Kennung: 4957

Dresden, 8. September 1897 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

Dresden, Walpurgisstraße 14. II. – 8.9.97.


Liebe Mama,

ich muß dir doch endlich, endlich einmal schreiben um dich über deine verschiedenen Befürchtungen zu beruhigen. Daß ich dir noch nicht geschrieben, daran ist nur das hiesige Klima schuld, das bei mir eine ungeheure Müdigkeit hervorbringt und mir neben meinen Arbeiten nicht viel Zeit übrig läßt. Was nun also zuerst den SkandalWedekinds Liebesverhältnis mit der verheirateten Julia Rickelt (siehe unten), über das er seiner Mutter bereits geschrieben hatte [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 23.8.1897]. anbetrifft so ist das eine rein, wenn ich mich so ausdrücken darf, familiäre Angelegenheit. | Und dadurch, dasSchreibversehen, statt: daß. ich für zwei Monate von Berlin fortWedekind ist am 17.8.1897 von Berlin nach Dresden umgezogen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 23.8.1897]. bin, ist es eben kein Skandal geworden, sondern hat sich zum Wohlgefallen sämmtlicher Betheiligten gestaltet. Ich habe Mieze gegenüber kein Geheimniß aus der Angelegenheit gemacht und werde es auch dir gegenüber nicht thun, sobald Du hier bist, aber zu Papier bringen lassen solcheSchreibversehen, statt: lassen sich solche. Dinge nicht, wenn so bedeutende Interessen, das was man Familienglück e.ct. nennt, dabei auf dem Spiele stehen. Die betreffende DameJulia Rickelt (geb. Woelfle) in Berlin, Gattin des mit Wedekind befreundeten Schauspielers und Regisseurs Gustav Rickelt, mit dem sie seit dem 21.5.1891 verheiratet war [vgl. Wer ist’s? 1911, S. 1177]. Wedekind hatte in Berlin ein Liebesverhältnis mit ihr begonnen (siehe seine Korrespondenz mit Julia Rickelt). und ich sind augenblicklich gezwungen uns ohne Anrede und ohne Unterschrift zu schreiben und so könnte ich es doch nicht gut verantworten, ihren Namen | sonstwo ohne Notwendigkeit zu nennen. Übrigens habe ich dir in meinem Briefe von Berlin ausnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 15.8.1897., in dem ich dir meine Lage auseinandersetzte, doch schon die Verhältnisse charakterisirt. Es handelt sich lediglich um die ZurückkunftGustav Rickelt war Ensemblemitglied des Kurtheaters Berg (Direktion: Theodor Brandt) bei Stuttgart, wo er sich während der Sommersspielzeit vom 23.5.1897 „bis Ende August 1897“ [Neuer Theater-Almanach 1898, S. 531] aufhielt und anschließend nach Berlin zurückkehrte, wo am 9.9.1897 das Berliner Residenztheater unter der neuen Direktion von Theodor Brandt eröffnet wurde und er nun wieder in Berlin auf der Bühne stand [vgl. Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 421, 9.9.1897, Morgen-Ausgabe, S. 8]. Er spielte am Kurtheater Berg in verschiedenen Schwänken, so am 6.8.1897 im Schwank „Die Einberufung“ [vgl. Schwäbischer Merkur, Nr. 180, 5.8.1897, Mittagsblatt, S. 1645] oder am 15.8.1897 im Schwank „Die vierte Dimension“ [vgl. Der Beobachter, Jg. 67, Nr. 188, 14.8.1897, S. (2)], außerdem am 19.8.1897 die Rolle des Pfarrers Hoppe in Max Halbes Drama „Jugend“ [vgl. Schwäbischer Merkur, Nr. 193, 20.8.1897, Mittagsblatt, S. 1741]. ihres MannesGustav Rickelt (siehe oben), Schauspieler und Regisseur am Berliner Residenztheater (Direktion: Theodor Brand), dessen Winterspielzeit offiziell am 1.9.1897 begann [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 285]., eines meiner besten Freunde, der ich aus dem Wege gegangen bin da weder sie noch ich uns voraussichtlich genügend hätten beherrschen können, um ihn, der so schon das Herz voll Mißtrauen hat, über dien wirklichen Sachverhalt zu täuschen.

Ich habe hier vollkommen das gefunden, was ich suchte und werde es noch mehr haben, wenn du hier | bist, nämlich vor allen Dingen etwas Ruhe und Sammlung. Ich freue mich sehr darauf, daß du kommst. Mieze sagt mir, du werdest am 20.am 20.9.1897. hier sein. Ich besuche sie nicht zu oft und rauche auch nicht in ihrem Zimmer. Im Theater war ich so oft es mir meine Zeit noch erlaubte. Daß ich unvorsichtig mit meiner Kritik bin brauchst du nicht zu fürchten. Wir waren auch zusammen bei Scheidemantelbei dem Kammersänger Karl Scheidemantel in Dresden (Striesener Platz 8) [vgl. Adreßbuch für Dresden 1898, Teil I, S. 492], dem Kollegen Erika Wedekinds an der Dresdner Hofoper, den sie und ihr Bruder Frank Wedekind am 24.8.1897 besucht haben [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 23.8.1897]., nützen wird er mir nicht viel können, dagegen sind andere Leutenicht identifiziert. hier beim Schauspielentweder am Schauspiel des Königlichen Hoftheaters in Dresden (Generaldirektion: Nikolaus von Seebach) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 352], dem Wedekind dann seine Komödie „Die junge Welt“ zur Aufführung angeboten hat [vgl. Wedekind an Nikolaus von Seebach, 24.10.1897], oder am Dresdner Residenztheater (Direktion: Madeleine Karl) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1898, S. 356]., die ich von früher her kenne und die ich aber bis jetzt nicht aufgesucht | habe, da mein neues Stück, das eben im DruckWedekinds Komödie „Die junge Welt“, eine Überarbeitung seines Lustspiels „Kinder und Narren“ (1891), erschien im Oktober 1897 in Berlin bei W. Pauli’s Nachfolger (H. Jerosch) [vgl. KSA 2, S. 631, 646]. ist, noch nicht fertig ist.

