Kennung: 3254

Straßburg, 31. Oktober 1883 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Huber, Hermann

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Strassburg i/E, Ende October 1883


Mein Dulder im PenalSchreibversehen, statt: Pennal (Schülersprache) höhere Schule; die Kantonsschule Aarau, die auch Hermann Huber besucht hatte.!

Nicht mit Unrecht hast Du in Aarauvermutlich am Dienstag, 23.10.1883; für diesen Tag hatte Hermann Huber seine Abreise von Besenbüren über Aarau nach Straßburg angekündigt [vgl. Hermann Huber an Frank Wedekind, 18.10.1883]., ob meiner Mitteilung, dass wirBegleitet wurde Hermann Huber vom ehemaligen Klassenkameraden Abälard Durrer, der am 15.11.1883 an der Straßburger Universität für Jura inskribiert wurde [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studenten der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg für das Winter-Halbjahr 1883/84, S. 20]. in Basel alte SchulfreundeMitschüler von der Kantonsschule Aarau besuchen werden, die Nase gerümpft – nachträglich sehe ich ein, dass Deine weissagende Nase warnend sich nach links gewandt uns wahr prophezeite; Lob & Preis Deiner Nase!; denn in Basel haben wir es übel getroffen: Die Herren durften ja keine Stunde aussetzen & hockten im Colleg, nur einer hat soviel Anstandsgefühl gehabt, uns zu empfangen – StrählOthmar Strähl war 1879 bis 1883 Klassenkamerad von Hermann Huber und Abälard Durrer und bis 1881 auch von Wedekind. – jammerte uns aber halbtot, dass es so ungeschickt sei, nicht die Anatomie besuchen zu koennen – gut eingedrillte Maier-Mustermechanisch eingeübtes Pflichtbewusstsein nach dem Vorbild Kaspar Maiers, der seit 1879 Rektor der Kantonsschule Aarau war.! D/S/olche Vorkommnisse aergern mich stets absunderlich(schweiz.) besonders; ausserordentlich. & dieses letzte noch hauptsächlich desswegen, weil ich statt mit dem Schnellzug in 3 ½ Stud nach Strassburg zu fahren, ich ob dieser Elendiglichkeit 5 ½ Stunden schmachten musste; allein Erfahrung facit(lat.) macht. reddithominem sapiente(lat.) bekräftigt, dass der Mensch weise wird. |

Dazu langweilte mich in hierhier. mein Reisegefährte Durrer bei seinem Budensuchen, er marktete so abscheulich wegen 1-2 Mark, dass ich pudelmässig mich schämend mich trennte & ihm sagte er solle warten – in 5 Minuten hatte ich eine sehr schöne, gut möblirte BudeDie Adresse war Schiffleutstaden 7 (3. Stock) [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studenten der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg für das Winter-Halbjahr 1883/84, S. 25]. zu anständigem Preise, was Herrn Durrer gar wunderlich dünkte, ich schickte ihn alleine auf die SucheAbälard Durrer mietete ein Zimmer am Alten Fischmarkt 13 [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studenten der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg für das Winter-Halbjahr 1883/84, S. 20]., indessen ich mich gar herzlich über meinen Handel & die gut dampfende CoteletteKotlett, zubereitet nach Elsässer Küche. & das entwöhnte Münchner-BierMünchner Bier wurde in den Straßburger Bierhäusern Piton (Gewerbslauben), Birnbacher (Laternengasse), Luxhof (Broglie), in der Stadt München (Küfergasse) und im Münchener Kindl (Brandgasse) ausgeschenkt [vgl. Baedeker’s Süd-Deutschland und Oesterreich. Handbuch für Reisende, 20. Aufl., Leipzig 1884, S. 19]. ergötzte. – Dass ich ein sehr solides Leben führen, wird Dir zu bemerken nicht gerade überflüssig sein, doch zweifle ich nicht, dass Du es glauben wirst. – Von den schauerlichen NovitätenHermann Huber dürfte auf die beiden Morde am 23.10.1883 in Straßburg angespielt haben. Die Aarauer Presse berichtete: „Zwei schreckliche Mordthaten haben die Stadt in große Aufregung versetzt. Hunderte umdrängen die Mordstätten, alle Polizei- und Gerichtsbeamten sind in fieberhafter Aufregung. [...] Um 1 Uhr wurde in der Storch-Apotheke [...] geklingelt. Der Gehülfe Franz Lienhardt (50 Jahre alt, verheirathet, Vater zweier Kinder) öffnet die Thür und wird ermordet. Man fand ihn, den Kopf gespalten, einen Stich in der Brust, die Oberschenkel-Pulsadern durchschnitten. Der Mörder raubte die Kasse, ein großes Metzgermesser hat er zurückgelassen. Das Opfer des zweiten Mordes war ein Wachtposten am Pulverthurm beim Hospitalthor; er wurde bei der Ablösung kurz nach 1 Uhr schwer verletzt aufgefunden. Er hatte 17 Stichwunden, der Kopf war mit dem Gewehrkolben eingeschlagen. Am Kolben klebte Blut des Erschlagenen. An der Mordstätte wurden ein Messer und ein falscher Bart gefunden. Man vermuthet, daß die Mörder des Apothekers dort ihren Raub getheilt haben und dabei von dem Soldaten überrascht wurden [Aargauer Nachrichten, Jg. 29, Nr. 253, 25.10.1883, S. (3)]. hast Du wohl gelesen? Für so einen Juristen sind solche Verirrungen des menschlichen Geistes gar erlabend, besonders wenn er die nähern Umstände kennt.

