Kennung: 4797

Solothurn, 8. Januar 1891 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Donald (Doda)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Solothurn 8 Januar 1891


Lieber Bebi!

Vor acht Tagenam 2.1.1890. kam ich wieder hier an, da um das neue Trimester zu beginnen. Die Ferien verbrachte ich in recht amüsanter Weise, indem ich viel Tomarkins Gesellschaft genoß. Zimmer nahm ich bei Tante Leeman und Essen bei HamiDonald Wedekinds Tante Emilie Leemann (Feldeggstraße 52) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1890, Teil I, S. 199] und sein Bruder Armin (Seefeldstraße 81) [vgl. Adressbuch für Zürich 1890, Teil I, S. 356] wohnten im Zürcher Vorort Riesbach nur 50 Meter entfernt voneinander.. Auf mein gutes Zeugniß hin sandte mir Mamma 25 Franken, was den Grund zu einer vollkommenen Aussöhnung gab. Außerdem bestellte ich mir im Anglo-American Storevon Michel Alexander in München geführter Laden an der Ecke Barer-/Hessstraße. einen Anzug und ließ mir von Berlin 6 neue Jägerheml/d/en und zwei JägerhosenReformkleidung zum Unterziehen oder als Oberbekleidung, die nach den Ideen Gustav Jägers nur aus Wolle bestehen durfte. kommen, die aber von einem solchen Umfang w sind, daß ich darin der vollendetste | Türke scheine. Doch füllen sie a meinet weiten Beinkleider sehr gut aus. In der Münchener Kunst las ich dein Gedicht „m Meningitis tuberculosaIn der Zeitschrift „Münchner Kunst“ waren zwei Gedichte von Wedekind erschienen [vgl. KSA 1/I, S. 286-287; KSA 1/II, S. 1891-1893, 1963-1965].: „Pirschgang“ [Münchner Kunst, Jg. 2, Nr. 45, 12.11.1890, S. 436] und „Meningitis tuberculosa“ [Münchner Kunst, Jg. 2, Nr. 48, 4.12.1890, S. 468] “, über das ich mich sehr freue, da ich daraus sehe, daß du mit den Männern dieser SchriftHerausgeber der seit dem 1.11.1889 erscheinenden Zeitschrift „Münchner Kunst“, eine „Illustrirte Wochen-Rundschau über das gesammte Kunstleben Münchens“, die aus dem „Münchener Theater-Journal“ hervorgegangen war, war der mit Frank Wedekind befreundete Julius Schaumberger. In ihrer letzten Nummer vom 1.1.1891 kündigte die Redaktion (Müllerstraße 45b) an, sie werde in der neuen Zeitschrift der Gesellschaft für modernes Leben aufgehen („Moderne Blätter“), da „die Begründer jener Gesellschaft mit der Kerntruppe der Mitarbeiterschaft der ‚Münchner Kunst‘ identisch sind.“ [Münchner Kunst, Jg. 2, Nr. 52, 1.1.1891, S. 521] Die darunter gesetzte Annocierung der neu gegründeten Gesellschaft für modernes Leben war unterzeichnet mit: „Dr. M. G. Conrad, Rudolf Maison, Detlev Frhr. von Liliencron, Otto Julius Bierbaum, Julius Schaumberger, Hanns von Gumpenberg, Georg Schaumberg.“ [Ebd.] In einer Annonce für ein „Probe-Abonnement für den Monat Juni“ hatte die Redaktion der „Münchner Kunst“ damit geworben, dass sie „neben den ständigen Wochenberichten über die jüngsten, irgendwie bedeutsamen Erscheinungen und Ereignisse des gesamten Münchener Kunstlebens: Kunstwissenschaftliche, poetische und novellistische Beiträge von M. G. Conrad, Martin Greif, Detlev v. Liliencron, Hermine v. Preuschen, Heinrich von Reder, O. J. Bierbaum, Julius Brand, Ernst Brausewetter, Hans v. Gumppenberg, M. Cl. Menghius, Ludwig Scharf, Georg Schaumberg, Julius Schaumberger, Franz Wichmann u. A.“ [Münchner Kunst, Jg. 2, Nr. 19, 14.5.1890, S. 154] enthalte. immer noch auf guten Fuß stehst. Ich habe dieselben sehr in mein Herz geschlossen, weniger Ludwig ScharfLudwig Scharf zählte zwar zu den regelmäßigen Beiträgern der Zeitschrift mit seinen Gedichten „Die Brautnacht“ [vgl. Münchner Kunst, Jg. 2, Nr. 8, 22.2.1890, S. 59f.], „Träumerei“ [vgl. Münchner Kunst, Jg. 2, Nr. 24, 18.6.1890, S. 190f.] und „Lyrische Fragmente“ [vgl. Münchner Kunst, Jg. 2, Nr. 47, 27.11.1890, S. 457f.], war aber nicht Herausgeber. als Schaumberger. DasSchreibversehen, statt: Dass. Henckell’s Zeitungnicht ermittelt. in Wien caput gegangen ist, wirst du gehört haben, und daß er in Folge dessen melancholisch wieder zurück nach Lenzburg kam, mag dir auch bekannt sein. Seine VerlobungKarl Henckell hatte sich im Juni 1890 mit Marie Felix, der Adoptivtochter von Arnold und Carolina Dodel-Port verlobt [vgl. Karl Henckell und Marie Felix an Frank Wedekind, 30.6.1890]. soll ebenfalls auf gläsernen Füßen stehen, indem der goldene Hintergrund der Braut als img/a/ginärSchreibversehen (Auslassung), statt: sich als img/a/ginär. gezeigt haben soll. Die Henckells seien in letzter Zeit sehr zurückhaltend geworden gegen das Mädchen, das sich sehr eifrig in dem Scheidungsprozeß Professor’s Dodelport’sDer Zürcher Botanik-Professor Arnold Dodel-Port ließ sich 1890 nach 15 Jahren Ehe von seiner Frau Carolina Port, mit der er einen anatomisch-physiologischen Atlas der Botanik herausgegeben hatte, scheiden und heiratete 1891 Luise Henriette Müller. betätige. | Es unterstütze nämlich seine Frau in der Erlangung des Scheidungsspruches, angeblich, um seinem Vater eine Woltat zu erweisen. Das aus dem Züricher Stadtklatsch. Henckell sei wirklich wieder schwer krank, stehe des Morgens um 10 Uhr auf, setze sich dann in seinen Lehnstuhl, nehme ein Buch zur Hand und schlafe ein, worauf seine MutterBertha Elise Auguste Henckell; Gustav Henckell hatte seine Eltern und seine