Kennung: 4169

Riesbach, 27. November 1889 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Armin (Hami)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

DR. Med. A. Wedekind
Riesbach-ZÜRICH.


Riesbach, den 27Datum fehlt wegen Papierverlusts.


Lieber Bruder!

Länger als ich dachte, hat es sich verzögert, daß bis ich Dir Nachricht über die am 1. Juli erfolgte Ertheilung von Willys Antheilam Erbe nach dem Tod des Vaters am 11.10.1888. Eine Auszahlung William Wedekinds war notwendig, da er mit seiner Frau im Herbst 1889 nach Südafrika auswanderte. Armin Wedekind hatte in der Sache bereits im Frühjahr mit Frank Wedekind korrespondiert [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 30.5.1889]. geben konnte. Das einfache Ergebniß der etwas complicirten Rechnung ist gestützt auf die am 1 Juli gültigen CurseDas Vermögen Friedrich Wilhelm Wedekinds war vor allem in Wertpapieren angelegt, die den üblichen Schwankungen unterlagen. folgendes gewesen:

Gesammtbaarvermögen 180194 frs 87 cms

Antheile der Einzelnen:

Mama (Heiratsgut inbegr) 47168 " In der Übersichtstabelle der Erbteile sind in den untereinanderstehenden Beträgen die Währungsbezeichnungen „frs“ (Francs) und „cms“ (Centimes) durch Wiederholungzeichen fortgeschrieben. 45 "

Meine „Wenigkeit“ 5542 "die Centimes-Angaben fehlen wegen Papierverlusts.

Dein Antheil 20384 "die Centimes-Angaben fehlen wegen Papierverlusts.

Willy 18931 " 80 " 

Frida 27902  "  10  "

Donald 28061  "  60  "

Emilie 32186  "  45  "


Das war am 1. Juli u Willy hat Donald seinen Antheil mit Ausnahme von 3 PanamakanalobligationenDie von der Panamagesellschaft ausgegebenen Schuldverschreibungen für den Bau des Panamakanals konnten seit Dezember 1888 nicht mehr eingelöst werden und waren damit wertlos geworden. mitgenommen.

Du ersiehst aus dem Resultat, daß wenn mein Antheil auch nicht groß war ich doch mit ihm bis heute noch nicht gut fertig | sein kann u daher Dein freundliches AnerbietenAnscheinend hatte Frank Wedekind seinem Bruder angeboten, ihm von seinem höheren Erbteil bei Bedarf Geld zu leihen. mit bestem Danke einstweilen abschlagen kann. – Donald der sich vor einigen Tagen telegraphisch angemeldetDas Telegramm von Donald Wedekind an seine Familie ist nicht überliefert. Er befand sich seit Februar 1889 auf einer Nordamerikareise. hat u wohl das D/S/ehnsucht zum heimischen Weihnachtsbaum bekommen haben muß wird dann wohl als getreuer Nachfolger von Willy seinen Antheil am Vermögen ebenfalls in irgend einem schwarzen Ert/d/theil anlegen wollen u es wäre wohl nicht überflüssig sich darüber zu äußern ob einem solchen Vorschlage zu entsprechen sei.

