Salzburg, 20.XII.1914.
Mein
lieber Frank!
Nun habe ich bereits aus der Zeitung erfahrenDie Presse meldete: „Aus München, 11. d. M. wird uns telegraphiert: Frank Wedekind, der vor kurzem an einer leichten Blinddarmentzündung erkrankt ist, befindet sich auf dem Wege der Besserung. Er dürfte schon in einigen Tagen das Bett verlassen.“ [Oesterreichische Volks-Zeitung, Jg. 60, Nr. 343, 12.12.1914, S. 6] Wedekind notierte in seinem Tagebuch erste Symptome (3.12.1914: „Leide stark an Blähungen. Versuche mir den Leib zu massieren.“ 4.12.1914: „Bauchmuskulatur entzündet.“ 5.12.1914: „Bleibe zu Bett. Hofrat von Skanzoni kommt am Abend“) und schrieb dann über die Seiten vom 6. bis 11.12.1914 und vom 13. bis 23.12.1914: „krank“. Am 29.12.1914 folgt der Eintrag: „Werde mit dem Sanitätswagen in die Klinik gebracht und operiert.“, daß es Dir
mit der Blinddarmreizung besser geht. Ich will Dich nicht mit den Gründen
belästigen, weshalb ich Salzburg auf 7Friedrich Strindberg war am 30.11.1914 mit zwei Mitschüler aus seinem Salzburger Internat getürmt [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 30.11.1914] und über Bad Ischl nach Wien gefahren. In seine Schule war er demnach am 6.12.1914 zurückgekehrt. Tage verließ – nur kannst Du sicher
sein, daß es nicht grundlos und am wenigsten folgenlos war. Bei meiner Ankunft in Wien stand ich am
Westbahnhof mit 20 Heller Barschaft. Eineinhalbtägiges Hungern brachte mich
dazu mein StückVermutlich handelt es sich um das Stück, das Friedrich Strindberg unter dem Titel „Epiphania“ konzipierte [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 24.5.1914]. Während er im vorliegenden Brief die Übernahme des Titels seines Vorgängerdramas, „Menschenrecht“ erwog, nennt er später den Titel „Kampf“ [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 27.2.1915]. Einzelne Szenen dieses Stücks hatte er Wedekind bereits bei dessen Besuch in Salzburg am 26. und 27.9.1914 gezeigt (siehe unten). Ausgearbeitet hat er das Stück aber erst im November [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 25.10.1914] und berichtete am Ende des Monats von seinem Abschluss [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 30.11.1914]. irgendjemandem – der es brauchen könne – zu veräußern. Von
meinen besseren Bekanntennicht ermittelt. waren die wenigsten hier. Der eine eingerückt, der
zweite verreist und mein Freund, bei dem ich die erste Nacht übernachtete,
krank. Ihm meine finanziellen Schwierigkeiten mitzutenSchreibversehen, statt: mitzuteilen. hatte ich nicht im
Sinne. So hungerte und fror ich tüchtig und lernte im Allgemeinen mehr Menschen
kennen, als in anderen Umständen vielleicht in einem Jahre. Ich muß aufrichtig
gestehen: obwohl ich die Folgen meiner „Untat“die einwöchige Flucht aus dem Salzburger Internat am 30.11.1914. zu wenig bedachte, bin ich froh,
sehr froh sie begangen zu haben. Schaden war mir immer der beste Lehrmeister.
Von meiner Großmama bin ich für Weihnachten eingeladen und ich werde
höchstwahrscheinlich Donnerstagden 24.12.1914. 5.15 h. abreisen. (Nach Mondsee.) Auf eine Woche.
Im Wiener BurgtheaterFriedrich Strindberg besuchte am 3.12.1914 im Burgtheater einen Abend mit drei Stücken. Gespielt wurden Wedekinds „Der Kammersänger“ mit Georg Reimers als Gerardo und Anna Kallina als Helene Marowa; Artur Schnitzlers Lustspiel „Literatur“ und Felix Saltens Komödie „Auferstehung“ mit Harry Walden als Konstantin Trübner. Die Vorstellung begann um 8.30 Uhr, wie der Theaterzettel [zugänglich in: https://anno.onb.ac.at] ausweist. sah ich den „Kammersänger“ mit
Herrn Reimer – ich glaube wenigstens – als Gerardo. Frl. Kallina als Helene.
