Kennung: 2924

Salzburg, 24. April 1915 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Strindberg, Friedrich

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Salzburg, 24.IV.1915.


Mein lieber Frank!

Danke dir recht herzlich, daß Du mir trotz Deines Leidens schriebst! Ich erschrak in hohem Maße, als ich von Deiner neuerlichen OperationWedekind unterzog sich nach seiner ersten Blinddarmoperation (29.12.1914) am 15.4.1915 einer zweiten „Operation“ [Tb]. Sein zweiter Klinikaufenthalt dauerte vom 14.4.1915 bis 9.6.1915. auf der Karte lasnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Friedrich Strindberg, 23.4.1915.; wähnte ich Dich ja schon vollends genesen. Da bitte ich Dich recht mir meine sicherlich ungestümen und vielleicht auch unbescheidenen Bittenvgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 22.3.1915., mich zu Ostern zu besuchen, zu entschuldigen. Auch danke ich Dir einstweilen für Deine Empfehlungen an Herrn Doktor Eckardt und freue mich schon recht sie ihm morgen auszurichten. Er ist ein sehr netter und gebildeter Herr, der trotz seiner LeitungJohannes Eckardt leitete seit 1913 die katholische Literaturzeitschrift „Über den Wassern“. Innerhalb der konfessionell gebundenen Literaturkritik stand er für eine vergleichsweise liberale Haltung gegenüber nicht-katholischer Literatur, was zu Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Zeitschriften wie dem „Gral“ führte. von „Über den Wassern“ die gediegensten Ansichten und auch nicht im geringsten rückständig, besitzt und verteidigt.

Erst vor kurzem sandte ich 4 kleine politische Gedichtleinnicht überliefert. an die Redaktion des „Forum“. Auf Rat Herrn Doktor E. werde ich auch meine kleine, neue Novelle „Das verlorene Herz“, eine Lei|densgeschichte an die „Aktion“ von Hanns Pfemfertirrtümlich für Franz Pfemfert, den Herausgeber der seit dem 1911 wöchentlich erscheinenden expressionistischen Zeitschrift „Die Aktion“ (Berlin). senden. Erst kürzlich aber erfuhr ich von Herrn Doktor von Deinem „Bismark“Schreibversehen, statt „Bismarck“, Wedekinds „Bismarck. Historisches Schauspiel in fünf Akten“ [KSA 8, S. 153-232], das im Vorabdruck noch den Untertitel „Bilder aus der deutschen Geschichte“ trug. Am 26.3.1915 berichtete die Presse: „Frank Wedekind hat unter dem Titel ‚Bismarck‘ soeben eine dramatische Studie in sechs Bildern im Manuskript vollendet. Dieses Bismarck-Drama ist keineswegs in dem Gedanken an den hundertsten Geburtstag des Altkanzlers erdacht und geschrieben. Die leitende Idee bildet das Problem der politischen Diplomatie. Die sechs Bilder zeigen sechs historische Tage aus dem politischen Leben Bismarcks in den Jahren 1863–1866, jener Zeit, von der Bismarck selbst einmal äußerte, daß sie dazu geschaffen, aus ihr ein Drama zu machen.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 44, Nr. 156, 26.3.1915, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Wedekinds historisches Schauspiel erschien erst im Dezember 1915 als Buch. Zum Zeitpunkt des vorliegenden Briefs von Friedrich Strindberg war als Vorabdruck „Erstes Bild. Bismarck und Karolyi“ erschienen [vgl. Der Neue Merkur, Jg. 2, Heft 1, April 1915, S. 1-12; vgl. KSA 8, S. 660, 683]. Die 2. Szene aus diesem Bild ist außerdem am 1.4.1915 im „Berliner Tageblatt“ veröffentlicht worden mit dem Hinweis: „Vor einigen Tagen haben wir mitgeteilt, daß Frank Wedekind eine dramatische Studie in sechs Bildern ‚Bismarck, Bilder aus der deutschen Geschichte‘ vollendet hat. Aus den uns zur Verfügung gestellten Aushängebogen veröffentlichen wir heute die zweite Szene des ersten Bildes.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 44, Nr. 168, 1.4.1915, Abend-Ausgabe, S. (2)]. Du kannst Dir kaum denken, wie erstaunt ich war und ich freue mich schon recht darauf! Vorläufig aber ist die Hauptsache, daß Du lieber Frank, bald und völlig wieder gesundest und ich bitte Dich recht, Dich beim Briefschreiben an mich nicht zu bemühen. Solange Du krank bist und Dir das Schreiben schwerfällt, bedarf ich ja keiner Antwort. Schonung, die Du sicherlich so nötig hast, besteht ja aus lauter Einzelheiten, und nicht wahr Du siehst es nicht schlecht an, wenn ich Dich von ganzem Herzen darum bitte.

