Kennung: 4202

München, 15. Dezember 1889 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Armin (Hami)

Inhalt

München 15 XII 89.


Lieber Bruder,

dein lieber Briefvgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 11.12.1889. Der Brief ist demnach am 13.12.1889 in München angekommen. von vorgestern hat mich in meinem voreiligen Versöhnungseifer ziemlich ernüchtert. In erster Linie hatt’ ich dich allerdings mißverstanden. Ich glaubte aus dem weinerlichen Ton deines vorherigen Briefesvgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889. schließen zu dürfen, daß es dir mein Eingreifen in die Mißverhältnisse ohne Vorbedingung willkommen wäre. Nun aber meine Qualification zur Vermittlerrolle von einem zuvor zu bestehenden ExamenArmin Wedekind hatte von seinem Bruder „Aufklärung“ bzw. eine „Erklärung“ über früheres Verhalten verlangt, bevor er ihn als Vermittler akzeptieren wollte [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 11.12.1889]. abhängig gemacht wird so scheint es mir ungleich einfacher wenn du dich an einen von vornherein zuverlässigern und zugleich im Lande selbst w/W/ohnenden wendest. Ich würde Dir deinen Freund MützenbergErnst Mützenberg, Sohn eines Gerichtspräsidenten und Studienfreund von Armin Wedekind mit einer Praxis in Spiez. oder auch den Bierkater Burkhartmöglicherweise der mit Minna von Greyerz befreundete Eduard Burkhard, „ein sehr ernster junger Mann, mit soliden Grundsätzen“ [Minna von Greyerz an Wedekind, 30.7.1889], von dem sie allerdings glaubte, Wedekind würde ihn nicht „goutiren“. vorschlagen, denen beiden wol eine frivole Auffassung der Sache gleich fern liegen/t/. Der Umstand daß ich um deinetwillen Donald persönlich abzuholen | gedachte hätte dir eine gewisse Garantie für meine Aufrichtigkeit bieten können. Allerdings wär es mir auch nicht gut möglich gewesen, deine Frau dabei vollkommen aus dem Spiele zu lassen, wie man eben in der Regel k einen Storcht nicht braten kann, wenn man keinen hat. Ich würde ihr einige ganz sachliche Winke ertheilt haben die ihr – gerade ihr den Umgang mit Mama erleichtert hätten und somit, falls ihr die Geschichte nur einen Pfennig werth ist, wol eher vortheilhaft als nachtheilig auf ihre Schwangerschaft gewirkt haben dürften. Ich zweifle übrigens gar nicht, daß auch diese deine Bedingung obgenannten Vertrauensmännern Du mußt nothwendig auch den Pfarrer Bärmöglicherweise Pfarrer Jakob Baer aus Uster [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 147]. mitschicken. Er kann sich dann wieder, wie an deiner HochzeitArmin Wedekind und Emma Frey hatten am 21.3.1889 geheiratet., vollsaufen und Mieze mit Zärtlichkeiten anekeln. keinerlei Schwierigkeiten bereiten wird und bedauere nur daß man sich nun zu Haus schon vergebens auf meine Erscheinen zu Weinachten gefreut hat. Mama zeigte sich nämlich in der That meinen Bemühungen gegenüber durchaus nicht unzugänglich, was die Freude an meiner zu spielenden Rolle noch bedeutend erhöht hatte.