Das Spiel war meiner Ansicht nach – wenn meine Ansicht in Betracht kommt –
nicht gut. Es fehlte D/d/as innere Verständnis | für die Figur und die irrigen
Ansichten Gerardos über Kunst bringt R. so hervor, daß das Publikum sie für Deine hielt, so wie ich mich
durch Fragen meiner liebenswürdigen Nachbarinnicht ermittelt. überzeugte. Sehr stark ergriff
mich Saltens „Auferstehung“, eine prachtvolle Komödie. Harri Walden spielte die
Hauptrolle besser als sie irgendein andrer spielen könnte. Schnitzlers
„Literatur“ zeigte dem Publikum, was man unter Literatur nicht verstehen solle
und das Pup/b/likum verstand das Mißverständnis. Und dann Herrmann Bahrs
„Querulant!“Während Friedrich Strindbergs Wien-Aufenthalt wurde Hermann Bahrs Komödie „Der Querulant“ zweimal am Theater in der Josefstadt gespielt, am 2. und 4.12.1914. Es waren die 26. und 27. Aufführung des erfolgreichen Dramas in der Besetzung mit Hansi Niese, Gisela Werbezirk, Willi Thaller und Josef Jarno, das dort am 30.10.1914 Premiere hatte. So viel ich erfahren konnte, ist das Stück Dir zugeeignetDie Widmung lautet: „Meinem lieben Frank Wedekind in herzlicher Freundschaft zum fünfzigsten Geburtstag“, datiert „Salzburg Pfingsten 1914“ [Hermann Bahr: Der Querulant. Komödie in vier Akten. Berlin 1914, S. (5)]. Herrmann Bahr hatte die Widmung Wedekind vorab angekündigt [vgl. Wedekind an Hermann Bahr, 1.5.1914 und 3.5.1914].. Nicht
wahr, Du verzeihst mir, wenn ich trotzdem mein Urteil darüber abgebe.
Man
weiß wahrlich nicht, wer sonderbarer ist. (H. Ba. wenn er) Der
GuggelbauerDie Figur aus Hermann Bahrs „Der Querulant“ heißt Mathias Gunglbauer, kurz: Hias, ein ehemaliger Soldat und Wegmacher. Nachdem ein Forstmeister seinen Hund erschossen hat und es wegen Rechtsbeugung durch den Richter zu keiner Verurteilung kommt, verübt er einen Mordanschlag auf Marie, die Tochter des Forstmeisters: „Wegen dem nämlich daß die Fräul’n Marie ja dem Herrn Forstmeister grad so viel is wie der Schlüfl mir, und also – nur gerecht! Eben – Hat nur aber doch meine Kurasch nöt bis ans End’ g’langt.“ [Hermann Bahr: Der Querulant. Komödie in vier Akten. Berlin 1914, S. 162], wenn er Menschen und Hunde gleichsetzt, oder Herrmann B., wenn er glaubt, daß
solche Leute existieren. Daß das Stück sich aber hält, beweist nichts für den
Dichter n/s/ondern sehr viel gegen das Wiener Publikum. Mir war es
aufrichtig gesagt paradox. Für die Schwächen dieses Werkes hatte ich sehr
offene Augen. Der betreffende Abend hat mich geradezu enttäuscht.
