Kennung: 354

München, 22. November 1902 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Rößler, Carl

Inhalt

München, 22. XI. 1902.


Lieber Freund!

Herzlichen Dank für Deine freundlichen Zeilen. Der Artikelnicht ermittelt. Georg Brandes' früheste bekannte Arbeit über Wedekind, eine kurze Besprechung der ersten Buchausgabe von „Die Büchse der Pandora“, erschien erst 1903 [Georg: Brandes: Deutsche Dramatiker. In: Ders.: Gestalten und Gedanken. Essays. München 1903, S. 1-6, hier: S. 1-3]. von Brandes ist ja ganz nett. Im Fall noch eine gerichtliche VerfolgungDer Bezug ist unklar. Möglich ist, dass Wedekind bereits eine Anklage infolge der Veröffentlichung seines Dramas „Die Büchse der Pandora“ befürchtete, das im Juli 1902 in der Zeitschrift „Die Insel“ erschienen war. Gerichtlich beanstandet wurde jedoch erst die im August 1903 erschienene erste Buchausgabe, aufgrund derer Wedekind und sein Verleger Bruno Cassirer im August 1904 wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften angeklagt wurden [vgl. KSA 3/II, S. 1102f., dort auch zu den folgenden Prozessen]. eintritt, wird er mir eine sehr brauchbare Waffe sein. Ich bin noch sehr aufgeregt von der gestrigen PremiereGemeint ist die Münchner Erstaufführung von Max Halbes Drama „Der Walpurgistag“ durch das Münchner Schauspielhaus am 21.11.1902, die Wedekind offenbar besucht hatte. Die Inszenierung erhielt gemischte Kritiken und wurde bereits nach wenigen Aufführungen abgesetzt. Der mit dem griechischen Buchstaben „Δ“ (Delta) zeichnende Kritiker der Münchner „Allgemeinen Zeitung“ charakterisierte im Vorbericht zum Premierenabend das Stück als „romantische Paraphrase des Meistersingerthemas“, worin Halbe „das Geschick eines nur ein einziges Mal vom Erfolge gekrönten Lyrikers in eigentümlicher, nicht recht zu Gestalt gelangter Form“ behandelt habe. Trotz „guter Inszenierung und Darstellung“ habe das Stück „nur in den ersten drei Akten zu interessieren“ vermocht [Allgemeine Zeitung, Jg. 105, Nr. 323, 23.11.1902, 2. Blatt, S. 7]. Der spätere ausführliche Bericht desselben Kritikers hebt vor allem auf die Längen des Textes, die gedankliche Unklarheit sowie die autobiografischen Motive des Stückes ab, das mit Wedekinds Künstlerdrama „So ist das Leben“ (1902) verglichen wird: „Dürfen wir uns wundern, wenn diese blassen dramatischen Kinder [gemeint sind Halbes Dramen] alle kränklich, müde und mit dem Todeskeime auf die Welt kommen, und keines recht alt wird? Etwas Gespensterhaftes, Unlebendiges ist all diesen unausgetragenen Gestalten gemeinsam. Halbes Personen […] laufen wie blutige Schemen auf der Bühne herum […]. Dafür reden sie unaufhörlich und unendlich […]; das Stück ist mindestens um die Hälfte zu lang […]. Keine Absicht des Verfassers kommt klar heraus; oft merkt man das krampfhafte Bemühen, satirisch zu sein, etwa in der Art Wedekinds, zu dessen Drama ‚So ist das Leben‘ das mißlungene Werk Halbes überhaupt in mehr als einer Beziehung eine Analogie bildet […]“ [Δ: Münchner Schauspielhaus. Walpurgistag. Ebd., Nr. 234, 24.11.1902, Abendblatt, S. 2-3, hier: S. 2]. von Walpurgistag. Ich halte das Stück für das gehaltvollste, was Halbe seit der Jugend geschrieben hat. Leider sind Trivialitäten darin, die der Wirkung der ernsten Scenen ein Bein stellen. Es soll jetzt eine „Wandernde Freibühne“ oder eine „Freie Wanderbühne“Zu diesem Plan, der vermutlich nicht realisiert wurde, konnte nichts ermittelt werden. geschaffen werden. An mir soll es