Daß du dich auch jetzt noch mit der Gratulationsgeschichte nicht abgefunden, hat mir eigentlich am | meisten zu denken gegeben. Sieh lieber Hammifamiliärer Spitzname Armin Wedekinds., ich habe noch meiner Lebtag in keiner Gesellschaft verkehrt, in der man „einen anschwärzt“diese und die weiteren in Anführungszeichen gesetzten Formulierungen sind keine Zitate, sondern sinngemäße Übernahmen aus den beiden letzten Briefen Armin Wedekinds an Frank Wedekind. „einem etwas steckt“ „einen aufhetzt“ und wie deine übrigen Ausdrücke heißen. In meinen Bekanntenkreisen ist von jeher über jeden offen gesprochen worden, wodurch der Verkehr Leben, Interesse und einen gewissen Ernst erhielt. Übelnehmereien, Beleidigungen e.ct. sind dadurch ausgeschlossen, daß, was auch verhandelt werden mag, keiner an der guten Absicht, der Harmlosigkeit der Übrigen zweifelt. Daß man über die Menschen spricht wenn sie nicht anwesend sind bringt den Vortheil mit sich daß dann die Begriffe Lob und Tadel wegfallen und das pure Interesse in den Vordergrund tritt. So haben wir es bei meinem ersten AufenthhaltSchreibversehen, statt: Aufenthalt. Frank Wedekind ging zum Wintersemester 1884/85 als Jurastudent nach München. Ein Semester lang studierte er gemeinsam mit seinem Bruder Armin in München und teilte sich die Wohnung mit ihm, bevor Armin nach Zürich wechselte. Frank Wedekind blieb bis zum Sommer 1886 in München und kehrte nach Aufenthalten in Zürich und Berlin am 4.7.1889 wieder dorthin zurück. hier in München gehalten, so in Zürich, in Berlin, so hab ich es zu Hause vorgefunden und so leb ich auch nun wieder unter neuen Bekannten. Dagegen erinnre ich mich noch sehr wol in Z/d/er Zofingianichtschlagenden schweizerische Schüler- und Studentenverbindung, der Armin Wedekind am 18.5.1881 beigetreten war. oft stundenlange Debatten darüber mit angehört zu haben, ob Loch oder Zapfendie beiden Bezeichnungen aus der Holzverarbeitung hier wahrscheinlich als Stellvertreter für beliebige Namen; eventuell auch Biernamen von Mitgliedern der Zofingia. der Beleidiger resp. Beleidigte sei und ob resp. wie Loch oder Zapfen Genugthuung werden müsse. Wie kamst du diesen Sommer dazu, Mama „zu stecken“ was ich dir in Bezug auf den Schanzenabbruch„Im Jahr 1889 waren diverse Restaurierungsarbeiten, [...] auch an der Schanze [...] auf Schloss Lenzburg, notwendig geworden. Im Zuge dieser Arbeiten beschloss die Gemeinde Lenzburg, den Schlossfelsen wegen eines möglichen Absturzes untersuchen zu lassen“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 149], wobei diese am 26.2.1890 abgeschlossenen Untersuchungen ergaben, ein Abbruch der Schanze sei nötig, was wiederum zum Streit zwischen Emilie Wedekind und der Stadt Lenzburg führte [vgl. ebd.]. Wedekind hatte von der Notwendigkeit, das Befestigungswerk auf Schloss Lenzburg abzureißen, von seiner Schwester erfahren [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 11.8.1889]. Im Tagebuch hielt er dazu am 15.8.1889 fest: „Vormittag erhalt ich einen Brief von Mati der mich in Schrecken setzt durch die Nachricht, die Schanze solle abgebrochen werden.“ geschrieben. Der Briefnicht überliefert; in Frage kommen die erschlossenen Korrespondenzstücke: Frank Wedekind an Armin Wedekind, 19.8.1889 oder 21.8.1889. Erika Wedekind berichtete von Wedekinds „sarkastischen Bemerkungen über den Schanzenabbruch“ in diesem Brief, „die dann Hammi mit größtem Wohlbehagen auftischte“ [Erika Wedekind an Frank Wedekind, 22.9.1889], nachdem es wegen Frau Mink zum Streit mit seiner Mutter gekommen war. | war nun allerdings darauf berechnet und ist auf dem vorausgesetzten Wege richtig an seine Adresse gelangt. Deshalb bleibt deine Handlungsweise aber doch ein „Anschwärzen und Aufhetzen“. Übrigens kannst du dich in diesem Fall trösten. Jenes Briefes ist bis heute zwischen Mama und mir noch nicht mit einer Sylbe Erwähnung geschehen und unser Verkehr um kein Haar weniger herzlich als zuvor. Wenn du darauf bestehst unseren Verkehr nach Zofingia-Commentdie geschriebenen und ungeschriebenen Regeln innerhalb einer Studentenverbindung (von frz. ‚wie‘). zu gestalten, so bestehe ich meinerseits darauf, wenigstens auch einen schriftlichen Contocorrent(ital.) laufende Rechnung; verzeichnet die gegenseitigen Zahlungen zweier Geschäftspartner. über unsern Umsatz an Beleidigungen zu eröffnen, damit unsere s respectivenjeweiligen. Nachkommen daraus ersehen können mit welchen Mitteln es ihren Vätern glücklich gelungen ist, sich das Leben zu verbittern.

