München 15 XII 89.
Lieber Bruder,
dein lieber Briefvgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 11.12.1889. Der Brief ist demnach am 13.12.1889 in München angekommen. von vorgestern hat mich in meinem
voreiligen Versöhnungseifer ziemlich ernüchtert. In erster Linie hatt’ ich dich allerdings
mißverstanden. Ich glaubte aus dem weinerlichen Ton deines vorherigen Briefesvgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889.
schließen zu dürfen, daß eswenkt
Daß du dich auch jetzt noch mit der Gratulationsgeschichte
nicht abgefunden, hat mir eigentlich am | meisten zu denken gegeben. Sieh
lieber Hammifamiliärer Spitzname Armin Wedekinds., ich habe noch meiner Lebtag in keiner Gesellschaft verkehrt, in
der man „einen anschwärzt“diese und die weiteren in Anführungszeichen gesetzten Formulierungen sind keine Zitate, sondern sinngemäße Übernahmen aus den beiden letzten Briefen Armin Wedekinds an Frank Wedekind. „einem etwas steckt“ „einen aufhetzt“ und wie deine
übrigen Ausdrücke heißen. In meinen Bekanntenkreisen ist von jeher über jeden
offen gesprochen worden, wodurch der Verkehr Leben, Interesse und einen
gewissen Ernst
erhielt. Übelnehmereien, Beleidigungen e.ct. sind dadurch ausgeschlossen, daß, was auch verhandelt werden mag, keiner an der guten
Absicht, der Harmlosigkeit der Übrigen zweifelt. Daß man über die Menschen
spricht wenn sie nicht anwesend sind bringt den Vortheil mit sich daß
dann die Begriffe Lob und Tadel wegfallen und das pure Interesse in den
Vordergrund tritt. So haben wir es bei meinem ersten AufenthhaltSchreibversehen, statt: Aufenthalt. Frank Wedekind ging zum Wintersemester 1884/85 als Jurastudent nach München. Ein Semester lang studierte er gemeinsam mit seinem Bruder Armin in München und teilte sich die Wohnung mit ihm, bevor Armin nach Zürich wechselte. Frank Wedekind blieb bis zum Sommer 1886 in München und kehrte nach Aufenthalten in Zürich und Berlin am 4.7.1889 wieder dorthin zurück. hier in
München gehalten, so in Zürich, in Berlin, so hab ich es zu Hause vorgefunden
und so leb ich auch nun wieder unter neuen Bekannten. Dagegen erinnre ich mich
noch sehr wol in Zdu diesen Sommer
dazu, Mama „zu stecken“ was ich dir in Bezug auf den Schanzenabbruch„Im Jahr 1889 waren diverse Restaurierungsarbeiten, [...] auch an der Schanze [...] auf Schloss Lenzburg, notwendig geworden. Im Zuge dieser Arbeiten beschloss die Gemeinde Lenzburg, den Schlossfelsen wegen eines möglichen Absturzes untersuchen zu lassen“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 149], wobei diese am 26.2.1890 abgeschlossenen Untersuchungen ergaben, ein Abbruch der Schanze sei nötig, was wiederum zum Streit zwischen Emilie Wedekind und der Stadt Lenzburg führte [vgl. ebd.]. Wedekind hatte von der Notwendigkeit, das Befestigungswerk auf Schloss Lenzburg abzureißen, von seiner Schwester erfahren [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 11.8.1889]. Im Tagebuch hielt er dazu am 15.8.1889 fest: „Vormittag erhalt ich einen Brief von Mati der mich in Schrecken setzt durch die Nachricht, die Schanze solle abgebrochen werden.“
geschrieben. Der Briefnicht überliefert; in Frage kommen die erschlossenen Korrespondenzstücke: Frank Wedekind an Armin Wedekind, 19.8.1889 oder 21.8.1889. Erika Wedekind berichtete von Wedekinds „sarkastischen Bemerkungen über den Schanzenabbruch“ in diesem Brief, „die dann Hammi mit größtem Wohlbehagen auftischte“ [Erika Wedekind an Frank Wedekind, 22.9.1889], nachdem es wegen Frau Mink zum Streit mit seiner Mutter gekommen war. | war nun allerdings darauf berechnet und ist auf dem
vorausgesetzten Wege richtig an seine Adresse gelangt. Deshalb bleibt deine
Handlungsweise aber doch ein „Anschwärzen und Aufhetzen“. Übrigens kannst du
dich in diesem Fall trösten. Jenes Briefes ist bis heute zwischen Mama und mir noch
nicht mit einer Sylbe Erwähnung geschehen und unser Verkehr um kein Haar
weniger herzlich als
zuvor. Wenn du darauf bestehst unseren Verkehr nach Zofingia-Commentdie geschriebenen und ungeschriebenen Regeln innerhalb einer Studentenverbindung (von frz. ‚wie‘). zu
gestalten, so bestehe ich meinerseits darauf, wenigstens auch einen
schriftlichen Contocorrent(ital.) laufende Rechnung; verzeichnet die gegenseitigen Zahlungen zweier Geschäftspartner. über unsern Umsatz an Beleidigungen zu eröffnen,
damit unsere s
Es erregt mir beinah
Brechreiz dir auf deine übrigen Anklagepunkte zu antworten. Dir speciell
gegenüber hab ich von jeher ein reines Gewissen gehabt und deiner Frau
gegenüber war mein Gewissen seit letztem Winter so rein wie ein frisches
Bettlaken. Während ihres Lenzburger AufenthaltesEmma Frey war über Weihnachten 1888 ohne ihren Verlobten in Lenzburg zu Besuch [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 24.12.1888]. thaten wir im Verein was in unseren Kräften stand um ihre bodenlose Langweiligkeit,
ihre Abgeschmacktheiten, ihre naiv sein sollenden Witze, für die man | ein
fünfjähriges Kind rüffeln würde, zu verdauen, und sie den Eindruck, den sie
damit hervor rief nicht fühlen zu lassen. Ich studirte mir meinen
Hirnkasten aus wofür sich diese Seele wol interessiren lassen würde. Als der
Brunnen reparirt wurde, war kein Mensch im ganzen Schloß der sich nicht für die
interessante Arbeit erwärmt hätte, außer ihr. Sie mochte das selber fühlen und
wollte wol ein übriges thun als sie mich in folgende Unterhaltung verwickelte.