Was du mir, liebe Mama über eine Stellung schreibstHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 7.9.1897., hat meinen vollen Beifall. Ich habe mich nie abweisend gegen eine solche Eventualität gezeigt und würde ebenso auch heute mit Freuden zugreifen. Es ist auch gar nicht ausgeschlossen daß sich hier etwas bietet.

In Gesellschaft bin ich mit Mieze noch nicht gewesen, das wird sich aber auch geben. Ich habe auch noch nicht viel von Gesellschaft gemerkt, wenigstens noch nichts von besonderer Bedeutung. Die betreffenden Zirkel scheinen sich erst später aufzuthun. |

Die GerüchteWedekind hatte mit Frida Strindberg, die er 1894 in Paris kennengelernt hatte, nach der Wiederbegegnung 1896 in München eine intime Beziehung, aus der ein unehelicher Sohn hervorging – der am 21.8.1897 geborene Friedrich Strindberg – und die offenbar in München Gesprächsstoff war. Rainer Maria Rilke berichtete dem mit Wedekind bekannten Musiker Oskar Fried im Januar 1897 aus München, zu den „Hauptklatschgeschichten Münchens“ gehöre „die Verlobung Frank Wedekinds mit Frau Strindberg“ [J. A. Stargardt: Katalog 560 (1962), Nr. 953]. Frida Strindberg ist Wedekind nach Berlin nachgereist [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 20.1.1897]., was Frau Strindberg betrifft, bitte ich dich mit Vorsicht aufzunehmen. Erstens ist Fr. St. nicht reich, zweitens bin ich gar nicht mit ihr verlobt und drittens stehe ich gar nicht mehr mit ihr in Beziehungen. Ich würde sie auch niemals heiraten, so wenig wie sie mich. Wir haben einander gegenseitig gründlich satt gekriegt. Sie hat mich sehr geliebt aber durch ihre ungeheure Dummheit nicht wenig zu den Mißgeschicken beigetragen, die in Berlin meine dortigen Aussichten zu Wasser werden ließen. Hoffentlich geht das alles in diesem bevorstehenden Winter besser. |

Ich habe hier in Dresden einstweilen noch keinerlei nähere Bekanntschaften und du brauchst nicht zu fürchten, daß ich Mieze in irgendwelche Verlegenheit bringe. Um so mehr freue ich mich darauf wenn du hier bist. Ich bin sicher, daß wir das Leben einander gegenseitig behaglicher machen werden. Komm daher bitte sobald du kannst. Ich kenne ja die Verhältnisse in denen du in Zürich lebst, nicht und weiß nicht, was dich dort eigentlich fesselt. Mati sage bitte meine herzlichsten Grüße. Die Photographienicht ermittelt. Wedekind hat die Fotografie bereits in seinem letzten Brief erwähnt [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 23.8.1897]. werde ich ihr nächster Tage schicken. | Und sei du selber, liebe Mama, aufs herzlichste gegrüßt von deinem getreuen Sohn
Frank.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Seefeldstrasse 88Emilie Wedekind wohnte bei ihrem ältesten Sohn, dem Arzt Dr. med. Armin Wedekind in Zürich (Seefeldstraße 88) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich für 1898, Teil I, S. 576]..
Zürich


Schweiz.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 9 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Empfängeradresse in lateinischer Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 17,5 cm. 4 Blatt, 8 Seiten beschrieben. Kuvert: 12 x 9,5 cm. 1 Seite beschrieben.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben. Kuvert im Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Das Kuvert ist mit zwei aufgeklebten Briefmarken von je 10 Pfennig frankiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Uhrzeit im Postausgangsstempel Dresden (Altstadt): „4 – 5 N“ (= 16 bis 17 Uhr). Uhrzeit im Zwischenstempel Zürich: „3“ (= 15 Uhr). Uhrzeit im Posteingangsstempel Zürich (Neumünster): „4“ (= 16 Uhr).

Erstdruck

Briefwechsel mit den Eltern 1868‒1915. Band 1: Briefe

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon
Verlag:
Göttingen: Wallstein
Jahrgang:
2021
Seitenangabe:
296-298
Briefnummer:
143
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
Konvolut Burkhardt, Nidderau
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 8.9.1897. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

21.02.2024 12:56