Kennung: 4164

München, 13. August 1889 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Armin (Hami)

Inhalt

München, 13.VIII.1889.


Lieber Armin!

– – – – – – – – – – – – – – – – – – Was mich betrifft, so gedenke ich in ein bis zwei Monat mit meiner Arbeitdas Lustspiel „Kinder und Narren“ [vgl. KSA 2, S. 635]. Eine erste Fassung des Stücks lag vermutlich erst im April 1890 vor [vgl. KSA 2, S. 629]. fertig zu sein. Du wirst mich zwar fragen, woher ich die Zuversicht nehme, noch ein zweites derartiges Experimentnach dem 1886 entstandenen Stück „Der Schnellmaler“, das Wedekind mehrfach überarbeitete und das 1889 als Buch erschien [vgl. KSA 2, S. 545-552]. mit seinen Kosten zu wagen, aber die Antwort würde mich doch zu weit führen. Ich will Dir lieber noch einiges von München erzählen in der festen Ueberzeugung, es werde Dir erquicklicher sein. Das Hofbräuhaus, um mit der Hauptsache zu beginnen, ist renovirtDas Hofbräuhaus war im Sommer 1885 renoviert und nach mehrwöchiger Schließung am 17.9.1885 wiedereröffnet worden [vgl. Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 38, Nr. 360, 17.9.1885, S. 3]. worden. Der klassische Schweinestall von ehedem ist nicht mehr. Man verschmerzt diesen Verlust aber nicht so schwer wie ich gefürchtet. Man weiß jetzt wenigstens, wo man hintritt. Spät Abends wenn ich von der Arbeit komme, tret ich nicht selten noch ein in die geweihten Hallen, setze mich in der hintersten Ecke hinter eine Maß und hülle mich und meine eventuelle Zukunft in Tabacksdampf. Am Theater hat sich manches geändert. Possart wird von Feinschmeckern nicht sehr vermißtErnst von Possart war von 1864 bis 1887 Schauspieler am Münchner Hoftheater. Die Presse schrieb: „Unser Possart ist nicht mehr unser. Es wäre ebenso ungerecht, als undankbar, wenn man dem scheidenden großen Mimen nicht alle Ehre widerfahren ließe, die er in Wirklichkeit verdient, allein Eines fehlte ihm, was den wahren Künstler am meisten ziert, das ist die Bescheidenheit. Possart hatte von seinem Können eine so hohe Meinung, daß er es gar nicht merkte, daß andere Leute auch was gelernt haben, und auch was können. […] Seinem Entlassungsgesuch wurde willfahrt, und so mag denn München schauen, wie es auch ohne Possart leben kann.“ [Das Münchener (früher andere) Vaterland, Jg. 4, Nr. 25, 18.6.1887, S. 3] 1889 gastierte er in New York [vgl. Neuer Theater-Almanach 1890, S. 285]. 1893 kehrte er als Intendant der königlichen Hoftheater nach München zurück.. Es ist auch gar nicht zu leugnen, daß Andere in seinen Rollen besseres leisten. So sah ich letzte WocheWedekind dürfte die Inszenierung von Shakespeares „König Lear“ am Münchner Hof- und Nationaltheater (Premiere: 1.6.1889) unter der Regie von Jocza Savits mit Wilhelm Schneider in der Titelrolle am 9.8.1889 besucht haben; die Vorstellung war vom 7.8.1889 (Mittwoch) auf diesen Tag (Freitag) verlegt worden (Beginn: 19 Uhr, Ende 22.30 Uhr) [vgl. Münchener Kunst- und Theater-Anzeiger, Jg. 2, Nr. 565, 9.8.1889, S. 2]. Lear in der neuen Scenirung, dargestellt von Schneider, der seine Aufgabe mit einer Großartigkeit löste, die ich ihm nie zugetraut hätte. Die CordeliaFigur aus Shakespeares „König Lear“, 1885 in der von Ernst Possart bearbeiteten Fassung am Münchner Hoftheater von Hermine Bland gespielt [vgl. Königliches Hof- und National-Theater München 1885 [Theaterzettel vom 27.2.1885], o. S.], in der aktuellen Inszenierung von Anna Dandler [vgl. Münchener Kunst- und Theater-Anzeiger, Jg. 2, Nr. 565, 9.8.1889, S. 2]. spielte nicht die Bland, wie früherAnspielung auf die gemeinsame Münchner Studienzeit im Wintersemester 1884/85. , sondern die Dandler, wenn Du Dich an ihre pompösen Hüften noch erinnerst. An Stelle der HerzogDie Schweizer Sopranistin Emilie Herzog trat am 28.2.1889 in der Rolle der Rosina in Gioachino Rossinis Oper „Der Barbier von Sevilla“ zum letzten Mal am Münchner Hoftheater auf. Ihre Nachfolgerin war die 18jährige Schauspielerin und Opernsängerin Hanna Borchers, die am 8.1.1889 als Benjamin in Étienne-Nicolas Méhuls komischer Oper „Joseph von Ägypten“ am Münchner Hoftheater debütierte. ist ein blutjunges ausnehmend hübsches Geschöpf getreten, eine gewisse Frl. Borchers, welche Kenner mit den weitgehendsten Hoffnungen zu erfüllen vermag. Leider hab ich sie bis jetzt noch nicht auftreten sehen. – – – – – – – – – – – – – – – –

