Kennung: 30

München, 26. Juli 1889 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Greyerz, Minna von

Inhalt

                                                                          München 26.VII 89.
     Liebe Mina,

     Warum schreibst du mir denn eigentlich nicht? Hab ich das um dich verdienst? Du weißt doch wie heißhungrig ich auf einen ausführlichen Brief von dir warte. Aber ich will nicht bitter werden. Aus deiner letzten CarteDie Karte ist verschollen. seh ich daß du in Paris warst. Ich gratulire dir von ganzen Herzen. Ich wollte ich wäre auch in Paris. Dort könnte man die Zügel dem Gespann über den Kopf werfen und Hoiothoho rufen. Hast du ganz Paris gesehn? Bitte schreib mir nicht | alles sonder lediglich das interessante, in erster Linie das was du niemand anderem schreibst. Aus MiezeMieze, auch Mietze geschrieben, Spitzname für Wedekinds Schwester Erika (1868-1944), der späteren Dresdner Hofopernsängerin. s Brief erseh ich daß Frl. MinckErika Wedekind charakterisiert Fräulein Minck, einen Pensionsgast auf Schloss Lenzburg, in ihrem Brief vom 23.7.1889 an Franklin. bei uns ist. Wenn du sie siehst so melde ihr meine ganz ergebenste Empfehlung. Vielleicht hat sie dir etwas bemerkenswerthes über Frl. Sauer zu erzählen. Bitte liebe Mina, theil es mir mit. Frl. SauerWahrscheinlich ist die Schauspielerin Elise Sauer (1867-?) gemeint; später erhielt sie Engagements u.a. seit 1896 am Neuen Theater Berlin. gehört immer noch zu meinen Idealen. Ich such alle Bühnekalender nach ohne eine Spur von ihr zu entdecken. Ein Wort über sie ist mir Manna, sei es vortheilhaft oder nicht, im Gegentheil. Was macht die kleine PerleWedekind nennt sie "Margarethe B, die kleine Elfe und Perle" in seinem Brief an Minna von Greyerz vom 16./30.11.1889. , die hübsche Elfe, die mir das Herz erfrischt. Wenn du sie triffst dann richt ihr in Gedanken einen herzinnigen | Gruß von mir aus. Aber nur in Gedanken. Es wäre Sacrilegium, wenn du da ihr gegenüber meiner mit einer Sylbe Erwähnung thun wolltest.
     Denkst du noch zuweilen des vergangenen Winters? – Ich denke sehr oft zurück aber ich bekomme jedesmal Herzklopfen. Wenn ich einen Blick in meine unvollendete Predigt Gemeint ist die Predigt Elins aus dem 1888 begonnenen und zunächst als Vierakter geplanten Drama "Elins Erweckung". Ein „Bruchstück aus der Komödie veröffentlichte Wedekind 1894 in: Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1894. 2, 1894, S. 54-61, s. STA 2, S. 455ff. u. S. 1135.werfe so funkelt mir dein dunkles Auge aus den Zeilen entgegen. Du warst eben doch meine Muse. Dieser Tage las ich deine Briefe durch die du mir nach Lausanne geschrieben und dann unsere Correspondenz in Lenzburg auf dem Gymnasium. Mir scheint, mögen sich unsere Schicksale auch gestalten wie sie wollen, daß wir Beiden eben doch für Zeit und Ewigkeit mit ein- | ander verbunden sind. Wie oft schon hab ich Heimweh nach deiner unbegrenzten Theilnahme gehabt, (nach deinen unersättlichen Lippen) und unvorhergesehenen Bemerkungen. Ich werde indiskret aber wir sind ja unter uns. Ich ergreife deine Hand und bedecke sie mit tausend heißen Küssen. Darauf läßt du dich zu mir nieder; ich will dich umfangen, du springst auf, ich dir nach, du in niederschmetternd erhabener Bühnenpose. Ich suche die Thüre und du wirfst mir deinen Pantoffel an den Kopf. Das sind Momente die nicht wiederkehren.