Doch dass interessirt Dich wenig. | Endlich hat das Semester begonnenam Montag, 29.10.1883. und ich erfreue mich gar sehr an den erhebenden Vorträgen einiger Professoren, die wohl in eine Rhetorenschule passten. – Herr Lieutenant (?)Wedekinds Freund Oskar Schibler, der im Sommer 1883 an der Kantonsschule Solothurn die Maturaprüfung bestanden hatte, dürfte an der Offiziersbildungsschule der Feldartillerie in Zürich teilgenommen haben (8.10. bis 11.12.1883) [vgl. Der Bund, Jg. 34, Nr. 17, 18.1.1883, S. (2)] und wurde nach erfolgreicher Beendigung zum Leutnant ernannt [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 36, Nr. 353, Zweites Blatt, 19.12.1883, S. (3)]. Oscar Schibler wird wohl einige Zeit lang noch nicht kommenOskar Schibler wurde am 14.12.1883 an der Universität Straßburg für Jura immatrikuliert, er wohnte in der Krämergasse 3 [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studenten der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg für das Sommer-Halbjahr 1884, S. 34]. Auch sein älterer Bruder Wilhelm Schibler, der 1881 zum Medizinstudium nach Genf gegangen war, studierte neuerdings in Straßburg. Wie Abälard Durrer war er am 15.11.1883 an der Universität inskribiert worden [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studenten der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg für das Winter-Halbjahr 1883/84, S. 34]. koennen, inter arma silent MusaeUnter den Waffen schweigen die Musen.! –

Und Du? Lebst Du noch immer sorgenlos Dein Götterleben? oder bist Du herabgestiegen aus der ambrosiageschwängerten Luftdie mit der der unsterblich machenden Speise der Götter (Ambrosia) angereicherte Luft. und entflohen den Umarmungen und Lockungen der süssen Göttin, die sich so manches Jahr in Götterlaune erhalten? Nun, ich glaube, wandeltst Du auf dieser Erde, die auch zum Olympevermutlich Schreibversehen, statt: Olymp; höchster Berg Griechenlands; in der griechischen Mythologie Sitz der Götter zwischen Himmel und Erde. – Olympe (frz.) weiblicher Vorname, abgeleitet von Olymp. werden kann, sind die ersten Schranken niedergeworfen, ich glaube, dass nur noch eine Kurze Spanne Zeit mich abhält von den goldenen Tagen, in denen W wir zyt vereint der Welt & der MenscheitSchreibversehen, statt: Menschheit. Getriebe bis in’s Innerste erkennen werden! – Bis dahin erhalte uns aufrecht die Hoffnung!

Bitte, schreibe mir nächstens | eine lange Epistel, denn wohl tut es dem Baum Wanderer in der dürren Wüsten wehet zu ihm die himmlische Luft.

Herzlichen Gruss
Dein
Hermann Huber studius


NB. Sei so gefällig, Deinem Briefe eine 25cts25 Centimes (auch: Rappen). Marke beizulegen, da ich einem grossen Haus in der Schweiznicht ermittelt. schreiben werde, & von ihm eine Antwort erbitte. –

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 31.10.1883 ist als Ankerdatum gesetzt, das späteste mögliche Schreibdatum, von dem Monat („October“) und Jahr („1883“) gegeben sind und das dem Briefinhalt zufolge nach dem Beginn der Vorlesungszeit (29.10.1883) liegt.

  • Schreibort

    Straßburg
    31. Oktober 1883 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    Straßburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Aarau
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 75
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Hermann Huber an Frank Wedekind, 31.10.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

15.09.2022 22:45