Kennung: 457

München, 13. April 1896 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Schlenther, Paul

Inhalt

Sehr geehrter Herr DoctorDr. phil. Paul Schlenther, Redakteur in Berlin (Belle Alliance-Platz 6a) [vgl. Neues Adreßbuch für Berlin 1896, Teil I, S. 932], Theaterkritiker und seinerzeit Chefredakteur der Sonntagsbeilage der „Vossischen Zeitung“ (Berlin).,

gestatten Sie mir, auf eine Anfragenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Paul Schlenther, 21.4.1895. – Im Frühjahr 1895 war der 1889 in Berlin gegründete Theaterverein Freie Bühne, deren Gründungsmitglied Paul Schlenther war [vgl. Schanze 1978, S. 275], seit zwei Jahren nicht mehr aktiv; festgestellt wurde, dass Vorstellungen „bei der ‚Freien Bühne‘ schon geraume Zeit zurückliegen und der Verein seit zwei Jahren nur noch dem Namen nach existirt“ [Vorwärts, Jg. 12, Nr. 94, 23.4.1895, 1. Beilage, S. (1)]. Wedekind dürfte insofern seine Tragödie „Erdgeist“ der Freien Bühne, deren Vorsitzender Paul Schlenther seinerzeit war, erst angeboten haben, als eine Zensuranordnung des Berliner Polizeipräsidenten vom 18.4.1895 gegen die Freie Bühne und deren Widerstand dagegen publik geworden war. So meldete die „Vossische Zeitung“, bei der Paul Schlenther als Redakteur tätig war: „Der Verein Freie Bühne, der seit zwei Jahren keine Vorstellungen mehr veranstaltet hat, aber noch immer für den Fall, daß sich zu Versuchsaufführungen Gelegenheit bietet, fortbesteht, hat unter dem 18. d. M. folgenden Bescheid des Polizeipräsidenten erhalten: ‚Auf Grund der hier gemachten Beobachtungen müssen die von dem Vorstand der Freien Bühne veranstalteten Vorstellungen als öffentlich angesehen werden. Ich mache den Vorstand darauf aufmerksam, daß [...] der Text der darzustellenden Stücke zeitig [...] zur Zensur hier [...] einzureichen ist. [...]‘ Bisher hatte die seit sechs Jahren bestehende Freie Bühne unter dem Schutz des Vereinsrechts eine ganze Anzahl verbotener oder verboten gewesener Dramen [...] zur Darstellung bringen dürfen. Durch die Verfügung vom 18. April soll sie den öffentlichen Theatern gleichgestellt werden. Da auf diese Weise ihr eigentlicher Zweck eines literarischen Versuchstheaters [...] vereitelt wäre, so wird [...] der Vorstand durch seinen juristischen Beirath, Rechtsanwalt Jonas auf Grund des Vereinsgesetzes den Beschwerdeweg beschreiten.“ [Vossische Zeitung, Nr. 184, 20.4.1895, Abend-Ausgabe, 3. Beilage, S. (1)] Dazu wurde bemerkt: „Der Verein ‚Freie Bühne‘, dessen Leitung, seitdem der frühere Vorsitzende Dr. Brahm Direktor des Deutschen Theaters geworden ist, in den Händen des Herrn Dr. Paul Schlenther ruht, wird gegen die Verfügung des Polizeipräsidenten den Rechtsweg beschreiten.“ [Vorwärts, Jg. 12, Nr. 94, 23.4.1895, 1. Beilage, S. (1)] zurückzukommen, die ich Ihnen vor einem Jahr vorlegte, nämlich die, ob Sie sich entschließen könnten, meinen Erdgeist auf der Freien Bühne zur Aufführung zu bringenWedekinds „Erdgeist“ wurde vom Verein Freie Bühne nicht aufgeführt.. Was mich dazu veranlaßt, ist mein Wiedersehen mit Max HalbeWedekind hat Max Halbe im Sommer 1890 in München persönlich kennengelernt und ihn im Frühjahr 1896 in München wiedergetroffen – der Beginn einer wechselvollen Freundschaft (siehe die Korrespondenz Wedekinds mit Max Halbe)., der mir erzählt, als/daß/ Sie selber, als er Sie das letzte Mal gesehen, an eine Aufführung des Stückes gedacht hätten.

