Kennung: 3925

Zürich, 24. April 1885 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Armin (Hami)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Zürich, d. 24. Apr. 85.


Lieber Bruder!

Verzeih, daß ich erst jetzt Deinem Verlangen nach Nachrichten aus der Heimath Befriedigung gewähre, hoffentlich werden die 36 M.Frank Wedekind hatte seinem Bruder 36 Mark geliehen, die ihm sein Vater erstattete [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 29.4.1885]. Offenbar hatte Armin Wedekind seinen Vater kurz vor seiner Abreise nach Zürich darüber informiert., von denen ich heute vor 8 Tagen Papa Kunde gab nicht so lange auf sich haben warten lassen. Dein Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Armin Wedekind, 17.4.1885., den ich erst Mittwochsam 22.4.1885. mit dem Packet hieherArmin Wedekind wechselte zum Sommersemester für sein Medizinstudium von München nach Zürich und erhielt aus Lenzburg zum Semesterbeginn ein Paket an seine neue Adresse in Oberstrass (Universitätsstraße 15). erhielt hat mir große Freude gemacht. Namentlich die Characterisirung der NibelungenstückeFrank Wedekinds Beschäftigung mit Richard Wagners Operntetralogie „Der Ring des Nibelungen“ fand auch Niederschlag in seinen Briefen an die Eltern aus dieser Zeit [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 12.3.1885 und Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 27.4.1885]. Im Brief an die Mutter berichtete er von einem Besuch der Oper „Die Walküre“ am 11.3.1885 im Königlichen Hoftheater München., die auch mir erlaubte, an den großen Genüssen Theil zu nehmen. –

Nach meiner ReiseArmin Wedekind reiste spätestens am Samstag, den 11.4.1885 von München nach Lenzburg und verbrachte die letzte Woche der Semesterferien bei seinen Eltern bevor er sein Studium in Zürich fortsetzte. , die ziemlich ungemüthlich war, denn das Regenwetter verließ mich nicht bis an d. Grenzen des Aargaus fand ich zu Hause | die alte liebe Aufnahme. Mama & die Mädel kamen etwas außer sich & auch Doda & Papa freuten sich herzlich. Die Kleinendie noch zuhause wohnenden drei jüngsten Geschwister Erika (Mieze), Donald (Doda) und Emilie (Mati) Wedekind. sind alle gewachsen, Doda am wenigsten. Er hat auch in Folge dessen der Claravermutlich Emilie (Mati) Wedekinds Freundin Clara Marti [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 3.1.1895]., die ihn um Halbkopfeslänge überragt, seinen moralischen Abschied gegeben. Seine andeSchreibversehen, statt: andre. Flamme ist zwar nicht minder kolossal, denn es ist Niemand anders als die Hanneli-JahnHanna Jahn, die Tochter von Bertha Jahn, Frank Wedekinds ‚erotischer Tante‘ (siehe unten).. Auch das Mati ist eine kleine Hexe geworden, denn ich war kaum recht zu Hause, so erzählte sie mir schon, daß das Marielivermutlich identisch mit der unten erwähnten „Marie“, einer Jugendliebe Armin Wedekinds. Frank Wedekind schrieb seiner Mutter: „Armin hat mir viel von Euch, […] Marieli e ct. geschrieben“ [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1885]. Um wen es sich handelt, ist ungewiss, möglicherweise Marie (Mary) Gaudard, Schwester von Blanche Zweifel-Gaudard, die auch „Mitglied des Dichterbundes Fidelitas (gegr. 1883), dem Anny Barck, Minna von Greyerz, Franklin und Armin Wedekind angehörten“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 69], war. da wäre & daß es Morgen zu uns heraufkommen würde. –

So war ich denn glücklich bei den Meinen und mußte nun über Mittag reichlich erzählen, was mir auch das viele Material recht leicht machte. | Mama erkundigte sich namentlich nach Dir und ich verhehlte nicht, den guten Einflußähnlich auch Frank Wedekind über den fünf Jahre älteren Theater-, Musik- und Literaturkritiker Dr. Heinrich Welti, einen Freund Armin Wedekinds aus der Aarauer Schulzeit (1877-79): „Ich selber habe ihm sehr vieles zu danken.“ [Frank Wedekind an Emilie und Friedrich Wilhelm Wedekind, 21.12.1885]. Welti führte Wedekind in das Münchner Kulturleben ein., den der Dr. Welti im Besonderen und die vielen Anregungen der Stadt im Allgemeinen auf Deine Thätigkeit haben würden, zu schildern. Papa wollte viel von dem jetzigen Aussehn der Stadt im Vergleich zu dem vor 50 Jahren, Mama mehr von Theater etc. etc. wissen. In dieser Weise verrannen die ersten Tage. Sonntagder 12.4.1885. war ich in der Kirche; seit langer Zeit zum ersten Male wieder etwas andächtig, dagegen klang mir die Orgel schauderhaft falsch.

