Kennung: 5005

München, 3. August 1912 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Münchner Zensurbeirat, (Gremium)

Inhalt

Wenn Sie Ihre Stücke für künstlerisch wertvoll halten, dann lassen Sie sie doch in Berlin oder Frankfurt a.M aufführen Aber kommen Sie nicht damit nach München.

[...] |

Den Münchner ZensurbeiratAnfang 1908 hatte der Münchner Polizeipräsident Julius von der Heydte ein aus Münchner Honoratioren zusammengesetztes Gremium (Schriftsteller, Theaterleute, Universitätsprofessoren, Oberstudienräte) berufen, um seine „zensurpolitischen Entscheidungen durch den Rat der Gutachter zu legitimieren.“ [Vinçon 2014, S. 213] Nach der ersten Besprechung am 20.3.1908 war der Münchner Zensurbeirat konstituiert, dessen Vorsitzender der Polizeipräsident war und der bis zur Aufhebung der Theaterzensur am 21.11.1918 in teils wechselnder, teils konstanter Zusammensetzung bestehen blieb [vgl. Meyer 1982, S. 86]. Der Münchner Zensurbeirat sprach sich wiederholt mehrheitlich gegen die Aufführung von Wedekinds Dramen aus [vgl. KSA 5/III, S. 776f.]; „Objekt und Opfer der Zensurverbote war regelmäßig Frank Wedekind.“ [Meyer 1982, S. 68] durch ein Kollegium oder ersten Münchener Hotelportiers zu ersetzen. |

[...]

Eines weiß ich bestimmt daß ich vor dem Dramatiker, der sich auf ein so schandbares Zusammenwirken von Polizei und Zensurbeirat einlassen könnte, fer einläßt, ferner keine Achtung mehr hegen könnte.

Von Schriftstellern der Antrag gestellt ob nicht der Zensurbeirat durch eine Versammlung der Münchner Hotelportiers ersetzt werden könnte. Die wären wenigstens unparteiisch. |

[...]

Die Berliner Zensur, Herr Oberregierungsrat von Glasenapp, hat mir sechs Jahre hindurch (1905 – 1911) verboten, meine Dramen in Berlin auch nur vorzuzulesenSchreibversehen, statt: vorzulesen. |


Sie werden die Ehre haben, sich zu Handen der Polizei über die sachverständig über die sittlichen und künstlerischen Qualitäten eines Werkes auszusprechen das Ihnen in einer von der Polizei zu diesem Zweck völlig verstümmelten FormWedekind sprach auch an anderer Stelle von „einer völlig verstümmelten Form“ [Wedekind an Münchner Neueste Nachrichten, 8.8.1912] seines Stücks „Franziska“ durch die Münchner Zensur. vorgeführt wird.

Gestatten mir Ew. Hochwohlgeboren Ihnen zu dieser/m/ Ehrenvolle Aufgabe Ehrenamt meine herzliche Beglückwünschung auszusprechen. Um den moralischen Mut mit dem Sie sich zu dieser Gerichtssitzung begeben würden könnte ich Sie unmöglich beneiden.

Ew. Hwgb.

Nachdem Sie die 7 FragenWedekinds offener Brief „Sieben Fragen“ [KSA 5/II, S. 426-427], den er an 12 Mitglieder des Münchner Zensurbeirats geschickt hat (siehe unten). die ich vor mehreren Monaten in der größten Öffentlichkeit an Sie richteteWedekind hat im Vorjahr einen Brief an 12 Mitglieder des Münchner Zensurbeirats – das war „die Hälfte der Mitglieder“ [Meyer 1982, S. 259] – geschrieben, den er vervielfältigt jeweils privat an die namentlich genannten Mitglieder des Münchner Zensurbeirats geschickt hat [vgl. Wedekind an Fritz Basil, an Otto Crusius, an Max von Gruber, an Georg Kerschensteiner, an Emil Kraepelin, an Richard Du Moulin-Eckart, an Franz Muncker, an Ernst von Possart, an Jocza Savits, an Anton von Stadler, an Emil Sulger-Gebing, an Karl Voll, 27.12.1911] und zugleich als offenen Brief „Sieben Fragen“ abdrucken ließ – zuerst am 29.12.1911 (im Vorabendblatt vordatiert) in den „Münchner Neuen Nachrichten“ [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 608, 30.12.1911, Vorabendblatt, S. 3]., rühmlichst totgeschwiegen haben gestatten Sie mir heute noch folgende Mittheilung |


An die Mitglieder des Münchner Zensurbeirates

Ew. Hochwohlgeboren.

Ew. Hochwohlgeboren wollen mir erlauben nachstehende 7 Fragen auf die ich zu meinem unaussprechlichen Bedauern seit Jahresfrist ohne Antwort von Ihnen10 der 12 angeschriebenen Mitglieder des Münchner Zensurbeirats (siehe oben) haben auf den offenen Brief nicht geantwortet; lediglich Ernst von Possart [vgl. Ernst von Possart an Wedekind, 29.12.1911] und Jocza Savits [vgl. Jocza Savits an Wedekind, 30.12.1911] haben geantwortet. „Savits Antwort wurde nicht veröffentlicht und Wedekind hat anscheinend davon keine Kenntnis erhalten.“ [Meyer 1982, S. 260] geblieben bin, Ihnen noch einmal] zum zweiten aber, deswegen nicht zum letzten Mal zur gefälligen Beantwortung zuzustellen zu unterbreiten.

