Schloß Lenzburg
Augustirrtümlich statt September. 1890
Lieber Bebi!
Da sich das
Bild meines Münchener Aufenthaltes Donald Wedekind besuchte seinen Bruder Frank ab dem 13.8.1890 in München [vgl. Tb] und reiste am 17.9.1890 mit dem Nachtzug zurück nach Zürich.bereits zu klären beginnt, so finde ich es
sehr am Platz mich in dieser rosigen Stimmung dir die übrigen
Begebenheiten noch mitzuteilen, die sich seit unserm Abschied in der Halle des
CenttralbahnhofesSchreibversehen, statt: Centralbahnhofes; ab 1904 unter dem Namen Hauptbhanhof. abgespielt haben. Ich reiste die Nacht durch in Gesellschaft
eines Münchener Hochzeitspaaresnicht identifiziert., deren schlechtere Hälfte bald vor lauter
biertrunkener Müdigkeit in Schlaf verfiel, während die bessere Hälfte bis früh
morgens die Augen wach hielt, was dann mich veranläßteSchreibversehen, statt: veranlaßte., meine Zunge etwas zu
lösen und mich zu unterhalten, was auch durch freundliches Entgegenkommen von
der andern Seite aufs angenehmste unterstützt wurde. Auf dem Bodensee rauchte
ich die letzte oesterreichische Virginialange, dünne Zigarren aus Virginia-Tabak mit Mundstück; in Österreich wurden Virginiazigarren seit 1844 im Monopol der Kaiserlich Königlichen Tabak-Regie hergestellt. und | trank etwas Alkohol dazu, was
mir später die Schweiz in einem sehr güsnstigen Licht zeigen„sichtbar werden, erscheinen“ [Schweizer Idiotikon 17, Sp. 371]. ließ. In
Zürich suchte ich Herrn Thomarder Medizinstudent Elias Tomarkin aus Riesbach bei Zürich (Florastraße 50) [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 24.9.1890], mit dem Armin, Frank und Donald Wedekind gleichermaßen befreundet waren. auf, den ich gerade mit seiner Toilette
beschäftigt sah antraf. Er setzte mir mit großartigen Umständen, von
denen ich ihn nicht abzuhalten vermochte, e einen ganz traurigen Caffee an
vor, und schien sich nachher an der Mühe zu weiden, mit der ich das Getränk herunterschlürfte. Indessen
erzählte ich ihm von München, und klärte ihm die Geschichte mit Ottounklar; im Tagebuch verzeichnete Frank Wedekind in seiner Namensübersicht einen „Wilhelm Otto, erster Buchhalter in der Kunsthandlung Dr. Albert in Schwabing, Freund Thomars, aus Düsseldorf“ [vgl. Tb, S. 55]. Das war die Kunst- und Verlagsanstalt von Dr. Eugen Albert in München (Schwabinger Landstraße 55) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1891, Teil I, S. 3]. und dem
andern Buchhändlernicht sicher ermittelt; in Frank Wedekinds Namensliste im Tagebuch sind „Wilhelm Foth, Buchhändler, Theresienstraße 7 aus Hannover“ und „Wunderlich Buchhändlergehilfe“ verzeichnet [vgl. Tb, S. 55]. Wilhelm Foth betrieb eine Buch- und Kunsthandlung, ein Antiquariat und ein Schreibmaterialienlager in München (Theresienstraße 7) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1891, Teil I, S. 98]. auf. Ersterer hatte an Thomar geschrieben, daß du dich von
ihm, Otto, beleidigt fühleSchreibversehen, statt: fühlest., daß er aber nicht wisse warum. Mit Lebelmöglicherweise der Maler Georg Lebel aus Zürich (Rössligasse 7) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1890, Teil I, S. 198]. behauptet
Thomar, auf gar keinem vertrautem Fuß gestanden zu haben, auch trug er mir auf
dir zu schreiben, Lebel aufzumuntern, Thomars ManuskriptElias Tomarkin schrieb an einem Roman mit dem Titel „Der rote Heinrich“, dessen ersten Teil Karl Henckell später in seinem Verlag unter dem Titel „Eine Lebensgeschichte“ veröffentlichte [vgl. Wedekind an Karl Henckell, 10.7.1896]. vorzulesen, da derselbe es nämlich gar nicht besitze.