Mama habe ich 10500 frs in Gotthardobligationenvon der Gotthardbahngesellschaft ausgegebene Schuldverschreibungen zum Bau und Betrieb der Gotthardbahn, die 1882 eröffnet wurde. ausgehändigt, die sie in Lenzburg deponirt hat, um kleinere Anleihen zur Bezahlung laufender Schulden Ausgaben darauf machen zu können, da es ihr verleidet war mir jedesmal darum schreiben zu müssenArmin Wedekind war nach dem Tod des Vaters mit der Verwaltung des Geldvermögens betraut, so dass die Erben sich an ihn wenden mussten, wenn sie etwas ausbezahlt haben wollten. u ich nicht immer momentanhier im Sinne von: sofort, gleich. schicken konnte. Die WasserleitungDer Brunnen auf Schloss Lenzburg war vor kurzem durch eine Wasserleitung ersetzt worden, die aus einem Wasserturm und einem Bassin gespeist wurde [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 18.8.1889]. ist jetzt bis oben hin fertig. Nun haben sie die Abtritte abgerissen, um sie zu renoviren. Wie das Alles geht, darüber kann ich Dir keine Auskunft geben, Mama frägt mich natürlich über Nichts um Rath u kommt nur von Zeit zu | Zeit her, um mir das fait accompli(frz.) vollendete Tatsache. so weit sie es mag mitzutheilen. Mieze ist ja, wie Du wohl weißt mit dem Apotheker Könignicht identifiziert; näherer Zusammenhang nicht ermittelt. so schlecht wie verlobt, auch sie hat sich, klug geworden durch die gute Leitung in der HenkelaffaireZu Pfingsten 1887 hatte sich Erika Wedekind mit Karl Henckell verlobt [vgl. Nb 63, Blatt 72v]. „Die Verlobung, die offensichtlich auf Schloss Lenzburg nicht auf Beifall stieß, wurde bald darauf wieder gelöst.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 123] die Sache ziemlich selbstständig zurechtgezimmert. Ueber den/as/ Entwicklungsstadium, das das Verhältniß gegenwärtig einnimmt bin ich nicht orientirt. Weil ich mir bei unserm letzten AufenthaltArmin und Emma Wedekind waren ab dem 10. oder 11.8.1889 [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 18.8.1889] für zwei Wochen in Lenzburg [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 22.9.1889]. einige Worte über eine PensionärinFräulein Mink (siehe unten). „Wedekinds Mutter betrieb nach dem Tod ihres Mannes auf Schloss Lenzburg eine Pension für Feriengäste, um zusätzlich Einkünfte für sich und die Familie zu erzielen, solange das Schloss noch nicht verkauft war.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 136] Fräulein Mink wohnte seit Mitte Juli 1889 auf Schloss Lenzburg. erlaubte, die sich in ungeschminkter Dreistheit das Vertrauen eines jeden zu erfrechen pflegte u ungenirt die Zimmer u die Herzen eines jeden aller HausbewohnersSchreibversehen (unterlassene Folgekorrektur), statt: Hausbewohner. untersuchte u mit dieser Mama äußerst imponirenden Art u. Weise auch aus ihr bald unsere sämmtlichen Familienverhältnisse heraushatte, sodaß Mama von ganzem Herzen sichgestrichen und durch Unterpunktung wiederhergestellt. über Papa u seine ganze hannoversche Verwandtschaft ausließ, – weil ich mirgestrichen und durch Unterpunktung wiederhergestellt. nun also über eine solche Stellung dieses Fräuleins einige Worte entschlüpften, so trat ein Zerwürfniß ein u der so leicht bekannte Spruch „Das ist nicht mein Sohn der aus Dir spricht“ ertönte. | Als ich mit Emma am folgenden Tagewahrscheinlich der 24. oder 25.8.1889. abreiste wurden wir trotz vorheriger scheinbarer Freundschaft ohne irgend ein Wort des Abschiedes entlassen, ungefähr wie man einen Bettler von der Thüre weist. Diese meiner Frau vor Dienstboten und Jedermann offen angethane Kränkung, die sich durch Nichts rechtfertigen läßt u zu deren Erklärung man höchstens die „Hegung“ eines tief sitzenden Vorurtheils herbei ziehen kann ist bis jetzt durch Nichts gesühnt worden. Als ich eine Satisfaction durch einen BriefDas Schreiben von Armin Wedekind an seine Mutter in Lenzburg ist ebensowenig überliefert wie der genannte Antwortbrief. herbeizuführen hoffte, ward mir statt dessen in ebensolächerlicher W/a/ls unverständlicher Weise Neid u Mißgunst vorgeworfen u gegen Emma wieder die mehr als alberne Anklage von Aufhetzung geschleudert. Ich gab demSchreibversehen, statt: den. Brief Emma zur Beantwortung, die diese dummen Geschichten Vorurtheile mit Lachen überging, dennoch aber nicht verhehlte welch deprimirenden e/E/indruck die gefühllose u zweideutige Behandlung ihr hinterlassen hatte, die sie auch vor der HochzeitArmin Wedekind und Emma Frey hatten am 19.3.1889 geheiratet. in Lenzburg erduldet hatte u von der sie mir erst da die Hauptstückchen mittheilte. Darauf folgte nun gar keine Antwort mehr; die Beleidigung saß, kränkte u damit war man ja wohl zufrieden. | Die Fräulein Mink blieb als Siegerin u wurde auch für den Winter als angenehme Gesellschafterin angenommen. F/I/rgend eine Spur, daß die ungerechte u gehäßig in folge bornirenderSchreibversehen, statt: bornierter (engstirnig, uneinsichtig). engherziger Ideen angethane Beleidigung Emmas, die an der ganzen Sache auch nicht die kleinste Schuld trug Mama Leid gethan hätte, davon war keine Rede. Von Mieze erfuhr ichEin Brief von Erika Wedekind an ihren Bruder Armin in der Sache ist nicht überliefert, aber ein Brief an ihren Bruder Frank [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 22.9.1889]. dann allerdings deutlich genug, daß zu Hause weder der Wille noch ein Wunsch da war, die so tief u so gut eingepflanzten u durch so fruchtbaren Mist des Eigendünkels u der Selbstgenügsamkeit zu üb/p/pigem Wachstum gediehenen Vorurtheile abzulegen. Herrliche Bäume das u allerdings Ebenbilder einer Mink! Nur was man selber ist oder sich zu sein wenigstens einbildet hat werth u interessirt, das inter/st/ der Grundsatz der Entwicklung der Individualität. Und diese ist so stark, daß sie es nicht ein Mal erträgt eine andere Individualität neben sich zur Geltung kommen zu lassen, wenn sie nicht in das gleiche große Horn hinein bläst.

