Kennung: 328

Zürich, 22. August 1917 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Oschwald, Eva

Inhalt

Meine liebe Eva!

Um gleich mit der Thür ins Haus zu fallen: Was giebt es neues in Deinem Herzen? Du erzähltest mir von zwei verschiedenen Kammern darin, das sogenannte Zweikammersystem, von denen die eine die Oberhand über die andere zu bekommen sucht. Es wäre mir eine Beruhigung zu erfahren, ob die Krone, damit meine ich Deinen hübschen Kopf, eine Entscheidung getroffen hat. Da mir natürlich das Wohl meiner liebenswürdigen Nichte am Herzen liegt, brauchst Du mir so wenig einen Namen zu nennen wie bei unserer letzten UnterredungDas war dem Tagebuch zufolge gleich am Ankunftstag des letzten Kurzaufenthalts von Erika (Mieze) Wedekind und ihrer Tochter Eva in Zürich am 14.8.1917: „Miez und Eva am Bahnhof abgeholt. Mit Eva Kaffe getrunken.“, an der ich in Gedanken immer noch meine Freude habe. |

Aber nun von etwas anderem. Wie Du vielleicht weißt hat Deine liebe Mama die diplomatischen Beziehungen zu mir abgebrochenAuseinandersetzungen mit der Schwester, der bekannten Hofopernsängerin, gab es gelegentlich, wie Wedekinds Tagebuch dokumentieren. Der Streit, um den es hier geht, entwickelte sich entweder während des Aufenthalts von Erika Wedekind vom 13. bis 19.7.1917 in Zürich oder ‒ wahrscheinlicher ‒ während ihres letzten Aufenthalts dort vom 14. bis 17.8.1917 (oder er eskalierte während dieses letzten Kurzaufenthalts).. An Dich, meine liebe Eva, wende ich mich nun, wie sich die Kriegführenden an den Heiligen Vater wandtenAnspielung auf die Friedensnote von Papst Benedikt XV. vom 1.8.1917, ein am 15.8.1917 formell zugestelltes Rundschreiben „An die Häupter der kriegführenden Völker“ (vollständiger Wortlaut am 18.8.1917 im „Berliner Tageblatt“), das ein breites Presseecho fand. Sofort verdächtigten Entente und Mittelmächte den Papst, heimlich auf der jeweils gegnerischen Seite zu stehen, die ihn zur Abfassung der Note überhaupt erst veranlasst habe. So konnte Wedekind am 22.8.1917 im „Berliner Tageblatt“ [Jg. 46, Nr. 426, Morgen-Ausgabe, S. (1)] einerseits lesen, dass „man in den Ententeländern behauptet hat, der Papst sei von deutscher Seite zu seinem Schritt veranlaßt worden“, während es andererseits Stimmen gebe, „die bei uns wieder sagen, daß England hinter der päpstlichen Kundgebung stecke“., mit der Bitte, ob Du nicht Deinen allmächtigen Einfluß aufwenden möchtest, um den europäischen Frieden zwischen Deinen lieben Eltern und mir wieder herzustellen. Welch ein winziger Zankapfel zwischen uns liegt, das weiß Du aus unserem Gespräch am Abend auf dem SonnenbergDem Tagebuch zufolge war Wedekind mit Eva Oschwald und anderen am 13., 14., 15., 18. und 19.7.1917 „auf dem Sonnenberg.“ Unklar ist, an welchem dieser fünf Tage das abendliche Gespräch mit seiner Nichte in dieser Anlage mit weitem Blick auf Zürich und den Zürichsee stattfand. Angesichts der ausdrücklich genannten späten Tageszeit ist der 14.7.1917 wahrscheinlich: „Nach dem Abendessen auf dem Sonnenberg mit Mieze Tilly und Eva.“ Möglich ist auch der 15.7.1917 („Abendessen auf dem Sonnenberg Mieze Eva Armin und Töchter“, insgesamt mindestens „14 Personen. […] Sehr animierte Unterhaltung“).. Deine liebe Mama, hält es für richtig, jedermann nach seinem Verdienst zu behandeln und da sie der Ansicht ist, daß sie höhere Verdienste hat als ihre Geschwister, behandelt sich/e/ uns ungnädiger als sie sich selber | behandeln lassen will. Ich beging den Fehler ihre Methode einige Zeit für richtig zu halten und wandte sie Deinem lieben Papa gegenüber an, wobei ich den Ton, der mir durchaus kein Vergnügen macht immer noch milderte. Nun ist Dein lieber Papa aber zuv/f/ällig durchaus meiner Ansicht indem er diesen Ton unerträglich findet. Mir kommen bei diesen Erfahrungen die schönen Worte unseres werten Freundes, des Prinzen Hamlet von Dänemark wieder ins Gedächtnis: Behandelt jedermann nach seinem Verdienst und wer ist vor Prügeln sicherIn Shakespeares „Hamlet“ (Übersetzung von August Wilhelm Schlegel) fragt Hamlet in der Szene II/2: „Behandelt jeden Menschen nach seinem Verdienst, und wer ist vor Schlägen sicher?“. Dein lieber Papa hat über diese Worte auf der KantonsschuleWalter Oschwald war Mitschüler Frank Wedekinds an der Kantonsschule in Aarau. in Aarau einmal einen sehr schönen Aufsatz geschrieben, indem er genau dasselbe auseinander|setzte was ich Dir hier schreibe. Indem ich deine diplomatische Vermittlung in Anspruch nehme, ersuche ich Dich nun, meine liebe Eva, Deinen lieben Eltern eine allgemeine Abrüstung vorzuschlagen. Als Zeichen meines Dankes würde ich Dir sofort ein Exemplar meines „HeraklesWedekind hatte das Typoskript seines Versdramas am 24.3.1917 zur Drucklegung an den Georg Müller Verlag geschickt. Das Buch war im Sommer 1917 zwar schon fertiggestellt, die Auslieferung aber verzögerte sich. „Herakles. Dramatisches Gedicht in drei Akten“ erschien erst im Dezember 1917. übersenden, den dann außer Dir keine menschliche Seele in Dresden gedruckt besitzt und in dem nota bene(lat.) wohlgemerkt. kein Wort enthalten ist, das eine hübsche Hypathiametaphorisch; Vergleich der Nichte mit der spätantiken griechischen Philosophin, Mathematikerin und Astronomin Hypatia von Alexandria, in der europäischen Kulturgeschichte eine Repräsentantin weiblicher Gelehrsamkeit. von 17 JahrenDer 17. Geburtstag der 1899 geborenen Eva Oschwald war am 5.8.1916, sie war also 18 Jahre alt, als Wedekind den vorliegenden Brief schrieb. nicht lesen darf. Ohnehin liegt es mir schwer auf der Seele daß meine hübsche Nichte bis heute noch nicht ein einziges Andenken an ihren alten Onkel erhalten hat. Das soll aber alles anders werden, wenn es Deiner ausgezeichneten Beredsamkeit und | Deiner klugen Herzlichkeit gelingt einen ehrenvollen und dauernden FriedenDiese Formulierungen finden sich ähnlich in der Friedensnote des Papstes. Die Rede ist dort von einem „gerechten und dauerhaften“ sowie von einem „ehrenvollen Frieden“ [An die Häupter der kriegführenden Völker. In: Berliner Tageblatt, Jg. 46, Nr. 419, 18.8.1917, Morgen-Ausgabe, S. (4)]. zwischen Deinen lieben Eltern und meiner Wenigkeit herzustellen.