Er erinnerte sich sofort der Kragen und drängte mir als Ersatz zwei neue
Kravatten, von denen er ein | einSchreibversehen (Wortwiederholung beim Seitenwechsel), statt: ein. ganzes Dutzend besitzt, ein Nastuch, einen
Seidenknopf, und ein Eincentims/e/stück auf und spielte den Beleidigten,
als ich es nicht annehmen wollte. So spielte mußte ich mir denSchreibversehen, statt: denn. wol oder
übel die Sachen einpacken lassen, obschon ich gar keine Verwendung dafür habe.
Zum Mittagessen giengen wir in den PfauenHeinrich Hürlimann betrieb seit 1880 die Gastwirtschaft „Zum Pfauen“ (mit Biergarten) und errichtete 1888/89 daran anschließend den Pfauenkomplex am Heimplatz mit dem „Volkstheater am Pfauen“., wo ich John Henry Makay traf, der mir mit ausnehmender
Freundlichkeit entgegenkam. Ich mußte natürlich von all den Leuten erzählen die
er kannte, und so floß die Unterhaltung ganz leidlich. Thomar gab mir immer
genügend Zeit, um wieder Stoff zu sammeln, zog dann Makay auf ein von mir
gegebenes Zeichen wieder in unsere Unterhaltung, damit ich wieder eine Ladung
verschießen konnte. Die ganze Art und Weise wurde unter Thomars Einfluß unendlich komisch. Da es sich
indessen herausstellte, daß Thomar wieder auch ganz geldlos war, er aber
dennoch immer mich am Zahlen ver|hindern wollte, weil ich sein Gast sei, so
kauften Makay und ich die Billete hier nach KüßnachtGemeint ist hier wahrscheinlich das an der Bahnstrecke gelegene Küsnacht am Zürichsee und nicht das für einen Nachmittagsausflug zu weit entfernte beliebte Ausflugsziel Küssnacht am Vierwaldstättersee am Fuße des Rigi., und teilten uns auch
sonst den ganzen Nachmittag in die Kosten. Als wir von Küßnacht zurückkamen,
verabschiedete sich Herr Makay und hinterließ bei mir den angenehmsten
Eindruck. Sein Äußeres finde ich bis auf seine Gesichtsform sehr gut und
bedeutend, gewöhnlich ist dir den nur die Rundung deseines
Kopfes. Angenehm fiel mir auf, daß er viel weniger von seinen Sachen als von
den Werken anderer sprach und dabei sehr einfach, leicht und gefällig sprach,
und durchaus nichts von Selbstgefälligkeit in seiner Redeweise hatte. Überhaupt
habe ich ihn mir nach deiner Beschreibungwohl mündlich geschildert; Frank Wedekind hatte John Henry Mackay wahrscheinlich über Karl Henckell kennengelernt, der in Zürich seit 1887 einen Kreis von Literaten um sich versammelte [vgl. Wedekind an Ferdinand Hardekopf, 28.4.1901]. ganz anders vorgestellt und bin
angenehm etnts/t/äuscht worden. Er hält sicherlich viel von sich, aber die Selbstschätzung fällt
lange nicht so plump auf wie bei Henckell, Scharf, etc. sondern äußert sich
in der liebenswürdigsten und angenehmsten Weise, woraus ich auf die ausgebildesteSchreibversehen, statt: ausgebildetste.
