Kennung: 435

München, 25. November 1911 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Block, Paul

Inhalt

Sehr verehrter Herr BlockPaul Block, Journalist und Schriftsteller in Berlin (Nollendorfstraße 31/32) [vgl. Berliner Adreßbuch 1912, Teil I, S. 241], seit 1899 für das „Berliner Tageblatt“ tätig, die letzten Jahre als Korrespondent in Paris, hatte unlängst beim „Berliner Tageblatt“ (Chefredakteur: Theodor Wolff) die Leitung des Feuilletons übernommen: „In unserer Feuilletonredaktion tritt mit Beginn der neuen Woche ein Wechsel ein. Paul Block, der seit fast fünf Jahren Korrespondent des ‚Berliner Tageblatts‘ in Paris war, übernimmt wieder das Amt des leitenden Feuilletonredakteurs. das er bereits früher verwaltet hatte.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 40, Nr. 513, 8.10.1911, Morgen-Ausgabe, S. (2)].!

Sehr wohl erinnere ich mich, wie ich im Winter 1895 und 96 zu IhnenWedekind suchte seinerzeit in Berlin – er traf beim ersten Besuch am 20.1.1895 in Berlin ein [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 169], bei zweiten Besuch war er spätestens Mitte Dezember 1896 in der Stadt [vgl. Wedekind an Ludwig Fulda, 11.12.1896] – Paul Block auf, der damals Dramaturg und Sekretär am Neuen Theater sowie zugleich am Residenztheater (Direktion beider Bühnen: Sigmund Lautenburg) in Berlin war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1895, S. 283; Neuer Theater-Almanach 1896, S. 259; Neuer Theater-Almanach 1897, S. 265]. Paul Block erinnerte sich 1914: „Es werden siebzehn oder achtzehn Jahre her sein, da sah ich Wedekind zum ersten Male im Bureau des Berliner Neuen Theaters.“ [Friedenthal 1914, S. 151] ins Neue Theater kam und wie Sie mir rieten: Wenn Sie an die Bühne gelangen wollen, dann schreiben Sie doch einen Einakter, der ist am raschesten untergebracht. Ich schrieb meinen KammersängerWedekind schrieb seinen Einakter „Der Kammersänger“ (zunächst unter dem Titel „Das Gastspiel“) September bis Mitte Oktober 1897 [vgl. KSA 4, S. 323]. und erreichte damit meine erste Berliner Aufführungdie Uraufführung des von Martin Zickel inszenierten Einakters „Der Kammersänger“ am 10.12.1899 im Rahmen der Eröffnungsmatinee der Sezessionsbühne am Neuen Theater in Berlin; sie fand bei Publikum und Kritik eine positive Resonanz [vgl. KSA 4, S. 392]. Es war das erste Mal, dass ein Stück Wedekinds auf einer Berliner Bühne zu sehen war.. Schon hundert mal habe ich erzählt, wie zutreffend Sie mir damals rieten und werde das auch sicherlich nie vergessen.