beiden Schwestern Bertha und Thea 1889 aus Hannover in die Schweiz geholt. komme, ihn lang betrachte und dann weinend um den „armen, armen Karl“ ins Nebenzimmer gehe. So ungefähr Theas Berichte. Thomarkin’s Runde muß sich jedenfalls auf einer Rundreise befinden, indem ich ihn auf seinem Zimmerin der Florastraße 50 im Zürcher Vorort Riesbach [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 24.9.1890]. vermißte. Hami feierte Neujahr bei Frei’sArmin Wedekinds Schwiegereltern, der Bezirksarzt Gottlieb Frey und seine Frau Elise (Hottingerstraße 38) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1891, Teil I, S. 94].. Ich ging mit Tomarkin und zwei andern Deutschen, Herrn Bockder Ingenieur Charles Bock (Seestraße 91) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1893, Teil I, S. 37] aus Kiel., Ingenieur bei Escher, Wyß & Co1805 gegründete Maschinenfabrik in Zürich (Niederdorfstr. 102) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich, Teil II, S. 410] mit einer weiträumigen Fabrikanlage auf dem Gelände der ehemaligen Neumühle., und Herrn MoritzIm Matrikelverzeichnis der Universität Zürich nicht nachgewiesen., Student der Chemie, auf Safrandas Café du Safran im Zunfthaus zur Safran am Limmatquai., wo wir ruhig bei einer Tasse Thee das neue Jahr abwarSchreibversehen (fehlende Silben beim Seitenwechsel), statt: abwarteten. | Tomarkin, der 1890 mit einer Schlemmerei abschließen wollte, bestellte ein Dutzend Austern, welche Bestellung aber zu seinem großen Ärger unausgeführt blieb. Wahrscheinlich traute es ihm die Kellnerin gar nicht zu. 1891 begannen wir auf Safran mit einer Tasse Caffée. Im Schluß des altesn Jahres trugen Tomarkin und Moritz die Kosten der Unterhaltung, indem sie heftig über Frauen und Sittlichkeit disputirten. Im Anfang des neuen Jahres nahmen Herr Bock und ich die Arbeit auf uns, indem wir uns über Uhrenindustrie unterhielten. Tags daraufam 2.1.1891. reiste ich von den Segenswünschen meines Onkels EliasDonald Wedekind hatte zu Elias Tomarkin ein Onkel-Neffe-Verhältnis etabliert, wie er in einem früheren Brief berichtete [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 10.10.1890]. begleitet wieder nach Solothurn. Er machte wirklich Staat mit mir, seinem Neffen und freute sich namentlich, wenn ich ihn | Goldonkelchenverbreitete Bezeichnung für einen väterlich gutmütigen, nicht selten auch spendierfreudigen Verwandten. et. c. titulirte. Weihnachtsabend giengen wir zusammen zu der Feier der Socialisten im Sal/a/l des Schwanen, wor wir am Tische der deutschen Coloniedie wegen der Verfolgung aufgrund des 1878 verabschiedeten „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ aus Deutschland nach Zürich exilierten Arbeiter und Intellektuellen. Platz nahmen. Es war mir sehr lieb, diese Gesellschaft einmal sehen zu können und ich amüsirte mich ausgezeichnet. In der Zeitung las ich, daß man sich in München mit der Errichtung einer freien Bühne Der am 18.12.1890 gegründete Münchner Literatur- und Theaterverein Gesellschaft für modernes Leben unter Vorsitz von Michael Georg Conrad, wollte sich nach dem Vorbild der Berliner Freien Bühne um die Aufführung moderner Stücke bemühen. Die Presse berichtete: „Unter dem Namen ‚Gesellschaft für modernes Leben‘ hat sich in München eine Vereinigung mit folgenden Zielen gebildet: Die ‚Gesellschaft für modernes Leben‘ stellt sich zur Aufgabe die Pflege und Verbreitung modernen, schöpferischen Geistes auf allen Gebieten: Soziales Leben, Literatur, Kunst und Wissenschaft. Zu diesem Zweck trifft die ‚Gesellschaft für modernes Leben‘ folgende Veranstaltungen: Vortragsabende, in welchen einschlägige Fragen theoretisch und durch Vorlesung moderner Geisteswerke jeder Gattung beleuchtet werden. Errichtung einer freien Bühne, welche unter dem Schutze des Vereinsgesetzes auch solche Werke zur Aufführung bringen wird, denen sich die öffentlichen Theater noch verschließen. Sonderausstellungen von solchen Werken von der Gesellschaft angehörenden bildenden Künstler, welche für die moderne Entwicklung besonders kennzeichnend sind. Herausgabe einer Wochenschrift ‚Die Moderne‘, welche die Anschauungen der ‚Gesellschaft für modernes Leben‘ nach außen vertreten soll.“ [Der Bund, Jg. 41, Nr. 356, 26.12.1890, S. (3)] Frank Wedekind trat der Gesellschaft im Laufe des Jahres 1891 bei [vgl. Kutscher 1, S. 189], vermutlich im Sommer im Zusammenhang mit der Publikation verschiedener Gedichte in den von der Gesellschaft herausgegebenen Anthologien „Sommerfest“ und „Modernes Leben“.beschäftigte. Ich mußte gleich an dich denken und stellte mir vor, daß du vielleicht einer der Stifter dieses Unternehmens sein könntest, da es für dich ja doch sehr angenehm sein müßte, ein solches Institut an der Hand zu haben. Sollte deine Sache gedrucktWedekinds Lustspiel „Kinder und Narren“ erschien Anfang März 1891 als Privatdruck bei R. Warth in München [vgl. KSA 2, S. 643]. sein, so habe doch die Güte mir ein Exemplar zuzusenden und demselben vielleicht ein Exemplar des SchnellmalersFrank Wedekind Posse „Der Schnellmaler oder Kunst und Mammon“ war 1889 auf Vermittlung von Karl Henckell im Verlags-Magazin (J. Schabelitz) in Zürich erschienen [vgl KSA 2, S. 551]. | beizufuegen.