Es erregt mir beinah Brechreiz dir auf deine übrigen Anklagepunkte zu antworten. Dir speciell gegenüber hab ich von jeher ein reines Gewissen gehabt und deiner Frau gegenüber war mein Gewissen seit letztem Winter so rein wie ein frisches Bettlaken. Während ihres Lenzburger AufenthaltesEmma Frey war über Weihnachten 1888 ohne ihren Verlobten in Lenzburg zu Besuch [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 24.12.1888]. thaten wir im Verein was in unseren Kräften stand um ihre bodenlose Langweiligkeit, ihre Abgeschmacktheiten, ihre naiv sein sollenden Witze, für die man | ein fünfjähriges Kind rüffeln würde, zu verdauen, und sie den Eindruck, den sie damit hervor rief nicht fühlen zu lassen. Ich studirte mir meinen Hirnkasten aus wofür sich diese Seele wol interessiren lassen würde. Als der Brunnen reparirt wurde, war kein Mensch im ganzen Schloß der sich nicht für die interessante Arbeit erwärmt hätte, außer ihr. Sie mochte das selber fühlen und wollte wol ein übriges thun als sie mich in folgende Unterhaltung verwickelte. Mit Mama sprach ich im Saal drüber ob und wie hoch wol Wasser im Brunnen stehe, da fragt mich Emma: Ist denn das Wasser tief im Brunnen? – Nun, so circa 30 Fuß. – Aber ist denn das sehr tief? – Nun, das ist etwa dreimal so tief wie diese Stube. – Das ist aber nicht sehr tief. Ich hätt’ es mir tiefer gedacht. – Du meinst den ganzen Brunnen? Der ist etwa 180 Fuß. – Ist das tief für einen Brunnen oder ist es nicht sonderlich tief? – Nun ich habe noch keinen tieferen gesehen, – worauf sie mir entgegnet: Das ist aber ein tiefer Brunnen!! – Wie ein Hund der ein paar Fußtritte gekriegt, drückt ich mich zur Thür hinaus | und fand nur geringe Erholung darin das Cabinetstückin der Regel ironisch verwendete Bezeichnung für ein seltenes Meisterwerk oder eine besondere Leistung. von Conversation in meinem Tagebuch zu verewigen. Ich gab ihr eine Handvoll der interessantesten Bücher, erstens in der Voraussetzung, daß ich ihr als einer gebildeten Person einen Gefallen damit erweise und zweitens um wenigstens dies oder jenes Gesprächsthema zwischen uns zu schaffen. Eine halbe Stunde später giebt sie mir sämmtliche mit Dank wieder zurück und mit der Bemerkung sie gefielen ihr nicht – nach einer halben Stunde! Es waren Turgenieff „Väter und Söhne“ darunter die mir meine gegenwärthige Wirthin hier vor einiger Zeit mit der Bemerkung zurückgab, das sei ihr ein liebs liebs Bücherl, ein Urtheil, das sie keineswegs einem speciell litterarischen Interesse zu danken hat. Meine Wirthin ist WäscherinWedekinds Vermieterin Anna Mühlberger war „Kleidermacherin“ [Adreßbuch von München für das Jahr 1890, Teil I, S. 235]. und steht den ganzen Tag über im Waschhaus aber sie besitzt eine gewisse Dosis Kopf und Herz die sie für den in der ganzen Welt hochgeachteten Poeten reactionsfähig macht. Deine Frau reagiert nur auf Julius Stindezeitgenössischer Erfolgsautor, der in den 1880er Jahren mit seiner humoristischen Romanreihe „Familie Buchholz“ bekannt wurde., die sprichwörtliche Seichtigkeit und Banalität. Du erinnerst dich noch wie sie in deiner Gegenwart von den Frühlingswogen1873 erschienene und im gleichen Jahr ins Deutsche übersetzte Novelle von Ivan Turgenev, deren Handlung in Deutschland spielt. | sagte „Es ist Lenz“. Du