Kennung: 3933

Lenzburg, 17. August 1885 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Armin (Hami)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Schloß Lenzburg, ’d. 17.VIII.85.


Mein lieber Bruder!

Deine beiden Briefenicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Frank Wedekind an Armin Wedekind, 14.8.1885 und 16.8.1885. bestätigten mir die Kunde, die ich schon einige Tage vorher von No Hägler u Schmidnicht identifiziert. vernommen hatte. Allerdings hielt ich nach ihren Berichten die SacheFrank Wedekind, der ursprünglich am 15. oder 16.8.1885 nach Lenzburg reisen wollte [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 25.7.1885], litt seit dem 4.8.1885 an einem Rotlauf am Unterschenkel und befand sich deswegen zur Behandlung im Krankenhaus links der Isar in München [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885]. schon für überstanden u war sehr enttäuscht, zu hören, daß Du noch tief im Bette steckst. Hoffentlich ist nun aber doch das aergste vorüber u Deine HeilungEine Heilung wurde Wedekind vom Arzt für den 21. oder 22.8.1885 in Aussicht gestellt [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885]. nahe. Wie sehr würde es mich freuen, wenn ich noch zugleich mit Dir hier in den FerienArmin Wedekind war in den Semesterferien von Zürich aus zu Besuch bei seinen Eltern in Schloss Lenzburg und hoffte auf einen Besuch seines Bruders aus München. zu sein könnte. Ich muß aber schon am 23der 23.8.1885. ungefähr nach Spiez, um noch | 8 Tage mit Niesen zusammenArmin Wedekind vertrat seinen ehemaligen Studienkollegen Ernst Mützenberg (Spitzname: Niesen), der seit dem Frühjahr 1885 als Arzt zugelassen war, in seiner Praxis in Spiez während dessen Militärdienstverpflichtungen und wurde von ihm eingearbeitet. sein zu können. Du mußt Dir aber ja keine Gewalt anthun u etwa deshalb früher kommen wollen als Du Dich wieder ganz wohl u für die Reise bei genügenden Kräften fühlst. Du Armer, der jetzt die schönste Sommerzeit im Bette vertrauern muß u wie langweilig das in München ist, weiß ich auch nochArmin Wedekind hatte vor seinem Wechsel nach Zürich ebenfalls in München studiert und dort mit seinem Bruder Frank zusammengewohnt. Offenbar musste auch er einen Krankenhausaufenthalt absolvieren. aus Erfahrung. Wenn Du nur über die Gefahr hinaus bist! Diese Ueberzeugung habe ich aus Deinen let beiden Briefen noch nicht gewinnen können. Bitte schreibe mir oder lasse mir bald schreiben, wie es geht. Wenn ich nur wüßte wie es einrichten das/dam/it | zu Hause die Andern nichts merken. Sind es schlimmere Nachrichten, wie ich nicht hoffe, so kannst Du ja von anderer, hier unkenntlicher Hand die Adresse schreiben lassen. Aber jedenfalls einen Bericht, denn ich bin hier, wo sonst Alle ziemlich ruhig denken d/u/nd sich wenigstens keine Sorgen machen über Dein Kranksein ziemlich aufgeregtals angehender Arzt wusste Armin Wedekind vermutlich um die lebensbedrohlichen Risiken einer Rotlaufinfektion. und jede Gewißheit ist mir lieber, als diese Unsicherheit. Also bitte melde etwas! –