Uebrigens ist mein Freund BennatDer Cellist Franz Bennat, der bei Hippolyt Müller am Münchner Konservatorium und anschließend in Brüssel bei François Servais studiert hatte, war seit 1864 in der Münchner Hofkapelle und seit 1888 Mitglied des Walter Quartetts von Benno Walter, das jährlich sechs Quartett-Soiréen in München veranstaltete, mit ihm erstmals am 30.10.1888. ebenfalls Kammermusiker geworden und der hat sich’s gewiß nur durch sein überaus seelenvolles Cellospiel verdient. Im Residenztheater bin ich bis jetzt noch nicht gewesen, werde aber übermorgenHenrik Ibsens „Nora“ wurde am Münchner Residenztheater mit Marie Conrad-Ramlo in der Titelrolle (ihre Paraderolle seit der deutschen Erstaufführung am 3.5.1880 in München) unter der Regie von Heinrich Keppler am 15.8.1889 aufgeführt (19 bis 21.30 Uhr) [vgl. Münchener Kunst- und Theater-Anzeiger, Jg. 2, Nr. 571, 15.8.1889, S. 2]. Nora sehen mit Frau Conrad-Ramlo in der Titelrolle. Ich sah sie erst einmal wieder, die kleine MeerkatzeÄffchen., wie sie ihr Herr GemahlMit dem Schriftsteller Michael Georg Conrad war die Schauspielerin und Schriftstellerin Marie Conrad-Ramlo seit dem 31.10.1887 in zweiter Ehe verheiratet. in den Flitterwochen titulirt haben soll, und zwar als Puck im SommernachtstraumWedekind besuchte die Vorstellung von Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ (Regie: Jocza Savits; mit der Musik von Mendelssohn-Bartholdy; Beginn: 19 Uhr, Ende: 21.30 Uhr) im Münchner Hoftheater am 5.8.1889 [vgl. Münchener Kunst- und Theater-Anzeiger, Jg. 2, Nr. 561, 5.8.1889, S. 2] und notierte im Tagebuch: „Sommernachtstraum. Ich habe einen sehr schlechten Platz und sehe trotz Opernglas keine Phisiognomie. Die Stimme der Ramlo scheint mir seit drei Jahren doch um ein beträchtliches reduzirt.“. Ihre Stimme schien nicht mehr den bestrickenden Schmelz von früher zu besitzen, was schließlich kein Wunder wäre. Sie ist jetzt zwischen 49 und 50Tatsächlich war die am 8.9.1848 geborene Schauspielerin Marie Conrad-Ramlo 40 Jahre alt. und vor Jahresfrist, noch um drei Monate zu früh, von einem gesunden Knäbleinder am 6.2.1888 geborene Erwin Siegfried Conrad. entbunden worden. Dagegen ist ihr Spiel immer noch hinreißend, zumal in TricotrollenTheaterrollen, in denen Frauen auf der Bühne Männer verkörpern (‚Hosenrolle‘) und dazu enganliegende Hosen aus Trikotstoff trugen., wo ihre überaus graziösen Beinchen mit dem herrlichsten Augenpaar um die Palme ringenum den Sieg streiten..