wurdest damals roth bis über die Ohren. Ich frage dich nun, da wir dank deiner Übelnehmerei so weit gekommen, auf welcher Seite wol dieses Blech zu suchen sei. – Ich machte ihr während der 14 Tage mehr als einmal den Vorschlag, sie zu Frau OschwaldDie Schriftstellerin und Laiendarstellerin Fanny Oschwald, Schwester von Wedekinds Tante Bertha Jahn und Mutter seines Mitschülers Walther Oschwald, der später Erika Wedekind heiratete. zu führen, worauf sie mir entgegnete, du würdest wüthend werden. BeruthSchreibversehen, statt: Beruht. nun diese Antwort auf Wahrheit, so ist das ein trauriges Zeichen für dich. Beruth sie auf Unwahrheit so ist es ein unendliches traurigeres für deine Frau. Ist aber die ganze Geschichte, wie du keinen Augenblick zweifeln wirst, behufs Aufhetzung von mir aus der Luft gegriffen, so wäre alle Bemühung mich je wieder deiner Achtung würdig zu zeigen, an sich eine Narrheit. Anknüpfend an jene Bemerkung erzähteSchreibversehen, statt: erzählte. sie mir dann von deiner fortwährenden Eifersüchtelei und daß sie ihre liebe Noth mit dir habe. Wozu das? Es wäre mir jedenfalls angenehmer und interessanter gewesen hätte sie mir irgend etwas von Dir vorgeschwärmt. Später erfuhr ich dann, daß sie auch Mama und Mieze mit diesem Stoff unterhalten. und Mieze hat daraus den Schluß gezogen sie sei falsch, meiner Ansicht nach durchaus mit Unrecht. Es war nichts als Ziererei | auf Grund ihrer maßlosen Dummheit, die nämliche läppische Ziererei, mit der sie sich bei der Unterzeichnung des Ehecontractes nothwendig geniren zu müssen glaubte und sich dabei anstellte wie ein/als/ säße sie auf dem Kackstuhl. Deine Frau mag sich anstellen wis/e/ sie will, ich werde sie nie für falsch halten; aber mit der Dummheit ist eben am schwersten auskommen. So hat sie sich denn auch in unserm geselligen Verkehr allen Augenblick verletzt fühlen müssen. Behandelte man ein ernstes Thema so konnte sie nicht mitsprechen und wurde gescherzt so blieb sie regelmäßig die Antwort schuldig. Auf diese Weise wird der harmloseste Witz eben verletzend. Was war das, als du eines Sonntags herüberkamstaus Riesbach bei Zürich, wo Armin Wedekind wohnte und eine Arztpraxis eröffnet hatte. für ein Geschrei über eure Kartoffelklöße. Beim Thee wurde über nichts als Kartoffelklöße gesprochen. Deine Braut will sie kochen lernen und Mama verspricht mit vor Freude strahlendem Gesicht in den nächsten Tagen welche zu kochen. Nach dem Thee wird im Saal musizirt. Deine Braut und du sitzen in einer Ecke in eifrigstes Geflüster vertieft, so daß ich in meiner Einsamkeit in der gegenüberliegenden Ecke mich von den wehmüthigsten Gedanken beschlichen fühle. Unversehens hört | ich dann das Wort Kartoffelklöße aus eurem Geflüster heraus. Und werden also drei Tage später richtig Kartoffelklöße gekocht, wobei deine Braut ein einziges Mal auf 5 Minuten, bis über die Ohren in ihren Schal eingewickelt in der Küche erscheint. Dieses Gethu war nicht eben geeignet Mamas Begeisterung für ihre Schwiegertochter zu nähren und dessen ungeachtet hat auch sie alles hinuntergeschluckt und nur im Stillen die Tage bis zur Abreise gezählt, bis es schließlich zu einem gelinden Krach kam, nota bene(lat.) wohlgemerkt., einem Krach um deinetwillen. Aber ich werde hier mein Tagebuch selber sprechen lassen.

