Kennung: 4649

Lenzburg, 29. Juli 1890 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Donald (Doda)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Schloß Lenzburg 29 Juli 1890


Lieber Bebi!

Vor 5 Tagenam Donnerstag, den 24.7.1890. fand das Trimester in Solothurn seinen Abschluß. Ich bin in die 6te KlasseDonald Wedekind folgt nun der Klassenzählung in Solothurn, in der vorangehenden Korrespondenz orientierte er sich an der Nummerierung seiner früheren Schule in Aarau, wobei die 2. Gymnasialklasse dort der 4. Klasse in Solothurn entsprach. befördert worden und stehe im allgemeinen sehr gut. Sollte es sich so treffen, daß die AufnahmeexamenAn der Universität Zürich bestand die Möglichkeit, über eine Aufnahmeprüfung die sogenannte Fremdenmaturität zu erwerben und so ohne entsprechende Schulzeugnisse zum Studium zugelassen zu werden. Geprüft wurden die Fächer Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaft und Latein oder zwei moderne Fremdsprachen. an der Universität Zürich gerade in die Ferien fallen, so würde ich es versuchen, dort aufgenommen zu werden ohne mir den Rückweg nach Solothurn abzuschneiden. Die Ferien dauern noch 9 Wochen und da Mama durchaus keine Miene macht, mir irgendwo anders den Aufenthalt zu bezahlen, so muß ich mir wol hier suchen die Zeit zu vertreiben, obschon es schwierig werden wird, wenigstens einigermaßen. Die TischgesellschaftWedekinds Mutter vermietete Zimmer auf Schloss Lenzburg an Pensionsgäste und bot einen Mittagstisch an. ist, außer der Schnurwohl Spitzname für Emma Wedekind, die Ehefrau von Armin Wedekind. Die übrigen genannten Pensionsgäste sind nicht näher identifiziert. , sehr | sehr anspruchslos. Sie besteht aus einer Basler Missionärin und Heilsarmistin, die die Demut selber ist, aus einer amerikanischen Pfarrerin mit Sohn und den Kindern der Frau Professor Ritter. Aber gerade die Anspruchslosigkeit und karge Bescheidenheit dieser Leute läßt die Unverschämtheit und Dummheit der Schnur um so häßlicher hervortreten. Ich weiß nicht, ob es dir gefallen würde oder nicht und deshalb wage ich es auch d nicht, dich zur Folgeleistung der Einladung Mamas auf zu munterSchreibversehen, statt: aufzumuntern., so gern ich es täte. Gestern waren Eugèneder spätere Schwager Eugène Perré, der von Sommer 1889 bis September 1890 Pensionsgast auf Schloss Lenzburg war [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 10.2.1890]. und ich in Zürich um für mich einen Anzug zu kaufen. Während dem Baden in der UtoquaianstaltDas Seebad am Utoquia war 1890 von William Henri Marti als zweiteiliges Kastenbad am Ufer der Zürichsees gebaut worden. sahen wir Thomar mit seiner BrautIdentität ungewiss; der mit Armin, Frank und Donald Wedekind befreundete Zürcher Medizinstudent Elias Tomarkin heiratete am 21.3.1893 in London die 25jährige Jeanette Althausen aus Wilna. Belegt ist auch eine (vielleicht erotische) Beziehung zu der Medizinstudentin Clara Neumann aus Görlitz, die seit dem Wintersemester 1888/89 bis zu ihrem Tod im Juli 1895 an der Universität Zürich eingeschrieben war [vgl. Rogger/Herren 2012, S. 195f.]. in einem Boot dicht bei der Badanstalt vorbeifahren. Wir schwammen ihm nach, doch er entfloh bei unserer Annäherung so schnell als möglich. Von Hami hörte ich zum ersten Male etwas von dem Verkauf der AntiquitätenFriedrich Wilhelm Wedekind hatte auf Schloss Lenzburg eine umfangreiche Sammlung unterschiedlichster Antiquitäten versammelt. Anfang September 1890 notierte Frank Wedekind die von Donald bei seinem Besuch in München überbrachten „Neuigkeiten“ aus Lenzburg im Tagebuch: „Die Antiquitäten gehen für frs 8000 an einen Herrn Weber aus New York, einen Bekannten von Emma Frey über. Er soll nichts davon verstehen und ein großer Bramarbas sein. Bei Tisch habe er präsidirt und der Unterhaltung das Wesen seiner Persönlichkeit gegeben.“ Nach dem Tod Friedrich Wilhelm Wedekinds (11.10.1888) bemühte sich seine Witwe Emilie Wedekind zunächst um eine Inventarisierung und anschließend im Herbst 1891 auch um den Verkauf der Münz- und Gemäldesammlungen ihres Mannes auf Schloss Lenzburg [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 148f.]., der jetzt wahrscheinlich vor sich gehen wird, die Münzen und im Schlosse verwandten Gemälde ausgeschlossen wie auch die CameenRelief-Gravuren aus einem Schmuckstein.. Mati kommtDonald Wedekinds Schwester Emilie (Mati) Wedekind besuchte seit Mai 1889 „das von den Fräulein Charlotte und Marie Wider geführte Darmstädter Mädchenpensionat zur Förderung des Fremdsprachen-, Literatur-, Zeichen- und Musikunterrichts“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 323]. am | ersten September heim, worauf ich mich ungemein freue. SadiSpitzname des Schriftstellers Karl Henckell. soll eine sehr gute Partie machen mit der AdoptivtochterMarie Felix, mit der Karl Henckell sich im Juni verlobt hatte [vgl. Karl Henckell und Marie Felix an Frank Wedekind, 30.6.1890]. von Prof. Dodel-PortArnold Dodel war seit 1880 Professor für Botanik an der Universität Zürich (Löwenstraße 43) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1890, Teil I, S. 74]. Er war seit dem 15.9.1875 mit Anna Maria Elisabeth (Carolina) Port verheiratetet. Die kinderlose Ehe wurde 1890 geschieden. und bei dieser Nachricht empfand ich zum ersten Mal etwas b/B/eneidenswertes in dem Loos Karl Henckells. Sollte es ihm gelingen, eineSchreibversehen, statt: ein. reiches, schönes Mägdchen heimzuführen, von dem er geliebt wird, so glaube ich, kann er einmal sehr glücklich werden. Auf Mieze muße diese Verlobung jedenfalls mächtig gewirktKarl Henckell war im Frühjahr 1887 kurzzeitig mit Erika Wedekind verlobt gewesen. haben, denn sich/e/ arbeitet sich mit aller Macht ihn ihre neue LiebeDer ehemalige Mitschüler und spätere Schwager Wedekinds, Walther Oschwald. Als eine der von Donald Wedekind überbrachten „Neuigkeiten“ aus Lenzburg notierte Frank Wedekind Anfang September 1890 im Tagebuch: „Walter Oschwald ist heraufgekommen und hat sich mit Mama besprochen. Er könne Mieze zwar nicht sofort heimführen, aber verloben wollten sie sich, kommt Zeit kommt Rath. Mama giebt ihm den Bescheid, sie möchten mit dem Verloben warten, bis er sie heimführen könne.“ [Tb, 2.9.1890] Die Eheschließung fand am 15.10.1898 statt..