Seither ist unser Verkehr ein geringer gewesen; daß ich Emma einer solchen Behandlung nicht ein zweites Mal aussetzen kann versteht sich von selbst u das thäte ich | wenn ich sie wieder veranlaßte in die Nähe blinden Haßes u Vorurtheils zu kommen. Denn daß es nach das letztere ist u nicht etwa eine berechtigte Abneigung, das beweisen mir die 12 Tage, wo wir in bester Freundschaft lebten bis jene Bemerkung wie ein rothes Tuch einen wüthe tollen Stier so die das alte wahre G+++++g Stimmung hervorbrachte. Aber nicht nur Emma, sondern auch ich habe Lenzburg gemieden, mag ich mich doch nicht dort vor Frl. Mink wiedersehen lassen, der es natürlich eine Wonne war an dem Platze sitzen u schmarotzen zu können wo die Mutter ihren Sohn u dessen Frau in solch schöner hochskandalöser Weise fortgejagt. – –

Sieh lieber, Bebi, daß das sind so die Gedanken, die mich bestürmen wenn Du mir schreibstFrank Wedekind hatte zuletzt um einen ausführlichen Brief gebeten [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 4.11.1889]., ich solle meinen Begleitbrief etwas länger werden lassen. Daß sie die ersten sind die meiner Feder entströmen ist vielleicht ein Zeichen unmännlicher Schwäche jedenfalls aber unklug. Denn ich setze sie natürlich damit wieder Deinem so scharfen psychologischen Messer aus, das daraus ganz andere Gebilde herausseciren wird als es/sie/ sind. Da Du mich aber zu verschiedenen Malen aufgefordert hast, länger zu schreiben, so mußt Du nun | eben das Resultat hinnehmen, u s/ich/, der es gegeben, muß seiner weiteren Benutzung in fremder Hand zu sehen. Immerhin hoffe ich, daß Du nicht wie Mieze von StettinErika Wedekind war zu Besuch bei der Familie von Josephine Brunnckow in Stettin (Grabowerstr. 34, 2. Stock) [vgl. Adreß- und Geschäfts-Handbuch für Stettin 1889, S. 25], die sie 1887 während ihres halbjährigen Aufenthalts im Lausanner Pensionat Duplan kennengelernt hatte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 139]. Mama mit einer KatalepsieStarrsucht, „ein eigentümlicher Zustand der Muskeln, bei dem die Glieder in jeder ihnen gegebenen Stellung unwillkürlich festgehalten werden. Die S. ist keine Krankheit für sich, sondern nur ein Symptom verschiedener Krankheitszustände. Sie tritt am häufigsten auf bei schwerer Hysterie“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 18. Leipzig 1909, S. 863]. bedenken wirst noch ihr meine Worte als zartes Muttersöhnchen wie jene Frage über den Gratulationsbrief, die ich einem solchen überlegenen Helden der Psychologie wohl vorzulegen hoffen zu dürfen hoffte ohne deswegen bei Mütterchen angeschwärzt zu werden mittheilen wirstFrank Wedekind berichtete seiner Mutter dennoch vom Brief des Bruders [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 4.12.1889].. Damals habe ich mich getäuscht vielleicht jetzt wieder! Immerhin bitte ich zu bedenken, daß Mama jetzt mit Wasserleitung, RebarbeitenArbeiten im Weinbau., Donalds hoffnungsvoller Rückkunft genug zu thun hat u sich außerdem in behaglicher Weihnachts u zugleich verdienter = Lorbeerstimmungwohl im Sinne von Sieges- und Triumphstimmung; denkbar ist auch die beruhigende, entspannende Wirkung, die das Verbrennen von Lorbeerblättern hat. Kontext nicht ermittelt. befindet.