18.(III)Das Tagebuch ist nicht überliefert; der Eintrag stammt wahrscheinlich vom 18.3.1889, drei Tage vor Armin Wedekinds Eheschließung.Mieze stört mich bei der Toilette mit der Nachricht daß Mama und Emma sich gezankt haben. Emmchen hat sich wieder über Hammi’s Eifersucht ausgelassen. Sie seien in der TonhalleDie Zürcher Tonhalle im Kornhaus am See beherbergte neben einem Konzertsaal (1867 bis 1895 betrieben) auch ein Restaurant und einen Palmengarten. 1895 wurde die neue Tonhalle am Alpenquai eröffnet. gesessen. Ihr Vater habe einen Herren, Freund von Hamminicht ermittelt. , an ihren Tisch gebeten. Hammi sei aufgestanden und habe sie, Emma mit nach Hause geschleppt. Zu Hause werde er unruhig wenn ein Besuch komme, gesellschaftlich ungenießbar, und ihre Mutter habe ihr gesagt, sie werde noch einen „Bösen“ an ihm kriegen. Mama | protzt los(schweiz.) ufprotzen = „zornig auffahren […], polternd aufbegehren“ [Schweizerisches Idiotikon, Bd. 5, Sp. 1042].. Sie werde auf jeden Fall mit ihm sprechen; er sei früher anders ges/w/esen, habe sich mit den Fröhlichen gefreut. Sie wolle doch sehn ob er sich so verändert. – Sie solle ihm um Gotteswillen kein Wort sagen. – Keine Idee! Sie werde ihn zur Rede stellen. – Nein nein, sie wolle ja alles tragen. – Wenn sie’s tragen wolle, dann solle sie auch das Maul halten. Und wenn sie es sagen wolle, so solle sie’s zuerst ihm sagen, entweder du behandelst mich anständig oder du kannst deiner Wege gehn. – Emmchen in Thränen. Versöhnung. Nach Tisch begleitet sie Mama in die Stadt und sucht ihr das Versprechen abzunöthigen, nichts zu sagen. Mama sagt, sie will es sich überlegen. Am Abend sag/ha/t Emmchen Migräne und sitzt stumm beim Ofen. Mama hat die Überzeugung gewonnen, daß sie ihn liebt. – Nach Tisch zu Minna e.ct.