Was dem Stücke fehlt ist die | oder eine Moral, die der auf seinen Gewinn bedachte Philister mit nach Hause tragen kann. Ich würde Ihnen deshalb den Vorschlag machen, es unter einem ganz handgreiflichen Titel wie z. B. dem „Schönheit und SündePaul Schlenther hatte bei seinem Vortrag in München am 27.1.1896 Überlegungen zum ersten der beiden Begriffe, die Wedekind als Bühnentitel für seine „Erdgeist“-Tragödie vorschlug, angestellt: „Aesthetik ist [...] die Lehre vom Empfinden. Ob dies Empfinden schön ist oder häßlich, gilt hier ganz gleich. An sich ist nichts weder häßlich noch schön, unser Empfinden macht es erst dazu. Es gibt eine schöne Darstellung des Häßlichen, wie es eine häßliche Darstellung des Schönen gibt. Die Kunst stellt dar, was einen starken harmonischen Eindruck auf unsere Empfindung macht, was wie ein Ganzes wirkt, wie eine Welt für sich. Das gibt den eigentlichen ästhetischen Eindruck. Das ist die eigentliche ästhetische Schönheit.“ [Ueber Schöngeisterei. Vortrag des Herrn Dr. Paul Schlenther aus Berlin. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 49, Nr. 60, 6.2.1896, Vorabendblatt, S. 9]“ aufzuführen.

Als Sie die Liebenswürdigkeit hatten, mir das Manuscript persönlich zurückzubringen, sah ich darin eine definitive Ablehnung. Da ich nun aber erfahre, daß Sie sich auch späterhin noch für die Arbeit interessirten, wird es Ihnen nicht als übergroßen Zudringlichkeit erscheinen, wenn ich Ihre Aufmerksamkeit | noch einmal in Anspruch zu nehmen wage. – Die Urtheile der Presse„Schon in den ersten Rezensionen wird ‚Der Erdgeist‘ von den Zeitgenossen Wedekinds stilistisch und inhaltlich als etwas durchaus Neues aufgefaßt“ [KSA 3/II, S. 1099; vgl. S. 1107-1111] – so von Arthur Moeller van den Bruck: „Mit diesem Buche ist es sonderbar: ich kenne in allen Litteraturen auch nicht eine einzige Dichtung, die ihm verglichen werden kann ... so selbständig, so durchaus neu wirkt es [...]. Und darum, weil es so originell ist, reizt es auch so ungemein ... Alles ist symbolisch an ihm: der Titel, die Menschen und mit den Menschen auch das Milieu“ [Die Gesellschaft, Jg. 11, Heft 12, Dezember 1895, S. 1682], von Otto Julius Bierbaum: „Einen weiteren Schritt in antirealistischer Richtung bedeutet ‚Der Erdgeist‘ [...]. Seine Tragödie [...] ist [...] interessant [...] dadurch, wie dieser eigenthümliche Dichter diesen Stoff anfaßt“ [KSA 3/II, S. 1108; in der Wiener Wochenzeitung „Die Zeit“], von Oskar Panizza: „Das ist nun also eine ganz neue Methode: Jede Person antwortet nicht auf die an sie gestellte Frage, sondern auf irgend eine andere, sich selbst gestellte, oder überhaupt nicht gestellte, wohl aber in der Luft liegende. Und die wirklich gestellte Frage fällt unter den Tisch. Der Leser wird paff, und frägt sich: Wo hab ich doch so reden hören? [...] der Leser wird an wirkliche Scenen erinnert. Und die Richtigkeit der Methode ist damit bewiesen. [...] Es ist [...] diese Methode [...] grundverschieden und entgegengesetzt der sog naturalistischen Methode [...]. Das ist nun Wedekind“ [Die Gesellschaft, Jg. 12, Heft 5, Mai 1896, S. 693-695]. sind bei allen Aussetzungen so ziemlich alle darüber einig, daß mein Stück der dramatischen Kunst einen neuen Weg zu einem neuen Stil weist; zur künstlerischen Einfachheit, mit den geringsten Mitteln etwas zu erreichen, was mit Aufbietung der größten Mittel zu erreichen nicht möglich ist. Aus diesem einzigen Grunde glaube ich daß eine Aufführung des Dramas ungeheuer anregend wirken würde. Es würde sich sehr bald jemand finden, der in der gleichen Weise etwas Besseres, vielleicht Vollkommenes schafft. Das Stück ist sehr leicht zu spielen, da es keine intimen Töne hat, | die meiner Überzeugung nach nicht auf die Bühne gehören, wo sie verloren gehen, sondern in das Buchdrama, wo die Phantasie sie interpretirt. Von diesem Grundsatz ging ich, entgegengesetzt der ganzen modernen Richtung, beim Schreiben denSchreibversehen, statt: des. Erdgeistes aus. Anderseits habe ich auch den Himmel gebeten, mich vor der Charybdiswie die Scylla ein Meeresungeheuer aus der griechischen Mythologie (danach die Redensart ‚zwischen Scylla und Charybdis‘ zur Beschreibung einer ausweglosen Lage). des Symbolismus zu bewahren. Ich wollte nichts anderes als Realist sein.

