Lieber Herr Stollberg,
ich habe Ihren Briefnicht überliefert: erschlossenes Korrespondenzstück: Georg Stollberg an Wedekind, 18.11.1898. mit unendlichem Bedauern
gelesen und bitte Sie meinerseits um Verzeihung, daß so etwas vorfallen konnte
und zwar ebenso aufrichtig und ernstlich, als wäre ich es selber gewesen, der
sich die UngezogenheitDonald Wedekind hat sich Grete Stollberg gegenüber ungebührlich betragen (vermutlich ein verbaler oder tätlicher sexueller Übergriff), sie möglicherweise „sexuell belästigt“ [Buchmayr 2011, S. 202], ein Vorfall jedenfalls, der Georg Stollberg äußerst erzürnt hat. gegen Ihre hochverehrte Frau Gemahlin hätte zu Schulden
kommen lassen. Ich kann Ihnen bei alledem nicht verhehlen, daß Sie die Angelegenheit
meines Erachtens, der ich sie nur aus Ihrer Darstellung kenne, zu schwer
nehmen. Auf jeden Fall haben Sie meinem Bruder durch Ihre Beschimpfungen | jede
Möglichkeit genommen seinen Fehler wieder gut zu machen. Wenn man vier Wochen
lang mit einem Menschen am gleichen Tisch gesessen hat, dann droht man auch im
schlimmsten Fall nicht ohne weiteres mit
Ohrfeigen, noch gebraucht man Ausdrücke, die einem Menschen von Anstand und
Erziehung jede entschuldigende Erwiderung unmöglich machen. Was die 20 M.
betrifft die Sie meinem Bruder geliehen, so kann ich von meinem Bruder kaum
glauben, daß er Sie darum gebeten hat. Vermutlich haben Sie sie ihm aus eigenem Antriebe angetragen. Das th
Und nun zu etwas anderem, worauf ich Imichte ct. e. ct. Dementgegen bitte ich Sie, mir
zu bestätigen, daß ich alle | Correspondenz, die mir vorlag, umgehend erledigt
habe, daß ich durchschnittlich täglich mindestens ein Stück auf seine
Aufführbarkeit geprüft habe und daß ich auf der Bühne zu keinerlei Klagen
Veranlassung gab. Es hat Sie freilich immer geärgert
daß ich nicht von früh bis spät wie ein treuer Hund zu Ihren Füßen lag, um durch
meine bloße Anwesenheit zu Ihrer Glorificierung als DirectorGeorg Stollberg wurde als neuer Direktor des Münchner Schauspielhauses – mit der Eröffnung der neuen Spielzeit am 7.9.1898 dank der finanziellen Konsolidierung des Theaters – gefeiert. beizutragen; aber
was kann es Ihnen nützen, jetzt nach meiner AbreiseWedekinds Flucht aus München am 30.10.1898 nach Zürich, um der drohenden Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung zu entgehen (wegen seines Gedichts „Im heiligen Land“ am 25.10.1898 im „Simplicissimus“). mein Andenken in München zu
verunglimpfen.
In Ihrem 6seitigen BriefWedekind hat den Umfang von Georg Stollbergs Brief an ihn vom 18.11.1898 (siehe oben) acht Tage später übertrieben mit „10 Seiten“ [Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 29.11.1898] angegeben. verwenden Sie drei
Seiten auf die Schilderung alles dessen, was Sie für meinen Bruder gethan
haben. Ich bitte Sie, mir zu bestätigen, daß
Sie nichts für ihn gethan haben. Das Einzige was Sie für ihn
hätten thun können, nämlich ihm die SecretärstelleDonald Wedekind hat dem vorliegenden Brief zufolge die Stelle als Sekretär am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) nicht von seinem Bruder Frank Wedekind übernommen, der sie mit seiner Flucht aus München am 30.10.1898 notgedrungen hatte aufgeben müssen. Georg Stollberg war offenbar nicht bereit, wie Frank Wedekind auch an anderer Stelle konstatierte, „den Posten“ mit seinem Bruder Donald Wedekind „neu zu besetzen“ [Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 14.11.1898]. übergeben haben Sie nicht
gethan. Ich weiß nicht welche | Fähigkeiten mein Bruder für eine StellungGeorg Stollberg scheint Donald Wedekind für eine Stelle bei der Bayerischen Bank in München (Maximiliansplatz 5) empfohlen zu haben. fsgethan hätten. Sie haben ihm in einem unglücklichen
Augenblick 20 Mark aufgedrängt. Das ist alles was Sie für ihn gethan
haben.