Von uns in Österreich weiß ich recht wenig Neues. Erst kürzlich wurde der Begriff LandsturmBezeichnung für alle wehrtauglichen Männer außerhalb des aktiven Militärdienstes; die Landsturmpflicht entsprach der Wehrpflicht. Die Presse berichtete, es sei angesichts des fortschreitenden Krieges „in Aussicht genommen, die Landsturmpflicht in beiden Staaten der Monarchie in Hinkunft schon mit dem Jahre, in dem das 18. Lebensjahr vollendet wird, beginnen und bis zum Ende des Jahres der Vollstreckung des 50. Lebensjahres währen zu lassen. Auch soll das erste Aufgebot die Jahrgänge bis zur Vollstreckung des 42. Lebensjahres umfassen und die Möglichkeit geboten werden, in ganz besonderen Ausnahmefällen auch die dem zweiten Aufgebot Angehörenden zu Zwecken der Ergänzung des Heeres und der Landwehr heranzuziehen.“ [Erweiterung der Landsturmpflicht in Oesterreich-Ungarn. In: Neues Wiener Journal, Jg. 23, Nr. 7716, 18.4.1915, S. 3] von 17 – 50 Jahre erweitert. Der nächste Jahrgang, der höchstwahrscheinlich Anfang Juni seine Stellungösterreichisch für Musterung. hat (oder schon Ende Mai.), sind die 97er, das sind wir. Es ist sehr leicht möglich, daß ich behalten werde, und deshalb muß ich fleißig lernen, um noch vor der Stellung die Prüfung über die 6. Klasse, die die EinjährigenberechtigungDie Berechtigung zum Dienst als Einjährig-Freiwilliger war ein höherer Schulabschluss, mindestens der Mittelschule. „Die Institution der Einjährigen-Freiwilligen hat den Zweck, jene Wehrpflichtigen, die sich höheren Studien widmen, durch die dreijährige Präsenz-Dienstzeit nicht in einer für ihre spätere Laufbahn empfindlichen Weise zu schädigen. Gleichzeitig soll durch die Einjährig-Freiwilligen der im Kriegsfalle eintretende grosse Mehrbedarf an Subaltern-Officieren, Cadetten, Aerzten u. s. w. gedeckt werden. Als Bedingung zum Eintritt als Einjährigen-Freiwilliger ist die Absolvierung einer inländischen Mittelschule oder einer dieser gleichgestellten Lehranstalt, eventuell die bei einem Truppen-Divisions-Commando abzulegende Vorprüfung in gleichem Umfange des Wissens nothwendig.“ [Alfons Freiherr von Wrede: Geschichte der K. u. K. Wehrmacht. Bd. 1. Wien 1898, S. 92] Die freiwillige Meldung als Einjähriger entband in Kriegszeiten nicht vom Frontdienst. mit der | Bestimmung weiter zu studieren mit sich bringt, ablegen zu können. Falls ich hinaus muß, macht es mir nicht das Geringste. Ich glaube es drobengemeint ist hier vermutlich auf der Landkarte oben (siehe noch einmal unten); die russisch-österreichische Hauptfrontlinie verlief nordöstlich von Österreich-Ungarn in Galizien und den Karpaten. sehr leicht nehmen zu können. Auch freue ich mich, daß es endlich mit Italien loszugehenDas neutrale Italien trat am 23.5.1915 auf Seiten der Entente-Mächte mit einer Kriegserklärung gegen Österreich in den Krieg ein. scheint! Nur die Idee eines SeparatfriedensGerüchte eines österreichischen Separatfriedens mit Russland wurden von der ausländischen Presse erörtert und von der österreichischen Presse zurückgewiesen. mit Rußland ist gräßlich! Romain Rollands FrageNach der Zerstörung Löwens durch deutsche Truppen schrieb Romain Rolland in seinem offenen Brief an Gerhart Hauptmann: „Nicht zufrieden mit Euren Taten gegen das lebende Belgien, führt Ihr auch noch Krieg gegen die Toten, gegen jahrhundertalten Ruhm. Ihr bombardiert Mecheln, Ihr steckt Rubens in Brand, Löwen ist nicht mehr als ein Aschenhaufen – Löwen mit seinen Schätzen der Kunst und der Wissenschaft, die heilige Stadt! – Aber wer seid denn Ihr? Und mit welchem Namen wollen Sie, Hauptmann, daß man Euch gegenwärtig nenne, der Sie den Titel Barbaren zurückweisen? Seid Ihr die Enkel Goethes oder Attilas? Führt Ihr Krieg gegen die Armeen oder gegen den Menschengeist?“ [Vossische Zeitung, Nr. 460, 10.9.1914, Abend-Ausgabe, S. (2)] „ob wir Deutschen von Goethe oder Attila abstammen“ wäre dann entschieden – wenigstens für unsere Nachbarn im Westen.