Und nun empfangen Sie meinen herzlichen DankHinweis auf eine nicht überlieferte Anfrage; erschlossenes Korrespondenzstück: Paul Block an Wedekind, 24.11.1911 dafür daß Sie mich i vor die ehrenvolle Aug/f/gabe stellen, einer Weihnachtsdichtung für das B. T.Wedekind schrieb einen Beitrag zur Umfrage „Unsere Schriftsteller bei der Arbeit“ [KSA 5/II, S. 425f.], der in der Weihnachts-Ausgabe des „Berliner Tageblatt“ erschien [vgl. Berliner Tageblatt, Jg. 40, Nr. 654, 24.12.1911, Morgen-Ausgabe, 4. Beiblatt, S. (2)], „als vorletzter Beitrag der in alphabetischer Reihenfolge abgedruckten Beiträge“ [KSA 5/III, S. 820], insgesamt 45 Texte (jeweils mit der faksimilierten Unterschrift der Autoren und Autorinnen versehen), vorangestellt eine redaktionelle Einleitung, in der es heißt: „Wir haben an die deutschen Schriftsteller die Anfrage gerichtet, welche Arbeiten wir im kommenden Jahr von ihnen zu erwarten haben. Viele haben unsere Frage beantwortet […], eine kleine Anzahl hat die Antwort abgelehnt oder ist der Frage ausgewichen, aus Gründen, die wir achten müssen. […] Die Briefe folgen in alphabetischer Reihe, da bei dieser Gelegenheit jede kritische Sichtung nach Anciennität und literarischem Geschmack taktlos erscheinen müßte.“ [Unsere Schriftsteller bei der Arbeit. Eine Rundfrage. In: Berliner Tageblatt, Jg. 40, Nr. 654, 24.12.1911, Morgen-Ausgabe, 4. Beiblatt, S. (1)] Die Umfrage wurde am 28.12.1911 in der Morgen-Ausgabe des „Berliner Tageblatt“ mit elf weiteren Beiträgen fortgesetzt. Wedekinds Beitrag war ein Auszug aus einem Brief [vgl. Wedekind an Paul Block, 17.12.1911], der nicht als Briefauszug kenntlich gemacht war. zu schreiben. Aber das B. T. ist leider | über mich ganz anderer Ansicht als Sie, verehrter Herr Block. Aus beiliegender Besprechungnicht überliefert. Es dürfte sich entweder um Fritz Engels Besprechung von „Musik“ im „Berliner Tageblatt“ gehandelt haben, aus der Wedekind zitiert (siehe unten), oder um die im „Berliner Tageblatt“ veröffentliche Notiz von Fritz Engel, aus der Wedekind ebenfalls zitiert (siehe unten). ersehen Sie Zeile für Zeile, wie wenig ich mich für die Aufgabe eigeneSchreibversehen, statt: eigne.. Oder sollten Sie mir einen moralischen Selbstmord zumuten, indem Sie mich auffordern für das B. T. zu arbeiten und dadurch die von ihm über mich abgegebenen Urtheile zu sanktionieren? Das traue ich Ihnen nicht zu. Sicherlich vergessen Sie aber eines. Seit vier Jahren bin ich für die Leser des B. T.
ein GehirnZitat aus Fritz Engels Notiz zu Wedekinds Widerspruch gegen seine Besprechung von „Musik“ (siehe unten): „Uns läßt das sehr kalt, wie uns auch die Briefe kalt gelassen haben, die Wedekind im Laufe der letzten Monate direkt an uns gerichtet hat. Vor den Strafrichter gebracht, würden sie Herrn Wedekind einige Unannehmlichkeiten bereiten, uns selbst erschienen sie als die Äußerungen eines Gehirns, das in beklagenswerter Weise alle Urteilsfähigkeit und gesellschaftliche Kultur eingebüßt hat, um sich dafür mit einer abnormen Selbstanbetung zu füllen.“ [fe: Frank Wedekind und die „Akademische Bühne“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 38, Nr. 54, 30.1.1909, Abend-Ausgabe, S. (3)], das in beklagenswerter Weise alle Urteilsfähigkeit und gesellschaftliche Kultur eingebüßt hat, um sich dafür mit einer abnormen Selbstanbetung zu füllen.“

Diese öffentliche EntgegnungFritz Engels Notiz „Frank Wedekind und die ‚Akademische Bühne‘“ (siehe oben). des B. T. auf einen Privatbriefvgl. Wedekind an Berliner Tageblatt, 28.1.1909. wurde zwar unter vier AugenWedekinds Gespräch mit Fritz Engel, Feuilletonredakteur des „Berliner Tageblatt“, der sich polemisch über Wedekind geäußert hatte (siehe oben), fand am 5.2.1910 in Berlin statt: „Ich fahre zum Berliner Tageblatt. Theodor Wolff empfängt mich sehr liebenswürdig. Unterredung mit Fritz Engel.“ [Tb] mit Bedauern zurückgenommen. Die Leser des B. T. | haben aber von dieser Zurücknahme bis heute nichts erfahren und werden müssen denken, wenn sie einen Beitrag von mir im B. T. lesen, daß ich mir solche Beschimpfungen zur Ehre anrechne. Ich will nun auch nicht weiter davon reden, daß mein Einakter „Zensur“, der vor einem JahrWedekinds Gastspiel vom 6. bis 19.10.1910 („Die Zensur“, bei der Premiere zusammen mit „Der Liebestrank“) am Kleinen Theater in Berlin (insgesamt zehn Vorstellungen). am Kleinen Theater in Berlin aufgeführt wurde, von der Kritik des B. Ta unter einem an den Haaren herbeigezogenen Vorwande einfach mit Stillschweigen übergangenDas trifft so nicht zu. Paul Schlenther hatte der Berliner Premiere von „Die Zensur“ am 6.10.1910 am Kleinen Theater im „Berliner Tageblatt“ eine Besprechung gewidmet, in der er allerdings deutlich machte, dass das Stück seinen Erwartungen nicht entsprach [vgl. P.S.: Kleines Theater. Zum ersten Male: „Die Zensur.“ Theodizee in einem Akt. Hierauf: „Der Liebestrank.“ Schwank in drei Akten. Beides von Frank Wedekind. In: Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 509, 7.10.1910, Morgen-Ausgabe, S. (2)]. wurde, daß mir meine Dramen „Musik“ und „Oaha“ vom B. T.vor die Füße geworfenZitat aus Fritz Engels Besprechung der Berliner Premiere von „Musik“, in der es über „Musik“ heißt: „Es ist ein schlechtes Stück […]. Nein, Herr Frank Wedekind! Wer in Ihnen einen der originalsten Köpfe unserer Zeit, einen Schrittmacher neuer Anschauungen, einen Gestalter kühner Probleme [...] sieht [...], muß Ihnen dieses Stück und Stücke wie jenes ‚Oaha‘ vor die Füße werfen. Annahme verweigert.“ [F.E.: Wedekinds „Musik“. Erste Aufführung im „Kleinen Theater“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 558, 1.11.1908, Sonntags-Ausgabe, S. (2)] Wedekind hat die Formulierung mehrfach aufgegriffen, in Briefen [vgl. Wedekind an Berliner Tageblatt, 2.11.1908 und 4.11.1908] sowie in „BT“ überschriebenen Notizen: „Vor die Füße werfen = eine lausbubenhafte Unverschämtheit.“ [Nb 56, Blatt 65r] „Ein Stück vor die Füße werfen“ [KSA 5/III, S. 596].“ wurden, daß seit Jahren jeder Beifall, den ich in Berlin erziele vom B. T. todgeschwiegen wird, sondern ich erlaube mir, Ihnen folgenden Vorschlag zu machen:

