Kennung: 2742

Salzburg, 17. Juni 1914 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Strindberg, Friedrich

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

17.VI.14.


Lieber Herr Wedekind!

Ich wage es nicht mehr Herrn Wedekind „Du“ zu nennen, weil ich heute von meiner Großmama einen BriefDer Brief von Marie Uhl an Friedrich Strindberg ist nicht überliefert. bekam: „Wie Du Deinen Vater verloren hast…..

Sie war in München, wird bei Dir gewesen seinWedekind war vom 23.5. bis 16.6.1914 in Berlin [vgl. Tb], so dass ein Treffen mit Marie Uhl in München nicht stattgefunden haben kann. und erfahren haben, was ich bis jetzt nur ahnte: unsern vollständigen Bruch!

Bitte lies den Brief weiter, wenn er auch so beginnt; bitte!!

Ich will Dir nicht mein ewiges Miserere(lat.): sich erbarmen; erstes Wort des 51. Psalms: Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam (Erbarme dich meiner, Gott, nach deiner großen Güte). Es dient bei Vokalvertonungen des Psalms als Incipit. vorjammern, das mit meiner Mutter beginnt und kein Ende findet; ich hatte bis zu Dir keine Seele, mit der ich mich verstehen konnte, keinen Menschen, der mich wahr liebte. Mit meiner Schwester kam ich aus, seit ich Dich hatte, da sie mich um Deinethalben schätzte, eventuell…Ich wurde von meiner Großmutter aus reiner Liebe schlechter und eckela/h/after behandelt, wie ein h/H/und, nur weil ich fühle! Man drillte mir von Jugend | auf sämtliche Verrücktheiten ein, um nur ein moralisches RückkratSchreibversehen, statt: Rückgrat. zu verschaffen; dagegen wehrte ich mich unbewußt mit aller Gewalt, meine Großmama sieht in mir den menschgewordenen Satan, meine Mutter ist da draußen irgendwoFrida Strindberg hielt sich seit 1908 in London auf und hatte den Kontakt zu ihren Kindern abgebrochen. und ich?

Wenn Du halb, ein bischen Dein Wort in BerlinFriedrich Strindberg hatte seinen Vater Frank Wedekind im letzten September in Berlin kennengelernt und mit ihm dort vom 14. bis 16.9.1913 Zeit verbracht [vgl. Tb].: „Wenn Du etwas wie/l/lst, komme zu mir“ wahrmachen wolltest, verzeihe, ich komme zu Dir und bitte um: Liebe und Verzeihung. Liebe mit einem Menschen, dem das Schicksal bei jedem Gut noch einen Streich gespielt hat; VerzeihungWegen Friedrich Strindbergs nicht überlieferten Stücks „Menschenrecht“ kam es zum Zerwürfnis mit seinem Vater, der einen an ihn gerichteten Erpresserbrief auf die schriftstellerische Tätigkeit seines Sohnes zurückführte [vgl. Wedekind an Friedrich Strindberg, 8.5.1914]. für das, was ich noch nicht weiß, für – ich glaube es ist es – für das Stück! Wie gerne fliegt es in D/d/ie Flammen, wenn ich Dich nur erhalten kann! Bedenke: ich bin kein Mädchen, das mit Schönheit und Klugheit weiter kommt; was ich war, weißt Du, was ich bin: ein Häuflein Unglück. |

Wird ein Mädchen verlassen, so geht es zu einem andern; aber ich? Ich stehe dann so nackt und bloß da, wie sonst niemand! Ich lernte, büffelteangestrengt lernen (umgangssprachlich). im heurigen Studienjahr wie ein Ochse – um später Dir mit mir Freude zu machen. Ich bin fest entschlossen, falls Du es über das Herz bringst mich wegzustoßen wie einen treuen Hund, dem man lieber eine Kugel durch den Schädel jagt, als ihn (zum) davon weist, in die weite Welt zu gehen, ohne „Einverständnis“ eine eines meiner Verwandten und zu sehen, wie man sich fortbringt oder erhungert.

Aber wenn Du das Bewußtsein hast: mir noch ein klein wenig, ein winziges Bischen zu schulden, so bitte ich Dich um alles, nimm mich wieder in Deine Liebe auf,/./ Willst Du einen Menschen, der Dir doch etwas näher steht als die andern, ganz beinahe das Leberecht nehmen; verzeihe die harten Worte aber sag mir ein gutes Wort, | woraus ich schließen kann, daß ich Dir noch ein bischen Wert bin – ich bin es ++ vielleicht gar nicht – und ich bin glückselig bis über alles! Und bin ich es nicht wert, nun dann bin ich mir auch nichts mehr wert. Leben soll der, den es freut. Ich verzichte auf das Marionettenspiel, wo man mich allseits nur mit Füßen tritt und keiner für einen armen Teufel Gefühl hat. Fallen muß ich, darum bin ich höchstwahrscheinlich geboren worden, we und der liebe Gott muß auch seine Freude haben, wenn er die Menschen quälen kann, so weit es geht. –

Ich bitte Dich, falls Du für mich auf diesen Brief ein gutes oder schlechtes Wort hast, es mir mitzuteilen. Wir reisenFriedrich Strindberg verbrachte die Sommerferien bis zum 20.8.1914 gemeinsam mit dem Direktor seiner Schule, Josef Tschurtschenthaler, in Sexten in Südtirol [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 14.8.1914]. 27. oder 28. oder 29. fort und kommen dann nimmer hierher!! Also ich bitte Dich um baldige Nachricht –
beinahe weinend
Dein Friedrich.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift. Einzelne Buchstaben in Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 15 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Als Schreib- und Absendeort darf Salzburg angenommen werden, wo sich Friedrich Strindbergs Internat befand.

  • Schreibort

    Salzburg
    17. Juni 1914 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    Salzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 165a
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Friedrich Strindberg an Frank Wedekind, 17.6.1914. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

30.05.2022 17:41