Mit schönsten Grüßen von Tilly und mir an Dich und Deine lieben Eltern
Dein getreuer Onkel
FrW.


P.S. Daß ich die Hauptsache nicht vergesse: Alles Natürlich möchte ich von Dir selber hören, ob Du für meine dramatische Arbeit „Herakles“ auch einiges Interesse übrig hast, denn Du wirst mir selber nicht zumuten daß ich die schönsten Verse, die ich geschrieben habe jemandem und sei er noch so jung und hübsch in die Hand gebe, der sich vielleicht gegenüber seinen Bekannten darüber lustig macht.

Dabei kannst Du mir ja dann gleichzeitig mitteilen ob Dir der Abschluß des WeltfriedensDem Papst ist es durch seine Friedensinitiative nicht gelungen, den Ersten Weltkrieg zu beenden. Ob Eva Oschwald den Streit zwischen Wedekind und seiner Schwester geschlichtet hat, ist nicht ermittelt. gelungen ist.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Ringbuchblätter. 9 x 14,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Briefentwurf ist auf Blatt 1r bis 5r niedergeschrieben, von Wedekind oben rechts mit den Ziffern 1 bis 5 paginiert. Textergänzungen notierte er mit Einweisungszeichen auf Blatt 1v (Ergänzung zu Blatt 2v) und 3v (Ergänzung zu Blatt 4r) sowie ohne Einweisungszeichen unten auf Blatt 4v (Ergänzung zu Blatt 5r).

Datum, Schreibort und Zustellweg

Wedekind hielt sich vom 10.5.1917 bis 7.10.1917 in Zürich auf. Den Briefentwurf an seine Nichte Eva Oschwald schrieb er einige Tage nach deren Besuch (gemeinsam mit ihrer Mutter) in Zürich vom 14. bis 17.8.1917, der abrupt abbrach (Tb: „Mieze und Eva fahren nach Deutschland zurück“). Der erste Absatz des Briefentwurfs legt nahe, dass er einige Tage nach der Abreise seiner Nichte von Zürich entstanden ist. In jedem Fall verfasste Wedekind ihn nach Bekanntwerden des Wortlauts der Friedensnote von Papst Benedikt XV. am 19.8.1917 unter dem Eindruck der unmittelbar darauf einsetzenden Presseberichterstattung über das mutmaßliche Zustandekommen dieser Note. Als Ankerdatum ist der 22.8.1917 gesetzt (anknüpfend an einen Bericht des „Berliner Tageblatts“ vom 22.8.1917 zu dieser Sache, den Wedekind vermutlich gelesen hat).

Absende- und Empfangsort unter der Annahme, dass ein Brief auf der Grundlage des Briefentwurfs versandt wurde.

  • Schreibort

    Zürich
    22. August 1917 (Mittwoch)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Zürich
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Dresden
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
B, Nr. 171

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Eva Oschwald, 22.8.1917. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (08.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

01.12.2020 08:32