Eine der hervorragendsten Bereicherungen Münchens ist übrigens das Café LuitpoldDas Café Luitpold (Briennerstraße 11) war am 1.1.1888 eröffnet worden. an der Briennerstraße, in dem sich Saal an Saal reiht, einer geschmackvoller als der andere. Die Beleuchtung findet durch unsichtbare Glühlampen statt, die von den vorspringenden Gesimsen aus ihr Licht auf die in Rococostyl ganz hell decorirten Kuppeln werfen, von denen es dann als gedämpftes Oberlicht zwischen die Säulenreihen herabstrahlt. Der Effect ist geradezu feenhaft. Uebrigens schießen die Cafés wie die Pilze aus dem Boden. Es sind schon wieder zwei oder drei neue im Bau. Eine andere ganz neue Errungenschaft sind die Rauchsalons, große mit maurischer Ueppigkeitim Sinne von reich verziert, mit viel Dekor und Ornamentik versehen – in Anlehnung an den maurischen Architektur- und Kunststil Nordafrikas. ausgestattete Tabackshandlungen, in denen man sich auf den Divan legen und von einer der hübschen Verkäuferinnen eine Wasserpfeife anzünden lassen kann.

Daß ich nicht vergesse Dir meine AdresseWedekind war seit dem 20.7.1889 in der Akademiestraße 21 (3. Stock) bei „Mühlberger“ gemeldet [vgl. EWK/PMB Wedekind] Am 18.7.1889 hatte er im Tagebuch notiert: „Ich ziehe bei Frau Mühlberger ein.“ mitzutheilen. Sie heißt Akademiestraße 21IIWedekinds Wohnung befand sich im 3., nicht im 2. Stock.. Meine erste WirthinWalburga Erhart, Verwalterswitwe, war Wedekinds Zimmerwirtin in seiner Wohnung in der Adalbertstraße 41 (4. Stock) [vgl. Adreßbuch für München für das Jahr 1889, Teil I, S. 72], wo er seit dem 9.7.1889 gemeldet war [vgl. EWK/PMB Wedekind]. war mir ein wenig gar zu schmierig. Ich bewohne jetzt eine Bude nebst Alkovenkleiner abgetrennter Nebenraum ohne Fenster, Bettnische. mit freier Aussicht auf einen sehr großen Platz und darüber hinaus auf die ganze Umgegend, zur Rechten die prachtvolle Front des Akademiegebäudes für 15 Mark. Dabei ist nur der eine Uebelstand, daß meine WirthinWedekinds Vermieterin, die Kleidermacherin Anna Mühlberger, wohnte in der Akademiestraße 21 im Parterre links [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1891, Teil II, S. 13], der Eintrag im Adressbuch erfolgte verspätet erstmals für 1891. mit einer kleinen MenagerieTierschau, Tiergehege., zwei Katzen und zwei Hunde, zusammenwohnt, die ihren sämmtlichen Lebensbedingungen in der Wohnung selber gerecht werden, woraus dann manchmal ein geradezu infernalischer Gestank resultirt. Somit werd ich auf den Winter, wenn ich noch hier bin, wahrscheinlich wieder umziehen.

Und nun leb wohl, lieber Bruder. Vergiß ja das GeldArmin Wedekind verwaltete das Geldvermögen der Familie nach dem Tod des Vaters, so dass sich Frank Wedekind zur Auszahlung von Teilen seines Erbes an ihn wenden musste. Im Tagebuch vermerkte Frank Wedekind in einer Übersicht den Betrag von 200 Mark für den 19.8.1889 [vgl. Tb, S. 116]. nicht. Wenn Du es hast, kannst Du es ja gleich schicken. Mit tausend Grüßen an EmmaAm 21.3.1889 hatte Armin Wedekind Emma Frey, die Tochter des Zürcher Bezirksarztes Gottlieb Frey geheiratet, bei dem er seit dem Frühjahr 1886, noch vor seinem Examen am 15.12.1887, eine Assistentenstelle angetreten hatte [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.5.1886]. und Dich Dein treuer Bruder
Franklin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Als Empfangsort wird Armin Wedekinds Wohnort angenommen.

  • Schreibort

    München
    13. August 1889 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Riesbach
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
197-199
Briefnummer:
71
Kommentar:
Der Brief ist im Erstdruck mit zwei Auslassungen ediert, die durch mehrfache Gedankenstriche markiert sind.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Armin (Hami) Wedekind, 13.8.1889. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

10.03.2023 12:22