Ich habe mich in das ConvictlebenDonald Wedekind wohnte in Solothurn im zur Schule gehörenden Internat. recht leidlich eingewöhnt und fühle mich immer recht wol auf meiner Zelle, wenn ich meinSchreibversehen, statt: meine. Cigarette rauche und eine Tasse TeheeSchreibversehen (oder Verballhornung), statt: Thee. dazu trinke. Auch habe ich auf dem EiseDer Dezember 1890 und die erste Januarwoche 1891 in der Schweiz waren außergewöhnlich kalt, mit Dauerfrost und einer Durchschnittstemperatur, die 5 Grad unter dem 20-jährigen Mittel lag [vgl. Annalen der schweizerischen meteorologischen Central-Anstalt, Jg. 27, 1890, S. 228 und Jg. 28, 1891, S. 4], so dass die Aare in Solothurn zugefroren gewesen sein dürfte. verschiedene LiaisonsLiebschaften. mit ganz reizenden Mädchen angeknüpft, aber doch bleibt die Zeit in ItalienDonald Wedekind hatte im April 1888 in Livorno eine Lehre begonnen, die er jedoch nach wenigen Monaten abbrach., mein LiebesfrühlingDie hier präsentierte Trias aus „Liebesfrühling“, „Sommernachtstraum“ und „Wintermärchen“, referiert zur Strukturierung der zeitlichen Abfolge auf die Titel literarischer Werke von Friedrich Rückert, William Shakespeare und Heinrich Heine, wohl ohne inhaltliche Bezüge., die glühenden Nächte von San Francisko, und AlamedaIn Kalifornien hielt sich Donald Wedekind von Frühjahr bis Herbst 1889 auf., mein Sommernachtstraum, und die kleine Aventure(frz.) Abenteuer. in Münchenvermutlich ein Besuch Donald Wedekinds in München nach seiner Rückkehr aus den USA Ende Dezember 1889., als ich nachts um 1 Uhr mit meiner kleinen Braut nach Sendling fuhr, mein Wintermärchen, der Gipfelpunkt meines Glückes, an dem ich jetzt in meiner priesterlichen Einsamkeit noch immer zehre.

Grüße alle meine Bekannten.

Dein treuer Bruder Donald

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 21,5 x 26 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Donald Wedekind hat das Doppelblatt zunächst auf den Außenseiten, dann auf den Innenseiten beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Solothurn
    8. Januar 1891 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Solothurn
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 304
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Donald (Doda) Wedekind an Frank Wedekind, 8.1.1891. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

15.01.2024 13:37