Was den stellenweis einsylbigen Dialog betrifft, an dem sich Herr Director BrahmOtto Brahm, 1889 Gründungsmitglied des Vereins Freie Bühne [vgl. Schanze 1978, S. 275] und dessen erster Vorsitzender, war seit 1894 Direktor des Deutschen Theaters in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1896, S. 252]; er dürfte eine Aufführung des „Erdgeist“ durch die Freie Bühne 1895 (siehe oben) abgelehnt haben. gestoßen, so sehe ich darin durchaus keine Gefahr führSchreibversehen, statt: für. die Wirkung. Er wirkt unverständlich wenn man ihn rasch herunterliest. Da er aber zwischen Personen stattfindet die sich dabei Bewegung machen und über das was sie sagen einen | Augenblick nachdenken, so wird sich die Natürlichkeit ganz von selbst ergeben.

Ich mache mir das Vergnügen, Ihnen das Stück beizulegenWedekind hat dem Brief ein nicht überliefertes Exemplar der Erstausgabe seiner Tragödie „Der Erdgeist“ (1895) beigelegt, auf deren Vorsatzblatt er eine Widmung geschrieben hat; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Paul Schlenther, 13.4.1896.. Vielleicht haben Sie die Güte, es noch einmal zu durchblätterSchreibversehen, statt: durchblättern.. – Darf ich Sie bitten Herrn Dr. Welti bestens von mir grüßenDr. phil. Heinrich Welti, Schriftsteller (vor allem als Musikkritiker) in Berlin (Lützowstraße 20) [vgl. Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1895, Teil I, S. 1477], den Wedekind seit der Schulzeit in Aarau kannte [vgl. KSA 8, S. 1000] und mit ihm befreundet war (siehe Wedekinds Korrespondenz mit Heinrich Welti), war Mitglied der 1884 von Paul Schlenther mitbegründeten Zwanglosen Gesellschaft in Berlin [vgl. Wülfing/Bruns/Parr 1998, S. 502] und plante mit ihm gerade ein Publikationsprojekt: „‚Das Neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung‘ betitelt sich ein litterarisches Unternehmen, zu dem eine Anzahl hervorragender Männer der Wissenschaft zusammengetreten ist [...]. In zwangloser Reihe werden von 1897 ab im Verlage von Dr. Georg Bondi in Dresden folgende Einzelwerke erscheinen: [...] Geschichte der Musik von Dr. Heinrich Welti (Berlin); Geschichte des Theaters von Dr. Paul Schlenther (Berlin), der zugleich die litterarische Leitung des Gesamtwerts übernommen hat.“ [Nachrichten aus dem Buchhandel, Nr. 106, 8.5.1896, S. 878f.] zu wollen.

In vorzüglicher Hochschätzung
Ihr ergebenster
Frank Wedekind


München, 13.4.96.
Adalbertstrasse 34.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 5 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11,5 x 18,5 cm. 4 Seiten beschrieben. Einzelblatt. 11,5 x 18,5 cm. 1 Seite beschrieben.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    13. April 1896 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Deutsches Literaturarchiv Marbach

Schillerhöhe 8-10
71672 Marbach am Neckar
Deutschland

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
B: Wedekind, Frank
Signatur des Dokuments:
B: Wedekind, Frank 57.252
Standort:
Deutsches Literaturarchiv Marbach (Marbach am Neckar)

Danksagung

Wir danken dem Deutschen Literaturarchiv Marbach für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Paul Schlenther, 13.4.1896. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Überarbeitet von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

10.03.2024 18:22