Mit Mama sprach ich im Saal drüber ob und wie hoch wol Wasser im Brunnen stehe,
da fragt mich Emma: Ist denn das Wasser tief im Brunnen? – Nun, so circa 30 Fuß.
– Aber ist denn das sehr tief? – Nun, das ist etwa dreimal so tief wie diese
Stube. – Das ist aber nicht sehr tief. Ich hätt’ es mir tiefer gedacht. – Du meinst den ganzen Brunnen? Der ist etwa 180 Fuß. – Ist
das tief für einen Brunnen oder ist es nicht sonderlich tief? – Nun ich habe
noch keinen tieferen gesehen, – worauf sie mir entgegnet: Das ist aber ein
tiefer Brunnen!! – Wie ein Hund der ein paar Fußtritte gekriegt, drückt ich
mich zur Thür hinaus | und fand nur geringe
Erholung darin das Cabinetstückin der Regel ironisch verwendete Bezeichnung für ein seltenes Meisterwerk oder eine besondere Leistung. von Conversation in meinem Tagebuch zu
verewigen. Ich gab ihr eine Handvoll der interessantesten Bücher, erstens in
der Voraussetzung, daß ich ihr als einer gebildeten Person einen Gefallen damit
erweise und zweitens um wenigstens dies oder jenes Gesprächsthema zwischen uns
zu schaffen. Eine halbe Stunde später giebt sie mir sämmtliche mit Dank wieder
zurück und mit der Bemerkung sie gefielen ihr nicht – nach einer halben Stunde!
Es waredu
würdest wüthend werden. BeruthSchreibversehen, statt: Beruht. nun diese Antwort auf Wahrheit, so ist das
ein trauriges Zeichen für dich. Beruth sie auf Unwahrheit so ist es ein
unendlichesundwieeinseben
18.(III)Das Tagebuch ist nicht überliefert; der Eintrag stammt wahrscheinlich vom 18.3.1889, drei Tage vor Armin Wedekinds Eheschließung. „Mieze stört mich bei der Toilette mit
der Nachricht daß Mama und Emma sich gezankt haben. Emmchen hat sich wieder
über Hammi’s Eifersucht
ausgelassen. Sie seien in der TonhalleDie Zürcher Tonhalle im Kornhaus am See beherbergte neben einem Konzertsaal (1867 bis 1895 betrieben) auch ein Restaurant und einen Palmengarten. 1895 wurde die neue Tonhalle am Alpenquai eröffnet. gesessen. Ihr Vater habe einen Herren, Freund von
Hamminicht ermittelt. , an ihren Tisch gebeten. Hammi sei aufgestanden und habe sie, Emma mit
nach Hause geschleppt. Zu Hause werde er unruhig wenn ein Besuch komme,
gesellschaftlich ungenießbar, und ihre Mutter habe ihr gesagt, sie werde noch
einen „Bösen“ an ihm kriegen. Mama | protzt los(schweiz.) ufprotzen = „zornig auffahren […], polternd aufbegehren“ [Schweizerisches Idiotikon, Bd. 5, Sp. 1042].. Sie werde auf jeden Fall mit
ihm sprechen; er sei früher anders gessagna
Ich will diesen Brief nicht fertig schreiben. Ich
hätte dir noch viel zu sagen aber ich will es dir und mir ersparen. Ich fühle
mich durch das Gesagte schon so deprimirt, daß ich eile zu meiner Arbeit
zurückzukommen. Ich werde mich doch nicht wegen geistiger Sklavenhaltereidiese und die folgenden unterstrichenen Formulierungen sind zugespitzte Äußerungen aus den beiden letzten Briefen des Bruders [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889 und 11.12.1889].Experimentalpsychologie und wegen Suggestion von Vorurtheilen
für die Zeit meiner Abwesenheit verantworten. Und wenn ich es um des
lieben Friedens willen wollte, so möchtest du in drei Wochen da oder dorther
die jdindessennicht in
sie verliebt ist, etwas enervirendesetwas auf die Nerven Gehendes, Strapazierendes., etwas das einen allmählig in eine
hochgradige höchst unbehagliche Erregung versetzt, etwa so wie Zahnweh oder
andauerndes KlaviergeklimperWedekind hatte eine Abneigung gegen „Klaviergeklimper“ [Wedekind an Maximilian Harden, 10.9.1913].. woraus erklärlich wird, daß man sich eben schließlich mal vergißt,
wie es Mama letzten Sommer offenbar passirt ist. Ich habe dir das schon früher gesagt und du hättest damit
rechnen können. Aber statt Liebe und Vertrauen sich mit der Zeit aus den
Verhältnissen entwickeln zu lassen, wie es nothwendig von selbst
geschehen würde, pochst du fortwährend darauf, daß sie noch nicht vorhanden sind, das einzige Mittel um
sie im Keim zu ersticken. WerrhSnfrendes