Selbstbeurteilung schließe. | Von Elise Paschkanicht näher identifiziert. scheint er als Malerin sehr
viel zu halten, welchen Glauben ich mich natürlich hütete, ihm zu nehmen. Die
übrige Zeit vertrödelte ich noch mit J Thomar, der sich dann zu einem
längeren Vortrag über deinen Schnellmaler und dich aufraffte, w den ich
schon öfters gehört hatte. Endlich verabschiedete ich mich auch von ihm,
nachdem er mir an Alle Grüße aufgetragen hatte. Ich freute mich über den
angenehmen Nachmittag, während welchem Thomar auch einmal in AredeSchreibversehen, statt: Abrede. stellte, daß
die Braut HenckellsKarl Henckell war seit Juni mit Marie Felix, der Adoptivtochter von Arnold und Carolina Dodel-Port, verlobt [vgl. Karl Henckell und Marie Felix an Wedekind, 30.6.1890], die er jedoch nicht heiratete. reich sei. Dieser hält sich gegenwärtig in Lenzburg auf, wo
er sein Mädchen Parade führtpräsentiert, vorführt. und mitSchreibversehen, statt: und sich mit. dem Gedanken trägt, im Winter nach Wien zu
gehen um eine Zeitung zu gründendas Projekt scheiterte [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 8.1.1891]; Pläne dieser Art hatte Karl Henckell schon früher gehabt [vgl. Karl Henckell an Wedekind, 23.8.1886].. Dazwischen läßt er auch wieder gedruckte
Aufrufenicht ermittelt. erscheinen, zum Beitritt in die Temperancedie Abstinenzbewegung vom Alkoholkonsum, in Zürich vor allem von Ärzten und Psychiatern propagiert; sie gewann in den 1890er Jahren Zuflauf und schlug sich in Vereinen nieder, die durch „Gründung einer Vereinszeitschrift, durch Vertheilung und billigen Vertrieb von Broschüren, sowie durch Vorträge“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 70, Nr. 97, 7.4.1890, S. (3)] den Alkoholgenuss bekämpften. , an deren Spitze er mit
Bertha, Thea und Delev Freiher vomSchreibversehen, statt: Detlev Freiherr von. Liliencron stehenSchreibversehen, statt: steht.. Zu Hause traf ich die
Leute gerade mit Arbrechnen beschäftigt und erfuhr zu meinem |
Schrecken, daß Hami mit der Schnur und dem Setzlingwohl scherzhafte Bezeichnung für Armin Wedekinds Ehefrau Emma Wedekind und den acht Monate alten Sohn Armin Wilhelm Gottlieb Wedekind. Frank Wedekind hatte am 2.9.1890 notiert: „Emma Frey ist mit ihrem Kind seit Beginn des Sommers in Lenzburg.“ [Tb] noch längere + Tage
zu bleiben gedenken. Die Antiquitätendie umfangreiche Sammlung des verstorbenen Vaters auf Schloss Lenzburg. Frank Wedekind notierte dazu am 2.9.1890: „Die Antiquitäten gehen für frs 8000 an einen Herrn Weber aus New York, einen Bekannten von Emma Frey über. Er soll nichts davon verstehen und ein großer Bramarbas sein. Bei Tisch habe er präsidirt und der Unterhaltung das Wesen seiner Persönlichkeit gegeben.“ [Tb] sind nicht verkauft. Herr Weber machte
mit SchadenerstatzSchreibversehen, statt: Schadenersatz. von frs 1000.–, die er Mama bezahlte, den Kauf rückgängig, unter dem Vorwande
plötzlicher Abreise. Mieze ist äußerlich ganz versauert und verblaßt und
erinnert mich immer mehr an einen rot angestrichenen Essigtopf. Sie weiß nicht,
ob sie Walther Oschwald wirklich heiraten willFrank Wedekind notierte dazu am 2.9.1890: „Walter Oschwald ist heraufgekommen und hat sich mit Mama besprochen. Er könne Mieze zwar nicht sofort heimführen, aber verloben wollten sie sich, kommt Zeit kommt Rath. Mama giebt ihm den Bescheid, sie möchten mit dem Verloben warten, bis er sie heimführen könne.“ [Tb], und will jetzt ein Geständniß