Dein Brief hat in jedem Punkte vollen Glauben gefunden und wie gesagt sind Papa und Mama ganz außer aller Befürchtungen. – Bei Tante JahnZu der Apothekerwitwe Bertha Jahn pflegte Frank Wedekind seit Mitte August 1884 eine enge Beziehung und bezeichnete sie als seine ‚erotische Tante‘ [vgl. Kutscher 1, S. 106]. bin ich noch nicht gewesen, da ich erst | heute heimgekommen bin, werde aber Morgen früh Deine Bestelu Grüße bestellen. Mama, die Deinen zweiten Brief ge/an/ mich gelesen mußte lachen über den Zusatz: „das ist pure Wahrheit“, den Du sehr für nothwendig zu halten schienest. – Hier zu Hause fand ich Alles beim Alten, nur verklärt durch den Wiederschein des zu hoffenden guten Herbstes. Es scheint derselbe auf d/A/lle zusammen einen guten Einfluß zu haben indem er die Gemüther ruhig u zufrieden macht. – Ein liebes kleines Geschöpf ist die Tilly Kammerer die Cousine Tilly Kammerer aus New York, eine Tochter von Emilie Wedekinds Bruder Libertus Kammerer [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 80].aus New York. Sie hat alle Anlagen einmal ein wunderschönes | Mädchen zu werden, ein rundes Köpfchen, dunkle etwas schwermüthige Augen, einen kleinen aber vollen Mund u eine Hand, die sie einer Venus geraubt zu haben scheint. Mama sagt, gerade so sei einmal die sel. Frau Kreuzervermutlich Emilie Wedekinds Stiefmutter Hanne Kreuzer, die dritte Ehefrau von Joseph Kreuzer. gewesen. Mit ihrem englischen Kauderwelsch erregt sie viel Heiterkeit u wird von Allen sehr geliebt. Dado Doda, der ihr auch Anfangs den Hof machte u sie nach seiner Art des Tages 20 Mal umarmte u verküßte hat ist jetzt, seit Mama ihm darüber den Text gelesen in die das Gegentheil verfallen u verfolgt das arme Wesen mit seiner Unart u Unhöflich|keit. Er ist muß überhaupt ein schauerlicher Don Juan geworden sein. Nicht nur, daß er dernSchreibversehen, statt: der. Clarlivermutlich Clara Marti, eine Freundin von Frank Wedekinds Schwester Erika. auf immer den Rücken gekehrt u am Jugendfest am 10.7.1885; das Lenzburger Jugendfest findet jedes Jahr am zweiten Freitag im Juli statt.nicht einen Tanz mit ihr getanzt hat, er behandelt die Tilly in beschriebener Weise und macht zu gleicher Zeit dem Marieli Hünerwadel auf BruneggDas Schloss Brunegg war 1815 von Friedrich Hünerwadel aus Lenzburg erworben worden, Urgroßvater der erwähnten Marie Hünerwadel. den Hof. Dort wird er aber als das Muster für den Walterwahrscheinlich der 14jährige Bruder von Marie Hünerwadel. von Müttern jeden Alters verhätschelt u verzogen. Heute ist er mit den KadettenAls Kadetten wurden die 10-15jährigen männlichen Schüler in der Schweiz neben dem Schulunterricht einer vormilitärischen Ausbildung unterzogen. Das Lenzburger Kadettencorps wurde 1793 gegründet und bestand seit 1805 ununterbrochen. nach Baden, wo ein großes KadettenfestDas Kadettenfest des Kantons Aargau fand am 17. und 18.8.1885 in Baden statt, „mit folgendem Programm: Erster Tag: Fakultatives Preisschießen; Uebung in Bataillonsschule; Promenade militaire; gemeinschaftliche Abendunterhaltung; großer Zapfenstreich. Am zweiten Tage nach einem patriotischen Feierakte das Feldmanöver; nach demselben Feldverpflegung der Truppen auf dem Festplatze; Preisvertheilung an die besten Schützen; Schluß des Festes. Für unentgeltliche Einquartierung und Verpflegung des Kadettenkorps wird gesorgt.“ [Allgemeine Schweizerische Militärzeitung, Jg. 31, Nr. 28, 11.7.1885, S. 231] von 1400 Theilnehmern stattfindet. – S

Somit habe ich Dir so ziemlich die ganze kleine Chronik von | zu Hause mitgetheilt, wie ich sie selber bis jetzt vernommen. Wohl möglich, daß ein nächster Brief noch mehr davon bringt.

Sei mir tausendmal gegrüßt und bessere Dich bald! Hoffentlich hast Du etwas bessere Gesellschaft als ich damals. Im übrigen sage ich, auf recht baldiges u recht freudiges Wiedersehen! Dein treuer Bruder
Armin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf der letzten Seite notierte Wedekind den Entwurf für eine Postkarte an seinen Vater [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 4.9.1885].

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Lenzburg
    17. August 1885 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 303
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Armin (Hami) Wedekind an Frank Wedekind, 17.8.1885. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

31.01.2023 18:59