Endlich hoffe ich bei Dir so viel männliches Gefühl voraussetzen zu dürfen, daß Du nicht Emma vergelten läßt, was Du/ich/ mit Dir zu sprechen habe u ich wiederhole noch einmal, daß sie noch nie gegen einen von Euch ein Wort fallen ließ, das nicht bitter durch die Wahrheit gerechtfertigt war u daß/s/ von einem | aufhetzen von I/i/hrer Seite oder einem „Entfremden wollen“ den Meinen gegenüber keine Rede ist. Wer sich entfremdet hat, daß/s/ sind meine Leute mir gegenüber gewesen, die zu klein sind als daß sie eine andere Meinung in ihrem Kreise dulden. Emma hat Euch stets nur Liebe u Zutrauen gebracht, Haß, Kränkung und hochmütige Kälte hat sie dafür neben äußerlicher Höflichkeit erfahren, ich aber habe einen tiefen Blick in die Leute von der Pflege Lehre der „freien“ Individualität u des „gesunden“ EgoismusDer für Wedekind signifikante Egoismus-Diskurs [vgl. KSA 2, S. 820, 839f.] durchzog schon die gesamte Korrespondenz mit Adolf Vögtlin und war offenbar auch familienintern wiederkehrendes Thema [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, August 1884]. gethan. –

Lieber als diese bitteren Aeußerungen hätte ich Dir anderes mitgetheilt, aber ich konnte es nicht über mich bringen das zu unterdrücken, was zwischen Glück u Frieden im eigenen Hause wie ein schwarzes Schemenundeutliche, gespenstische Erscheinung. oft dazwischentritt. Wohl weiß ich welche hochweisen Erklärungen meinen Worten folgen werden aber nicht diese sind es die der Wahrheit nahekommen sondern andere viel einfachere, die sich wie ich oben angedeutet zusammenfassen lassen als der Egoismus der Individualität! Das mag ein Princip sein mit dem man bequem durch die Welt kommt, Liebe pflanzt es nicht!

Zum Schluß meine herzlichen Grüße u die Hoffnung auf eine Zeit mit klarerem u wärmerem Wetter zwischender Schluss des Satzes fehlt wegen Papierverlusts.

Dein Bruder Armin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 21,5 x 27 cm. Mit gedrucktem Briefkopf. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Von fremder Hand wurde auf Seite 1 mit Bleistift unter der Tabelle eine Addition der Kolumnen zur Summe „180176 94“ durchgeführt. Auf Seite 8 unten rechts auf dem Kopf stehend der gleiche aufgedruckte Briefkopf wie auf Seite 1 (hier nicht wiedergegeben). Die Briefränder und Faltkanten sind an etlichen Stellen ausgerissen, insbesondere bei Blatt 1 die rechte obere Ecke, so dass es zu nicht rekonstruierbarem Textverlust kommt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 27.11.1889 ist als Ankerdatum gesetzt – der Tag lässt sich trotz Papierverlust noch als „27“ erkennen, Monat und Jahr ergeben sich aus Wedekinds Bezugnahme auf diesen Brief in der Korrespondenz mit seiner Mutter [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 4.12.1889].

  • Schreibort

    Riesbach
    27. November 1889 (Mittwoch)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Riesbach
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 303
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Armin (Hami) Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

03.01.2024 11:20