Ich habe wie gesagt noch durch niemand als durch Sie von dem Vorfall Kenntniß erhalten. Wenn ich aber
von meinem Bruder höre, daß Herr und Frau Schmederer durch Sie von der Sache
unterrichtet worden sind, dann werde ich mich durch Ihre über|triebene
Darstellung für berechtigt halten, Herrn SchmedererCajetan Schmederer in München (Wagmüllerstraße 23) [vgl. Adreßbuch für München auf das Jahr 1899, Teil I, S. 478], Gutsbesitzer, Mitinhaber der Aktienbrauerei Gebrüder Schmederer und Mäzen, in zweiter Ehe mit Marie Schmederer (geb. Neubauer) verheiratet, hat bei dem Wechsel der Direktion des Münchner Schauspielhauses im Sommer 1898 von Emil Drach zu Georg Stollberg die entscheidende Rolle gespielt, da er durch seine Geldmittel den finanziellen Ruin des Theaters abwenden und es unter dem neuen Direktor weiter existieren konnte. Retrospektiv heißt es, er sei „der rettende Lotse“ gewesen, der „das gefährdete Boot in den ruhigen Hafen“ gebracht habe, „Herr Cajetan Schmederer, ein wohlhabender und wohlwollender Münchner Kunstmäcen“ mit „dem weiten Blick des Großkaufmanns“ [Siegried Raabe: Ein Münchner Theaterdirektor. Erinnerungen an I.G. Stollberg. In: Münchner Neuester Nachrichten, Jg. 79, Nr. 87, 28.3.1926, S. 3]. Cajetan Schmederer übernahm dann neben Georg Stollberg die Direktion des Münchner Schauspielhauses [vgl. Neuer Theater Almanach 1900, S. 158] – „in den ersten Tagen des Jahres 1899“ trat der „tatkräftige Protektor des Theaters [...] offiziell in die Direktion desselben“ [Das Münchener Schauspielhaus. Denkschrift zur Feier der Eröffnung. Hg. vom Baugeschäft Heilmann & Littmann G.m.b.H. München 1901, S. 1] ein; er sorgte dann auch für den am 20.4.1901 eröffneten Neubau des Münchner Schauspielhauses (und somit für den Umzug von der Neuturmstraße 1 in die Maximilianstraße 35). meine Auffassung der
Angelegenheit mitzutheilen.
Mit dem Vorwurf, mein Bruder habe keine Erziehung
werden Sie bei niemandem, der ihn näher kennt
Glück haben. Er selber hat sich mit Trunkenheit entschuldigen wollen. Ich
erkläre mir seine Ungezogenheit einfach auchUm
Mein Bruder wird Ihnen keine Genugthuung
versagen, wenn er weiß daß sie anständig entgegengenommen wird. Und ich halte
es auch jetzt noch für das klügste Ihrerseits, um jedes Geschwätz
niederzuschlagen, daß Sie sich mit ihm aussöhnen, und weiter mit ihm verkehren
nota bene(lat.) merke wohl = wohlgemerkt, übrigens., ohne noch etwas „für ihn zu thun“ ‒ denn so dringend hat er das schließlich auch
nicht nötig, daß ganz München davon zu erfahren braucht.
Sie schreiben mir, Sie hätten die | Acten über
meinen Bruder geschlossen, er existire für Sie nicht mehr. Darauf kann ich
Ihnen nur das eine antworten, daß ich in diesem Falle die Acten über Sie
geschlossen habenSchreibversehen, statt: habe. und Sie für mich nicht mehr existiren. Ich kann doch
unmöglich mit jemandem im Verkehr stehen, der es für schimpflich hält mit
meinem Bruder, noch dazu mit einem Bruder, den ich sehr lieb habe zu verkehren.
Ich wiederhole Ihnen, Herr Stollberg, überlegen Sie sich die Sache kalten
Blutes und geben Sie meinem Bruder Gelegenheit, Ihnen
zu zeigen, daß er nicht derjenige ist, für den Sie ihn halten.
Sie schließen Ihre Zeilen mit der Versicherung,
daß Sie meinem neuemSchreibversehen, statt: neuen. Drama das grtrotz desmüssen, ob unsere Beziehungen nun
die alten sind oder nicht.
Trotzdem hoffe ich, daß sie es bleiben werden.
Ihrer verehrten Frau Gemahlin sprechen Sie bitte mein tiefstes Bedauern über
den Vorfall aus. Aber legen Sie bitte
zugleich bei Ihrer Frau Gemahlin sowol wie bei sich selbst ein gutes
versöhnendes | Wort für meinen Bruder ein. Wenn Sie das nicht thun wäre ich
gezwungen, ihn in München durch Empfehlungen derart
gesellschaftlich zu stützen, was mir nicht schwer fallen würde, daß die von
Ihnen ausgehenden Anklagen gegen ihn wirkungslos blieben. Ich hoffe indessen
trotzdem, daß Sie sich bei ruhiger Überlegung noch zu ersterem entschließen
werden und bin mit herzlichen Grüßen an Ihre Frau Gemahlin und Sie
Ihr Ihnen treu ergebener
Frank Wedekind.
Zürich, 21. Nov. 98.
Leonhardstraße 12.II.