autor:
Rolf Kieser
Ort der Herausgabe:
Lenzburg
Jahrgang:
1990
Seitenangabe:
33-34
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 112
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Sophie Haemmerli-Marti an Karl Henckell, Frank Wedekind, 5.2.1888. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

24.02.2024 21:18