Mein Vormund Herr Doktor v. Weyr muß jetzt bald wieder auf den Kriegsschauplatz. Da ich im Falle meiner Einberufung zu seinem Regiment nach Klagenfurt zu kommen suche, hätte ich große Freude oben unter sein Kommando zu kommen. Mit Großmama stehe ich auf sehr gutem Fuß, ebenso mit meiner Tante, Frau HarnwolfFrau Harnwolf] Charlotte Harnwolf, Gattin des Hofrats und Finanzsekretärs Dr. Siegmund Harnwolf, wohnhaft am Althanplatz 8 im IX. Bezirk Wiens, war die Tochter von Melanie Samek, der Zwillingsschwester von Friedrich Strindbergs Großmutter Marie Uhl. Sie hatte für Friedrich Strindberg einen Kontakt zu Felix Salten hergestellt [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 20.12.1914]., die sich meiner auf meiner „Flucht“Friedrich Strindberg war am 30.11.1914 mit zwei Mitschülern aus seinem Salzburger Internat ‚getürmt‘ und für eine Woche nach Wien gefahren [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 30.11.1914 und 1.12.1914] seinerzeit so freundlich annahm, der es jetzt aber recht bös geht. Sie liegt schon 10 Jahre ungefähr krank darnieder und wandert von Sanatorium zu Sanatorium. |

Von Kerstin läßt sich gar nichts hören. Sie schweigt sich uns allen recht gründlich aus.

Aber hoffentlich findest Du recht bald Besserung; falls irgend ein etwas von mir gedruckt wird, würdest Du mir eine recht große Freude machen, wenn ich es Dir senden dürfte. Nicht wahr, Du weist es bitte nicht zurück? – aber zuerst muß ich etwas haben. Eben genieße ich in vollen Zügen die Schönheit Tizians. (MonographieDer „Tizian“-Band von Hermann Knackfuß war 1912 in der Reihe Künstler-Monographien als Band 29 bei Velhagen und Klasing in Bielefeld und Leipzig in 7. Auflage erschienen. von Velhagen u. Klassing.) Die FloraDas nach der römischen Göttin der Blüten – Flora – benannte Ölgemälde (1515) des italienischen Renaissancemalers Tizian, das eine leicht bekleidete Frau zeigt, ist seiner erotischen Ausstrahlung wegen berühmt geworden. Es ist auf Seite 35 des von Friedrich Strindberg genannten Tizian-Bandes (siehe vorherige Anmerkung) abgebildet. und alle seine Frauen scheinen mir zwischen „Himmel u. Hölle“gemeint sein dürfte: zwischen Unschuld und Laster. zu schweben. So herrlich schön sind sie. Voll klassischem RhytmusSchreibversehen, statt: Rhythmus..

Aber einstweilen herzliche Grüße mit demSchreibversehen, statt: den.
herzlichsten Wünschen baldiger Genesung!
Dein

Friedrich Strindberg.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Mischschrift (Kurrent und lateinische Schrift).
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 17,5 x 22,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Salzburg
    24. April 1915 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Salzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 165a
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Friedrich Strindberg an Frank Wedekind, 24.4.1915. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

07.07.2022 10:03