Ich will diesen Brief nicht fertig schreiben. Ich hätte dir noch viel zu sagen aber ich will es dir und mir ersparen. Ich fühle mich durch das Gesagte schon so deprimirt, daß ich eile zu meiner Arbeit zurückzukommen. Ich werde mich doch nicht wegen geistiger Sklavenhaltereidiese und die folgenden unterstrichenen Formulierungen sind zugespitzte Äußerungen aus den beiden letzten Briefen des Bruders [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889 und 11.12.1889]., wegen Experimentalpsychologie und wegen Suggestion von Vorurtheilen für die Zeit meiner Abwesenheit verantworten. Und wenn ich es um des lieben Friedens willen wollte, so möchtest du in drei Wochen da oder dorther die j/od/er jene Äußerung von früher erfahren und all meine Mühe wäre umsonst. Du weißt die Courtoisie(frz.) Höflichkeit, feines Benehmen. des Umgangs nicht zu schätzen, so will ich dich denn damit verschonen. Im Bewußtsein alles redlich und rechtlich zu wollen, verlangst du von deinen Angehörigen, sich gegenseitig in der Überzeugung zu bestärken daß ein Schimmel ein Rappe sei. Willy der drei Tage lang nichts als Gutes von euch genossen, erklärte mir am ersten Abend deines Lenzburger Aufenthaltes daß er von deiner Frau gar nicht viel halte, aber zu sehr Egoist sei, um sich die Angelegenheit näher gehn zu lassen. Dem hab ich wol zuvor nach Afrika hinüber hypnotisirtWilliam Wedekind war mit seiner Frau im Herbst 1889 nach Südafrika ausgewandert, der genannte Besuch in Lenzburg fand vorher statt. 1888 war William Wedekind in Nordamerika gewesen, so dass Frank Wedekind hier vermutlich Afrika und Amerika verwechselt hat.. Du sagst ich hätte die Braut meines Bruders nicht in ihr geachtet. Sobald sie deine Braut geworden war sie mir als solche heilig und hätte sie jemand beschimpfen wollen, so hätt ich mich dazwischen gestellt und werde deiner Frau gegenüber stets das nämliche thun, mag sich nun das Verhältniß zwischen uns gestalten wie es will. Der beste Beweis für diese meine Gesinnung hätte dir mein letzter Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Armin Wedekind, 10.12.1889. sein können. Da ich nun indessen aber aus deinen | Anschuldigungen gegen jedermann ersehe, wie du überall bösen Willen voraussetzt ohne die Verhältnisse deren Urheber du selber bist im geringsten in betracht zu ziehen, so ist das klare Bild das du mir von dem Lenzburger Vorgang zu geben bemüht bist ziemlich verdunkelt worden. Das Thun und Wesen deiner Frau, ihre jedes geistigen Gehaltes, jeder körperlichen Grazie entbehrenden krampfhaften Bemühungen, sich liebenswürdig zu machen, haben für jeden der nicht in sie verliebt ist, etwas enervirendesetwas auf die Nerven Gehendes, Strapazierendes., etwas das einen allmählig in eine hochgradige höchst unbehagliche Erregung versetzt, etwa so wie Zahnweh oder andauerndes KlaviergeklimperWedekind hatte eine Abneigung gegen „Klaviergeklimper“ [Wedekind an Maximilian Harden, 10.9.1913].. woraus erklärlich wird, daß man sich eben schließlich mal vergißt, wie es Mama letzten Sommer offenbar passirt ist. Ich habe dir das schon früher gesagt und du hättest damit rechnen können. Aber statt Liebe und Vertrauen sich mit der Zeit aus den Verhältnissen entwickeln zu lassen, wie es nothwendig von selbst geschehen würde, pochst du fortwährend darauf, daß sie noch nicht vorhanden sind, das einzige Mittel um sie im Keim zu ersticken. Werr Hund und Katze zusammenbringt, darf sich nicht wundern, daß sie einander in die Haare gerathen. Aber mit der Zeit wird in der ganzen Welt auch aus Hund und Katze das beste Freundespaar. Wenn du Mama | hochmüthig und stolz nennst, so ersuch ich dich das dem geringsten ihrer Tagelöhner gegenüber zu wiederholen. Du kannst dir auf diese Entdeckung was zu gute thun. Du bist auf Gottes weiter Welt jedenfalls der erste, der sieh gerade dieser Fehler verdächtigt. Auf was für Gedanken kommt man aber auch nicht, wenn man sich gewaltsam die Augen zuhält. Übrigens hast du ja Mama Frey als Ersatz, die, wenn auch nicht so gemüthvoll, so liebevoll, so taktvoll wie unsere Mutter, doch dafür um so bornirterengstirniger, uneinsichtiger. ist, an Geist eine Mediceische Venusantike Statue aus