Gestatten Sie mir daß Ew. Hochwohlgeboren die Bemerkung daß ich mich zu meinem größten Bedauern außerstande fühle, Ihnen ein nochmaliges rhinozeroshäutiges schlupfwinkliges Totschweigen meiner Fragen zur besonderen Ehre anzurechnen. | daß ich mich zu meinem größten Bedauern außerstand fühle, ein schlupfwinkliges um nicht zu sagen rhinozeroshäutiges Todschweigen meiner Frage irgend jemandem dem den p.p. Mitgliedern des Münchner Zensurbeiratesmit Einweisungszeichen umgestellt, zuerst vor: den p.p. Mitgliedern des. zur besonderen Ehre anrechnen zu können.

Hochachtungsvoll ergeben
FrW. |


An die Herren Mitglieder des Münchner Zensurbeirates


Ew. Hochwohlgeboren.

Im Herbst 1911 wurde von Herrn Direktor Robert mein Mysterium Franziska der Münchner Polizeibehörde behufs Aufführungzum Zweck der Aufführung von „Franziska“ im Münchner Lustspielhaus (Direktion: Eugen Robert), dann umbenannt in Münchner Kammerspiele [vgl. Neuer Theater-Almanach 1913, S. 554], wo das Stück am 30.11.1912 unter der Regie von Eugen Robert mit Frank und Tilly Wedekind in den Hauptrollen in einer geschlossenen Vorstellung ohne Streichungen uraufgeführt wurde [vgl. KSA 7/II, S. 1156]. im Münchner Lustspielhaus eingereichtEugen Robert hatte „Franziska“ der Münchner Polizeidirektion zur Vorzensur eingereicht; die Polizeidirektion München („gez. Freiherr von der Heydte“) teilte dem Münchner Zensurbeirat am 27.4.1912 mit: „Die Direktion des Lustspielhauses hat das Werk ‚Franziska, ein modernes Mysterium’ von Frank Wedekind zur zensurpolizeilichen Aufführungsgenehmigung eingereicht. Die Vorlesung des Stückes durch den Verfasser wurde nach Anhörung des Zensurbeirates am 14. November 1911 genehmigt und fand am 16. November 1911 statt. [...] Ich ersuche um gefällige Begutachtung.“ [KSA 7/II, S. 1169] Gutachten haben geschrieben: Franz Muncker, Thomas Mann, Johann Nicklas, Max von Gruber, Anton von Stadler, Otto Crusius, Alexander von Gleichen-Rußwurm, Emil Kraepelin, Emil Sulgar-Gebing, Josef Hofmiller, Jocza Savits, Bernhard von Arnold, Josef Ruederer, Karl Voll, Hans Schnorr von Carolsfeld, Karl Graßmann, Fritz Basil; sie wurden in der Sitzung vom 12.4.1912 verlesen, wie das Protokoll der Sitzung ausweist, auf der Wedekinds Stück mit Streichungen (siehe unten) freigegeben wurde [vgl. KSA 7/II, S. 1169-1177].. Im Juli 1912, also ¾ Jahre später wurde das Stück unter der Bedingung daß der zweite Akt völlig wegfällt freigegeben. Die Kgl. Polizeidirektion schreibt dazuIm Erstdruck ist hier der Erlass der Münchner Polizeidirektion eingefügt, der am 8.7.1912 der Direktion des Münchner Lustspielhauses zugesandt wurde [vgl. KSA 7/II, S. 1178]: „Die öffentliche Aufführung des Schauspiels / Franziska, / modernes Mysterium von Frank Wedekind, wird unter folgenden Bedingungen genehmigt: / 1.) Grundlage für die Aufführungsgenehmigung bildet die von der Direktion des Lustspielhauses mit Strichen S. 52-80, 145-148, 151-155 und S. 172ff. versehene, am 10. Juni und 4. Juli 1912 vorgelegte Bearbeitung des Stückes. / 2.) Die Striche S. 13. 15. 26. 32. 34. 35. 41. 95. 98. 99. 109. 133. 134. 135. 136 sind genau zu beachten. / 3.) Dezente Darstellung und Kostümierung – insbesondere im 6. und 8. Bild – wird vorausgesetzt. Dabei wird auf die Erklärung der Direktion vom 4. Juli Bezug genommen. / 4.) Weitere Striche und Auflagen, besonders für das 2., 6. und 8. Bild bleiben bei der Generalprobe vorbehalten. / Der Zeitpunkt der Generalprobe ist rechtzeitig – spätestens acht Tage zuvor – mitzuteilen, damit die Herren Mitglieder des Zensurbeirates eingeladen werden können. / Beilagen: 1 Textbuch.“ [KSA 5/II, S. 460f.]