Wenn das B. T. für meine literarischen Angelegenheiten die nämliche Aufmerksamkeit und Liebenswürdigkeit übrig hat, die es den literarischen Angelegenheiten von Gerhard Hauptmann widmetAnspielung auf gelegentliche Äußerungen über Gerhart Hauptmann im „Berliner Tageblatt“ – etwa in der Ankündigung einer Festschrift über den S. Fischer Verlag, zu der es heißt: „Aus dem Inhalt des Gedenkbuches können wir die wertvollsten Beiträge leider nicht wiedergeben, weil der Raum einer Tageszeitung beschränkt ist, und weil es brutal wäre, die Dichtungen zu zerreißen. Wir erwähnen, daß Gerhart Hauptmann die unveröffentlichte Schlußszene aus ‚Griselda‘ beisteuert“ [Berliner Tageblatt, Jg. 40, Nr. 537, 21.10.1911, Morgen-Ausgabe, S. (2)]; oder in der Meldung: „Zwischen der Direktion des Deutschen Theaters und Gerhart Hauptmann ist ein Vertrag zustande gekommen, nach dem Gerhart Hauptmanns Komödie ‚Schluck und Jau‘ innerhalb der nächsten Saison im Deutschen Theater zur Aufführung gelangen wird.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 40, Nr. 548, 27.10.1911, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Wedekind könnte auch schon Kenntnis davon gehabt haben, dass Gerhart Hauptmanns Roman „Atlantis“ (1912) im „Berliner Tageblatt“ vorabgedruckt werden sollte, wie dann vielfach angekündigt war (möglicherweise vorab bereits auf Plakaten), in der Zeitung selbst zuerst einige Tage nach dem vorliegenden Brief: „Gerhart Hauptmanns neuer Roman erscheint im ersten Quartal des nächsten Jahres im ‚Berliner Tageblatt‘. Der Roman führt den Titel ‚Atlantis‘. Er schildert die Abenteuer eines jungen deutschen Gelehrten, der auszieht, um in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Der erste Teil gipfelt in einem grandios gezeichneten Schiffbruch auf hoher See; der zweite Teil spielt in und bei New-York.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 40, Nr. 619, 5.12.1911, Abend-Ausgabe, S. (3)] , dann rechne ich es mir zur Ehre an, am B. T. mitzuarbeiten. Das damit keine Beeinflussung der Kritik | versucht ist, versteht sich von selbst, da Schmähnotizen, Beschimpfungen, Totschweigen und Fälschungen schließlich nichts mit Kritik zu tun haben. Sollte das B. T. aber mit meinem Vorschlag nicht einverstanden sein, dann werden Sie, verehrter Herr Block, es begreiflich finden, wenn ich meine Weihnachtsdichtungen lieber in Blättern veröffentliche, die ganz genau ebensoviel Entgegenkommen und Liebenswürdigkeit für mich wie für Gerhard Hauptmann übrig haben.

Mit den besten Grüßen
Ihr ergebener
Frank Wedekind.


München 25.11.11.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 19,5 x 28,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Seite 1 ist von fremder Hand mit Bleistift mit einem Eingangsvermerk („E. 28/11“) sowie von anderer fremder Hand mit Bleistift und blauem Buntstift mit archivalischen Notizen versehen, darunter der Vermerk: „Nicht zur Veröffentlichung bestimmt.“ Seite 4 enthält den Stempelaufdruck des früheren Liegeorts („STAATS-BIBLIOTHEK BERLIN“).

Datum, Schreibort und Zustellweg

Das Empfangsdatum ist durch die Eingangsnotiz auf dem Brief belegt.

  • Schreibort

    München
    25. November 1911 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Zwischenstation


    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    28. November 1911 (Dienstag)
    Ermittelt (sicher)

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Biblioteka Jagiellońska

aleja Adama Mickiewicza 22
30-059 Kraków
Polen

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Sammlung „Autographa“ aus der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin
Signatur des Dokuments:
Wedekind
Standort:
Biblioteka Jagiellońska (Kraków)

Danksagung

Wir danken der Jagiellonischen Bibliothek (Krakau) für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Paul Block, 25.11.1911. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

09.09.2023 14:03