dem 1. Jahrhundert vor Christus; Abgüsse von ihr waren in bürgerlichen Haushalten zeitgenössisch weit verbreitet. Die Statue galt als Ideal klassischer weiblicher Schönheit. , an Körperschönheit ein Conversationslexicon, ein „Faust II. Theil“ an Thatkraft und Energie und an S/s/eelischer Tiefe die vollendete Dampfmaschinen, und welche deinen Ansprüchen ohne Zweifel nachgerade unvergleichlich besser convenirtzusagt, gefällt.. Ja ja, was Schwiegermütter betrifft hast du’s vortheilhafter getroffen als deine arme Frau. Du brauchtest nur in deinem bisherigen Abstieg vom Elternhaus durch den TurnvereinArmin Wedekind war Mitglied im Kantonsschülerturnverein Aarau. und die Zofingia hindurch weiter zu steigen; und sie sollte hinauf. Und da das nun einmal nicht geht sollen wir eben herunterkommen, gleichfalls sein wie die Kindlein, mit Verknügen und mit Vergnüken und mit Verknüken und mit Vergenügen uns die Zeit vertreiben | und „gogen lugen“(schweiz.) schauen gehen. und uns gieren und genieren und übelnehmen und Skat spielen zur Erhöhung des häuslichen Glücks und bei Leibe von keinem Menschen, dem es zu Ohren kommen könnte etwas unvortheilhaftes sagen. Dein Windmühlenrennenein aussichtsloser Kampf, abgeleitet von Miguel Cervantes Roman „Don Quijote“ (1605), dessen Titelheld gegen Windmühlen kämpft, die er für Riesen hält. gegen das Princip des fre gesunden Egoismus und der freien Individualität ist an sich so klassisch daß es mir ferne liegt seine Wirkung durch einen Commentar abzuschwächen. Ihren Höhepunkt erreicht deine Naivetät indessen in deinen Auslassungen über Frl. Mink. Nachdem du das Mädchen mit Schubkarrenvoll des unflätigsten Schmutzes beworfen zweifelst du nicht daran, daß sie mir ausnehmend behagen würde. Danke schön! Mir hat noch meiner Lebtag keine „Dreckseele“Zitat aus Armin Wedekinds letztem Brief [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 11.12.1889], der die Untermieterin Mink auf Schloss Lenzburg so charakterisiert hatte. behagt. Da mir aber das Behagen auch von anderer Seitevgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 30.7.1889. versichert wird so glaube ich daran, indem ich mich an die Majorität halte in der dein Urtheil den Ausschlag giebt, und stelle dir deinen Düngerhaufen, für den ich keine Verwendung finde, wieder zur Verfügung. Sieh, lieber Bruder, schon in deinem ersten Briefvgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889. beginnst du zu schimpfen und ich habe mit keiner Sylbe davon Notiz genommen. Und in deiner Antwort reihen | sich nun die Schimpfwörter so fließend an einander wie Perlen an einer Schnur. Wo ndiese oder jene Beleidigung gefallen oder Mißverständnisse vorliegen da läßt sich mit gute Willen alles in’s Geleis bringen. Wo aber Begriffe wie „Haß“ „Verachtung“ „Bosheit“ e.ct. zur Verwendung gelangen, da bleibt jede Versöhnung elende Flickschusterei. Und deshalb dank ich dir daß du mich durch deine Hochnothpeinlichkeit einer Aufgabe enthoben, der ich doch vermuthlich nicht gewachsen gewesen wäre. Dagegen bedaure ich von Herzen daß ich dir, statt des eines Weihnachtspresentes, das auch mir Freude gemacht hätte, nun Dank deinem Heißhunger nach Aufrichtigkeit nicht umhin kann, dieses weniger erfreuliche darzubringen. Dessen ungeachtet wünsch ich euch frohe Feiertage

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 8 Blatt, davon 15 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 18 x 22,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Doppelblätter sind mit römischen Ziffern von I bis IV nummeriert (hier nicht wiedergegeben). Von fremder Hand sind mit Bleistift am oberen Seitenrand Bemerkungen hinzugefügt, auf Seite 1: „an Armin Wedekind“ und „84?“, auf Seite 3: „Hammi = Armin“.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Als Empfangsort wird der Wohnort Armin Wedekinds angenommen.

  • Schreibort

    München
    15. Dezember 1889 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Riesbach
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 211
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Armin (Hami) Wedekind, 15.12.1889. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

22.03.2023 13:46