nicht fehlen, daß auch der darauf zu Wort kommt, denn der gehört zu uns. Augenblicklich kann ich nicht nach Berlin kommen, da ich die Hauptrolle in einem EinakterMit der Uraufführung von Eduard von Keyserlings satirischem Einakter „Die schwarze Flasche“ (entstanden Frühjahr 1902) wurde am 20.12.1902 das 12. Programm der Elf Scharfrichter eröffnet. Die männliche Hauptrolle des Studenten Max, die ursprünglich Wedekind hatte spielen sollen, übernahm der Schauspieler Carl Neubert [vgl. Kemp 2017, Anhang Repertoire, S. 27].Die dunkle Flasche“ von Keyserling spiele, der im nächsten Programm der Scharfrichter zur Aufführung gelangt. Zur PremiereGemeint ist die Berliner Erstaufführung von Wedekinds Drama „Erdgeist“ am 17.12.1902 am Kleinen Theater unter Leitung von Max Reinhardt. Die Inszenierung mit Gertrud Eysoldt als Lulu und Emanuel Reicher als Dr. Schön in den Hauptrollen wurde ein durchschlagender Erfolg und hielt sich mit wechselnden Besetzungen für sechs Spielzeiten im Repertoire. Einschließlich zweier auswärtiger Gastspiele in München und Wien wurde das Stück 86 mal gespielt [vgl. Seehaus 1973, S. 712]. werde ich jedenfalls dort sein. Wenn Du die HerrenGemeint sind vermutlich Max Reinhardt als Regisseur und Emanuel Reicher als männlicher Hauptdarsteller der Berliner Erstaufführung von „Der Erdgeist“. siehst, dann grüße sie herzlich von mir. Es war noch keine Premiere für mich von solcher Bedeutung wie diese, zumal ich nachher keine Ursache mehr haben werde, | mich über Ungunst des Schicksals, schlechte Kräfte oder sonst etwas zu beklagen. Nach dieser Premiere muß ich die Schuld lediglich auf mich nehmen. Ich zittere ihr deshalb entgegen wie einem Urtheilsspruch über mein ganzes bisheriges Thun und Treiben. Max und Keyserling lassen Dich bestens grüßen. Meinen herzlichsten Glückwunsch spreche ich Dir dazu aus, daß Du Dich so glücklich von der UeberbretteleiCarl Rößler war in den Jahren 1901/02 als Schauspieler und Oberegisseur am Bunten Theater (Überbrettl) in Berlin engagiert. [vgl. Wedekinds Brief an Rößler vom 12.1.1901; dort im Kommentar auch zu dem von Ernst von Wolzogen geprägten Begriff ‚Überbrettl‘]. auf ein besseres UferNach Aufgabe seiner Tätigkeit am Bunten Theater (Überbrettl) hatte Rößler 1902 ein Engagement als Schauspieler am Deutschen Theater in Berlin angenommen. hinüber gerettet hast. Ich stehe noch diesseits und komme eben von der ArbeitIm November 1902 trat Wedekind mit Liedern zur Gitarre bei den Elf Scharfrichtern in München auf. Seine Tätigkeit für die Scharfrichter endete endgültig im Februar 1903, als es während einer Tournee in Nürnberg zu Auseinandersetzungen zwischen ihm und der Leitung des Ensembles kam.. Grüße Schaumberger und meinen lieben Bruder Donald, wenn Du ihn siehst.

Auf baldiges Wiedersehen freut sich Dein Frank.


Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Schriftträger:
Handschrift nicht überliefert.
Sonstiges:
Der Brief ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    22. November 1902 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort


    Datum unbekannt

  • Empfangsort


    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
93-94
Briefnummer:
204
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort..

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Carl Rößler, 22.11.1902. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (09.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Zuletzt aktualisiert

01.07.2019 09:48