Durch die Streichungen, auf denen die Polizeibehörde in obigem Erlaßin der „Franziska“ betreffenden Genehmigungsverfügung der Polizeidirektion München (gezeichnet von Julius von der Heydte) an die Direktion des Lustspielhauses vom 8.7.1912 [vgl. KSA 7/II, S. 1178], die Wedekind zu zitieren gedachte (siehe die vorige Erläuterung). besteht, wurde das Werk in barbarischer Weise verunstaltet. Es ist einem Bildwerk zu vergleichen dem das Gesicht zerschmettert die Augen ausgeschlagen und | die Gliedmaßen verstümmelt wurden. Als Gründe für diese Verstümmelungen, können, da jede böse böswillige Absicht selbstverständlich ausgeschlossen ist, meiner Ansicht nach nur die plumpsten Mißverständnisse maßgebend gewesen sein.

Die Thatsache übrigens daß durch die Streichungen stellenweise der Sinn der Dichtung in sein vollendetes Gegentheil verkehrt wird, läßt an plumpen Mißverständnissen einigen Zweifel aufkommen.

Ew. Hochwohlgeboren bleibt nun laut der Entscheidung der Kgl. Polizeidirektion die Ehre vorbehalten, in einer zu veranstaltenden Generalprobe darüber zu entscheiden, ob das in oben geschildeter Weise verunstaltete Werk die zur Rechtfertigung seiner öffentlichen Aufführung nötigen sittlichen | und künstlerischen Eigenschaften besitzen/t/. Aus tiefster Überzeugung kann ich Ihnen von vorherein die Versicherung geben daß Sie beides nicht der Fall ist verneinen müßten wenn mein Drama nicht in der von mir für die Öffentlichkeit ins Auge genommenen Fassung vor Ihnen zur Aufführung gelangt.

Wollen mir Ew. Hochwohlgeboren indessen die Frage erlauben ob Sie die Aufgabe, statt über eine Dichtung über die von der Behörde zielbewußt einsichtsvoll daraus geschaffene Ruine ein sachverständiges Urtheil abzugeben mit der Würde Ihres Standes vereinbar halten oder ob Ihr Gefühl für Anstand und Gerechtigkeit Sie nicht vielleicht bestimmt, auf die Ihnen in diesem Fall von der Kgl. Polizeidirektion angesonnene Ehre zu verzichten.

In Erwartung Ihrer geschätzten Entgegnung In ausgezeichneter Hochschätzung ergebenst
FrW.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 10 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Papier. Ringbuchblätter. 9 x 14,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Brief ist in Entwurfsnotizen und in mehreren Schreibansätzen als Briefentwurf im Kuvert „Zensur – Polizei“ überliefert [vgl. KSA 5/III, S. 39], die teilweise Notizen in anderem Zusammenhang enthalten (hier nicht mitediert). Seite 1 enthält unter der Entwurfsnotiz zusätzliche Notizen zu „Deutsche Literaturpreise“ [vgl. KSA 5/II, S. 461; vgl. KSA 5/III, S. 232], Seite 3 und 4 enthalten über den Entwurfsnotizen zusätzliche Notizen zu „Internationaler Studentenverein“ [vgl. KSA 5/II, S. 462; vgl. KSA 5/III, S. 465f.], das sind Entwürfe zu einem Umfragebeitrag [vgl. Wedekind an Internationaler Studentenverein, 14.8.1912]. „Eine Reinschrift des Briefes ist nicht überliefert. Ob er an die Mitglieder des Zensurbeirates versendet oder als Offener Brief publiziert wurde, ließ sich nicht feststellen.“ [KSA 5/III, S. 41] Ein abgesandter Brief darf aber angesichts der Notiz vom 3.8.1912 angenommen werden: „Brief an Zensurbeirat geschrieben.“ [Tb]

Datum, Schreibort und Zustellweg

Schreibort und Schreibdatum sind durch Wedekinds Notiz vom 3.8.1912 in München belegt: „Brief an Zensurbeirat geschrieben.“ [Tb]

  • Schreibort

    München
    3. August 1912 (Samstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Werke. Kritische Studienausgabe. Band 5/II. Vermischte Schriften. Schulaufsätze, Essays, Aphorismen, Kritiken, Repliken, Notizen

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon unter Mitarbeit von Friederike Becker, Miroslav Brei und Martin Hahn
Verlag:
Darmstadt: Häusser.media Verlag
Jahrgang:
2013
Seitenangabe:
460-461
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Briefentwurf unter dem Titel „An die Mitglieder des Münchner Zensurbeirates“ in einer bereinigten Fassung ediert und ein Passus mit Fremdtext, den Wedekind zu zitieren gedachte, zusätzlich eingefügt (siehe Erläuterungen). Im Kommentar zum Erstdruck sind Varianten und Paralipomena mitgeteilt [vgl. KSA 5/III, S. 39-41].
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Nr. 171
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an (Gremium) Münchner Zensurbeirat, 3.8.1912. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

07.01.2024 12:37