Was mich anbetrifft, so kannst du dir schon denken, wie ich das letzte Jahr gelebt habe. Etwas eintönig, aber immerhin zu meiner ein/g/enen Zufriedenheit, indem ich jetzt in der vorletzten Klasse sitze, wenn es auch viel Geschrei gekostet hat. Geschrieben habe ich nichts mehr, und zwar nicht deswegen nicht, weil ich keine Lust hatte, sondern deswegen, weil die Schule mich genug in Anspruch nahm. Es sind nicht die Aufgaben allerdings, sondern die Schulstunden selber, die einem die Freude | an aller andern Beschäftigung nehmen. Viel giebt es nicht zu n/t/un. Ich hatte eigentlich immer im Sinn, die Ferien in München zu verbringen, oder solltest du deine italienische Reise antreten, dich dorthin zu begleiten, zumal ich eine Einladung von einem Italiener in Genua habe. Mama will aber durchaus gar nichts davon wissen, und so habe ich das Projekt schon fast ganz aufgegeben hat. Hami darf selber ja gar nichts tuhnSchreibversehen, statt: thun. ohne Mama’s Einwilligung. Sie erwartet einen Brief von dir. Nachträglich sende ich dir auch noch meine innigstenSchreibversehen (nicht ausgeführte notwendige Folgekorrektur), statt: innigste. Gratulationswünsche zum GeburtstagFrank Wedekind hatte am 24.7.1890 seinen 26. Geburtstag.. Dein treuer Bruder
Donald

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. 21 x 27 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Lenzburg
    29. Juli 1890 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 304
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Donald (Doda) Wedekind an Frank Wedekind, 29.7.1890. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

16.01.2024 17:16