Am Montagder 13.4.1885. begannen die Examinadie öffentlich stattfindenden jährlichen Schulprüfungen.. Wir waren alle bei Mati, die Pfr. Haslers Aufgabe: Wief/v/iel ist 3/d/rei & ein halbes Dutzend mit 9 löste, was den Pfr. in einige Verlegenheit brachte. | An diesem Tage war ich auch bei Tante Jahn. Wer da der Mittelpunkt des GesprächesZu der literarisch interessierten Apothekerwitwe Bertha Jahn pflegte Frank Wedekind seit Mitte August 1884 eine enge Beziehung und bezeichnete sie als seine ‚erotische Tante‘ [vgl. Kutscher 1, S. 106]. Sie wird sich daher bei seinem Bruder Armin nach ihm erkundigt haben. war kannst Du Dir wohl selber denken. Ich erzählte ihr viel, daß Du jetzt auf solideren Bahnen wandlest als früher und das schien sie sehr zufrieden zu stellen. Sie meinte jede Verirrung sei zu begreifen, nur nicht eine aesthetische. Der ViktorVictor Jahn, Sohn von Bertha Jahn, hatte das Gymnasium der Kantonsschule Aarau besucht [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule. Aarau 1884, S. 15]. , der ebenso wie JulesJules Gaudard aus Vevey (Waadt), Bruder von Blanche Zweifel-Gaudard, war ein Klassenkamerad von Victor Jahn am Gymnasium der Kantonsschule Aarau [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule. Aarau 1884, S. 15]; er studierte Medizin in Genf. eine famose Maturität gemacht will, horribile dictu(lat.) schrecklich zu sagen., Theologe werdenVictor Jahn studierte in Genf Theologie und wurde 1890 Stadtpfarrer von Brugg.. Tante Jahn meinte, es sei weil er gerne jedem Menschen Guthes thun möchte & er habe ganz geleuchtet, als sie ihm einmal gesagt, er könne nicht Apotheker werdenBertha Jahn führte nach dem Tod ihres Mannes Victor Jahn am 9.9.1882 die Löwenapotheke in Lenzburg fort. Ihren Sohn Victor hielt sie offenbar nicht für einen geeigneten Nachfolger.. Vorläufig geht er nach Genf, um noch Karl Vogt zu hören. Ob ihm der nicht seine Theologie verleidetKarl Vogt, ein Schüler von Justus Liebig, seit 1872 Professor für Zoologie in Genf, war ein prominenter Vertreter des Materialismus und Atheist. Er war 1849 in die Schweiz geflohen und mit Wedekinds Vater befreundet. nimmt mich sehr wunder. |

Ein fernerer Besuch galt Dürst’sArnold Dürst aus Lenzburg war bis Herbst 1878 Klassenkamerad von Heinrich Welti auf der Kantonsschule Aarau. wo ich erfuhr, daß der Walter in Kairo ein Bein gebrochen habe, das nun nur schwer heilen wolle. Er ist zur Kur in Baden. Endlich war ich auch bei Tante SophieSophie von Greyerz, geborene Wedekind, die Mutter von Wedekinds Cousine Minna von Greyerz., die viel dünner geworden ist. Auch sie hatte gerade Besuch von ihrem Aeltesten, dem Walo aus Schweden. Ich lernte ihn kennen & freute mich in ihm einen so stattlichen, imponirenden, sicheren Mann zu sehen. Er ist auch s wunderschön & die Lenzburger Damen schwärmen alle für ihn. –

Natürlich machte ich auch in Aarau einen Besuch bei Professor Rauchensteins. Ich fand sie beide bedeutend ergebener in ihr SchicksalDer Sohn von Johann Friedrich und Sophie Rauchenstein, Hans Rauchenstein, war am 27.6.1884 mit 25 Jahren nach kurzer Krankheit gestorben [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank und William Wedekind, 1.7.1884]. Armin und Frank Wedekind hatten während ihrer Schulzeit auf der Kantonsschule Aarau zeitweise bei der Familie Rauchenstein gewohnt (unter der Adresse: Halden 261).. Der Professor hat sogar seinen alten Humor wiedergefunden. Er beschäftigt sich jetzt immer noch mit seinen alten Studien angesichts eines schönen großen Bildes von Hans, das | er vor sich auf sein Pult gestellt hat. Es freute ihn, daß ich angefangen zu rauchen und er händigte mir gleich ein Päckchen Havanna BoutsZigarren mit kubanischem Tabak, deren Spitze nicht gedreht ist (auch: bouts-français) [vgl. Christian Heinrich Schmidt: Der Taback als wichtige Culturpflanze, und seine Verwendung zu Rauchtaback, zu Kautaback, zu Schnupftaback, besonders aber zu Cigarren nach den in Havanna und anderwärts gebräuchlichen Verfahrungsarten. Weimar 1858, S. 113]. ein, die er für sich & Hans noch gekauft hatte. – Wir gingen dann auf den Kirchhof, wo sie Hans einen sehr hübschen, einfachen Grabstein gesetzt haben. Er besteht aus einer S/g/ebrochenen Säule von schwarzem SyennitSchreibversehen, statt: Syenit – „körniges Eruptivgestein, welches sich wesentlich aus dunkelgrüner bis schwarzer Hornblende und farblosem bis weißem Feldspat (Orthoklas) zusammensetzt. […] Der schönen dunkeln Färbung wegen sind die Syenite als Dekorationsstein für Wandverkleidungen und zu Denkmälern sehr beliebt. Sie nehmen leicht eine schöne und gleichmäßige Politur an, geben große Blöcke und sind nicht so schwer zu bearbeiten wie Granit“ [Otto Lueger: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften. Bd. 8. Stuttgart, Leipzig 1910, S. 399f.]. mit dem Namen in Silberschrift und dem Spruche have, anima pia et candida.(lat.) Sei gegrüßt, fromme und reine Seele.