Ich gab mein Stück dem Dir. WeisseAdolf Weisse war seit 1902 Direktor des Deutschen Volkstheaters in Wien und setzte sich für die Aufführung von Werken zeitgenössischer Autoren ein, darunter Wedekind, dessen Stück „Musik“ am 14.10.1913 am Deutschen Volkstheater Premiere hatte und bis zum 7.11.1913 gespielt wurde. Am 14.5.1914 besuchte Wedekind auf Einladung Weisses eine weitere Aufführung von „Musik“ am Deutschen Volkstheater [vgl. Wedekind an Adolf Weisse, 9.5.1914]., von dem ich hoffte, er werde sich des
Erstlingswerkes annehmen. Aber sein Dramaturg fand, daß die Technik zu „wild“
sei. – Und nun gab ich es Herrn Salten, dem mich meine Tantevermutlich Charlotte Harnwolf, Gattin des Hofrats und Finanzsekretärs Dr. Siegmund Harnwolf, wohnte am Althanplatz 8 im IX. Bezirk Wiens. Sie war die Schwester des Ehemanns von Melanie Samek, der Zwillingsschwester von Friedrich Strindbergs Großmutter Marie Uhl. Friedrich Strindberg erwähnt sie in einem späteren Brief als „Tante“ und Helferin während seiner Flucht aus Salzburg [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 24.4.1915]. empfahl. Für Dich, lieber Frank, habe ich
mein Stück zusammengeschmolzenIn einem früheren Brief hatte Friedrich Strindberg als Umfang des Dramas noch „5 Akte, 25 Szenen“ [Friedrich Strindberg an Wedekind, 25.10.1914] genannt. und in 4 Theaterakten erwartet es Dein Urteil,
an dem mir das meiste gelegen ist. Auf eine Aufführung kann ich nicht rechnen.
Es enthält das meiste jener zwei Szenen, die ich Dir ins Hotel d’Europe
brachteWedekind übernachtete vom 26. auf den 27.9.1914 im Hotel d’Europe in Salzburg und traf sich dort mit seinem Sohn: „Fahrt nach Salzburg. Hotel d l’Europe. Treffe Friedrich Strindberg bei Tisch.“ [Tb]. Eine Veröffentlichung würde mich anscheinend mit | derselben Behörde
in Berührung bringen, demer die „Pandora“ anheimfielWedekinds Drama „Die Büchse der Pandora“ (1903) war fortwährend Gegenstand von Zensurverboten [vgl. KSA 3/II, S. 1205-1207]. Eine öffentliche Aufführung war erst posthum nach Aufhebung der Zensur 1918 möglich.. Ich glaube, lieber Frank, daß
mein Stück eine starke Wirkung ausüben würde, wenn auch vieles sehr naiv und
derb gedacht ist. Ich erwarte Dein Urteil mit der größten Spannung und würde
Dir sehr, sehr dankbar sein, wenn wir uns wieder einmal sehen könnten. Hier in
Salzburg ist alles wieder in Ruhe. Man hat mein Durchbrennen aufgenommen, wie
man eine jugendliche Dummheit aufzunehmen pflegt.
Was mein erstes StückFriedrich Strindberg spricht hier nicht von seinem ersten Stück „Triton“, sondern von seinem zweiten, „Menschenrecht“, über das es zum Zerwürfnis mit seinem Vater gekommen war. verbrochen hat, diese beispilspielloseste
Dummheit, die ich selber kenne, hoffe ich durch mein zweites gutzumachen. Der
Held meines 2. Stückes wird nämlich erhenkt. Nur eines bitte ich Dich mir zu
verzeihen. Den Titel: „Menschenrecht“Dass Friedrich Strindberg sein neues Stück nicht wie ursprünglich angekündigt „Epiphania“ [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 24.5.1914] nannte, sondern hier mit dem gleichen Titel versah wie das vorherige, zurückgezogene Stück, mag daher rühren, dass er ein Stück mit diesem Titel bereits bei verschiedenen Personen angekündigt und deren Interesse geweckt hatte, so bei Richard Dehmel oder Kurt Wolff [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 5.5.1914 und 9.5.1914].. Der Titel ist ironisch gemeint. „M….“,
die Komödie einer Generation. Du wirst staunen, daß ein 17½jähriger soviel
erbitterte Gedanken, eine solche Unzahl Sarkasmen, wütender Sarkasmen,
Enttäuschungen aufzubringen vermag, wie ich bei dieser Gelegenheit. Und nun
hoffe ich zum Schlusse, daß mein neues Stück das Gegenteil des letzten
bedeutet. Daß es mich einen gewaltigen Schritt Dir, mein lieber Frank, näher
bringt. Das wäre mein schönstes Ziel.
Mit recht herzlichen Grüßen wünscht Dir baldige Besserung
in aufrigtigerSchreibversehen, statt: aufrichtiger. Liebe
Dein
Friedrich Strindberg.