herausbringen, dadurch daß sie ihre AreiseSchreibversehen, statt: Abreise. nach München aufs
Conservatoriumvgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 20.9.1890. Tatsächlich ging sie für ihr Gesangsstudium im Dezember 1890 nach Dresden. ausposaunt, weil es dort billiger sei. Sie hatte dir noch nicht
geschrieben, weil sie mein Maul fürchtete, und wird sich, wie ich voraussetze,
noch lange nicht entschließen. Gesternam 18.9.1890. Nachmittag begann Hami mit vi mir deinetwegen in zu
sprechen. Es war offenbar alles was er sagte direct für eine Unterredung mit
dir, berechnet, weil er aber wußte, daß du dich nicht mehr | darauf einläßt,
was er sehr bedauerte, so nahm er mich als Object. Ich hörte zu widersprach
bisweilen, aber die ganze Sache war in einem so schwerzlichenmöglicherweise beabsichtigtes Kofferwort aus ‚schmerzlich‘ und ‚schwärzlich‘. Ton vorgetragen,
daß mich Hami be dauerte. Es war eben einer jener seltenen Momente, wo
ihm die ganze Traurigkeit seiner Lage zum Bewußtsein kam und die er dann
dadurch zu rechtfertigen sucht, daß er die Lebensanschauung anderer tadelt. Das
Leitmotiv war immer, daß es von dir nicht recht sei, daß du ihn, Hami, für
einen PhilisterSpießer. und Dummkopf haltest, weil er m sich ich
ein Leben, wie das seine einem anderen vorziehe. Ich suchte ihn natürlich klar
zu machen, daß du ihn fürSchreibversehen, statt: daß du ihn nicht für. einen Philister und Dummkopf haltest, aber er ließ
sich diesen Glauben nicht nehmen. Im übrigen ist allerdings sein ehelicher
Verkehr daßs traurigste, was man sich denken kann. Ich machte ihn darauf
aufmerksam wegen dem GeldArmin Wedekind verwaltete nach dem Tod des Vaters das Vermögen der Familie, das in Wertpapieren angelegt war, und zahlte auf Wunsch Gelder an die Geschwister und seine Mutter aus. Der Übersicht in Frank Wedekinds Tagebuch zufolge hatte er zuletzt am 10.9.1890 den Betrag von 160 Mark erhalten [vgl. Tb, Übersicht, S. 117]. und er wird i dir in den nächsten Tagen
schicken. |
Die
verschiedenen Unannehmlichkeiten, die mir zu Hause wieder in grellstem Lichte
engegentratenSchreibversehen, statt: entgegentraten., liese/t/en lassen mich jetzt in fortwährend angenehmerer
Weise an die 5 Wochen Münchener Lebens zurückdenken. Wäre es nur gewesen, um
die verschiedenen Menschen kennen zu lernen, wäre es nur um uns selber so
ausgezeichnnet verstehen zu lernen, es wären Zeit und Mühe, & Geld
nicht verloren, sondern aufs beste angewandt gewesen. Nur hatte ich ja auch noch
Gelegenheit meine bisweilen kostspieligen Launen zu befriedigen und so lebe ich
denn jetzt in der glücklichsten Erinnerung, bald mir dich, Lefflerder Maler Heinrich Lefler, Wedekinds Wohnungsnachbar in der Akademiestraße 21 [vgl. Heinrich Lefler an Wedekind, 20.10.1890]. In seinen Namenslisten im Tagebuch notierte Wedekind einmal „Heinrich Lefler, Maler Akademiestr. 21. III“ [Tb, S. 53], an anderer Stelle: „1889 […] München. Nina. Frische. Mauer. Leffler.“ [Tb, S. 115] und andere
vorstellend, bald die schöne Weiblichkeit vonSchreibversehen, statt: vom. Kal/r/lsthorwohl das neben dem Karlstor (Stachus) in der Neuhausergasse (heute: Neuhauser Straße) gelegene Café Karlstor, das Frank Wedekind in seinem Tagebuch erwähnte: „Auf dem Weg ins Cafe Karlsthor“ [Tb, 1.9.1889]. mit ihrem
feinen, individuellen
Duft an meinenSchreibversehen, statt: meinem. geistigen Riechorgan vorüberziehen zu lassen. Grüße alle meine
Bekannten, und vor allem sei du gegrüßt von deinem Bruder Donald. Hoffen wir
beide auf fröhliches Wiedersehen.