Einen recht angenehmen Abend verlebte ich mit Mieze zusammen bei Zweifels. Am folgenden Tage kamen Fr. ZweifelBlanche Zweifel (geb. Gaudard), seit 1882 verheiratet mit dem Lenzburger Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel, war eine Freundin von Wedekinds Cousine Minna von Greyerz und eine ehemalige Schülerin des Lehrerinnenseminars in Aarau [vgl. Fünfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1877/78, S. 6]. Sie gehörte dem Lenzburger Cäcilienverein an. Frank Wedekind widmete ihr mehrere Gedichte [vgl. KSA 1/I, S. 1090]. & Mariemöglicherweise Mary Gaudard, die Schwester Blanche Zweifels (siehe oben).wahrscheinlich Mary Gaudard, die Schwester von Blanche Zweifel (siehe oben). zu uns zum Kafe und wir hatten nun Zeit uns auszusprechen. Hier, im Gartenhäuschen allein mit ihr habe ich von ihr Abschied genommen. Sie war so | wunderschön und so einfach, daß mir der Abschied recht schwer wurde! Doch bitte ich Dich Niemandem etwas hievon zu sagen. –

Mati, Doda und Mieze brachten natürlich wunderschöne Zeugnisse nach Hause. Mati war allerdings vorher nicht fest überzeugt, daß sie definitiv herauf kämein die nächste Klasse versetzt würde., doch machte ihr das sehr wenig Sorgen. Miezle hat es jetzt beim Hl. KellerJakob Keller, Rektor des Töchterinstituts und Lehrerinnenseminars Aarau, unterrichtete Religion, Deutsch und Pädagogik. Erika Wedekind besuchte dort die 1. Klasse. sehr gut, er ist ausgesucht freundlich gegen sie & hat ihre Deutschnote von 2 – 3 auf 1 – 2 erhoben.

So flossen unter allerlei Tagesereignissen die Ferientage sehr schnell dahin. Von Freunden sah ich außer Lenzburgern Niemand & kann Dir deshalb auch leider keine Auskunft geben, wer nach München kommt. Am letzten Samstagdem 18.4.1885. schnürte ich mein Bündel und kam hieher wo ich bald eine treffliche Bude in der | Nähe meines frühern WohnortesArmin Wedekind hatte sein Medizinstudium im Sommersemester 1881 in Zürich begonnen [vgl. https://www.matrikel.uzh.ch/active//static/23376.htm], wechselte 1883 nach Göttingen, 1884 nach München und 1885 zurück nach Zürich. in OberstraßVorort von Zürich, der 1893 eingemeindet wurde. fand. Auch habe ich schon begonnen zu operiren & glaube, daß dieses Semester aus dem Studium was werden kann. Die Nachbarschaft HünerwadelsIn Oberstrass wohnten in der Universitätsstraße 17, also im Nachbarhaus von Armin Wedekinds Wohnung (Universitätsstraße 15), Karoline und Klara Hünerwadel [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich für 1885, Teil I, S. 137]., die mir ins Zimmer sehen können (wenn sie wollen) wird mich nicht daran hindern. Hier wissen die Leute, wie es mir vorkommt furchtbar viel & sind eminent practisch. Hoffentlich lern ich das auch endlich einmal! –

Dir wünsch ich, daß es Dir dies Semester recht gut gehe. Genieße, was Du kannst, man vermißt es bald genug. Welti, Macknicht identifiziert, eventuell auch Mark; möglicherweise der Mathematikstudent Max Mack (Theresienstraße 13, 1. Stock rechts) aus Dillingen, der im Wintersemester 1884/85 und im Sommersemester 1885 in München eingeschrieben war [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1884, S. 58 und Sommer-Semester 1885. München 1885, S. 59]. grüße mir besonders, auch die andren, wer mir nachfrägt. Hiemit will ich schließen und hoffen daß ich auch von Dir wieder von Zeit zu Zeit etwas höre. Ich werde pünktlich antworten. Mit herzlichem Gruß Dein Bruder
Armin.


[um 90 Grad gedreht auf Seite 1:]


Meine Adresse
Universitätsstrasse
No 15.I.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14,5 x 22 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Seine Adresse hat Armin Wedekind um 90 Grad gedreht über den Brieftext geschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Zürich
    24. April 1885 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    Zürich
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 303
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Armin (Hami) Wedekind an Frank Wedekind, 24.4.1885. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

18.10.2023 13:08