     Mein Leben ist eintönig. Ich habe eine Anzahl neuer Bekanntschaften gemacht, die vieles manches Anregende haben, Privatdocenten, Assessoren und anderes gelehrte Gelichter. Meine Zür- | cher Freunde sind es eben doch nicht. Jeder sieht aus wie ein gedrucktes gebundenes Buch in SteretypausgabeVerschreiber. Der Begriff Stereotyp leitet sich davon her, dass man den beweglichen Schriftsatz in eine massive Platte, aus Letternmetall abgeformt, zum Abdruck in der Buchdruckerpresse herstellt. Dies gewährt den Vorteil, dass der Verleger von seinen Stereotypplatten anfangs nur eine geringere Anzahl und dann bei Bedarf weitere Abdrücke machen lassen kann.. Wo finde ich einen Menschen? Einen Menschen, der ein Mensch ist und menschliche Schwächen hat. Ich empfinde eine unbeschreibliche Sehnsucht nach menschlichen Schwächen. Sie machen den Menschen so reich, so umgänglich. Auch erweitern sie den Horizont, der meiner Ansicht nach nich nie weit genug sein kann.
     Schreib mir recht bald liebe – liebe Mina. Du hast viel wieder gut zu machen. Aber ich will nicht unerbittlich sein. Schreib mir wie es zu Hause zugeht, ich meine die charakteristische Stimmung, vor allem wie sich Mama | bei der Geschichte Vom Sommer 1889 bis zum Verkauf des Schlosses richtete Wedekinds Mutter auf der Lenzburg einen Restaurations-. und Pensionsbetrieb ein. Ein Aufruf in den Zeitungen brachte im Juni 1889 die ersten Sommerfrischler, darunter auch Wedekind-Gäste aus Darmstadt.fühlt. Schreib mir was Herr Pfarrer zu meinem Elaborat gesagtMit dem Elaborat ist Wedekinds Fragment gebliebene Komödie "Elins Erweckung" gemeint; siehe die Erläuterung "meine unvollendete Predigt". , wahrscheinlich nichts gutes, aber eben deshalb. Es wird mir für mich, für Herrn Pfarrer, für mein Elaborat und für die Welt im Allgemeinen interessant sein. Was macht Tante OschwaldFanny Oschwald-Ringier (1840-1918), Schriftstellerin, die spätere Schwiegermutter von Wedekinds Schwester Erika, die deren Sohn Walther Oschwald (1864-1950) 1898 heiratete. ? Was macht Tante JahnDer literarisch interessierten und selbst Gedichte schreibenden Bertha Jahn hatte Wedekind seine frühen literarischen Versuche, Lyrik und Prosa, zur Kritik überlassen. Seine 1884 entstandene enge Beziehung zu Bertha Jahn (1839-1894) gab Wedekind endgültig im September 1887 auf.? – Schreib mir auch über MiezeSpitzname Mieze für Wedekinds Schwester Erika (1868-1944), der späteren Dresdner Hofopernsängerin. Sie half ihrer Mutter zunächst bei der Bewirtschaftung der Pension aus. , ich meine so wie sie sich zurechtfindet und sich fühlt.
     Zum Schluß empfange die herzlichsten Grüße von deinem treuen
                                               Franklin.
                                  Akademiestrasse 21.III.
                                               München.
     Ich habe die Adresse gewechselt. Vielleicht bist du daher so freundlich sie oben mitzutheilen.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 14 x 20 cm. Oktav.
Sonstiges:
Zusätzlich überliefert: Abschrift von der Hand Sophie Hämmerli-Marti‘s. Stadtarchiv Lenzburg, Zusatz-Nachlass Sophie-Haemmerli-Marti. II. Sophie Hämmerli-Marti und die Familie Wedekind. B. Frank Wedekind 1. Ein Heft Jugendbriefe, 2 Bl., 4 S. – Falsche Datierung von Haemmerli-Marti: 26.VIII.1889. - Siehe unter „Fassungen“.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Wahrscheinlich wurde der Brief am Freitag, den 26.7.1889 auf die Post gegeben, denn Minna von Greyerz schreibt am Dienstag, den 30.7., sie habe ihn am letzten Wochenende vorgefunden.

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
401-403
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Historisches Museum Schloss Lenzburg

CH-5600 Lenzburg
Schweiz
Schloss Lenzburg

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
D 535
Standort:
Historisches Museum Schloss Lenzburg (Lenzburg)

Danksagung

Wir danken dem Historischen Museum Schloss Lenzburg für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Minna von Greyerz, 26.7.1889. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (09.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Prof. Dr. Hartmut Vincon

Zuletzt aktualisiert

17.01.2024 14:44