22./3.14.
Lieber Herr Wedekind!
Danke herzlichst für den so lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Friedrich Strindberg, 20.3.1914., der mir eine
ungeheuer große Freude bereitet hat!
Danke Herrn Wedekind vielmals für die/a/s GeldWedekind hatte Friedrich Strindberg 20 Mark per Postanweisung geschickt, wie der Einlieferungsschein belegt [vgl. Wedekind an Friedrich Strindberg, 20.3.1914]., das –
bitte Herr Wedekind verzeihen – doch nicht nötig war! Zwar habe ich mich schon
seit etwa 8 Jahren nimmer abknipsenumgangssprachlich für: fotografieren; Wedekind hatte seinem Sohn das Geld für Fotoaufnahmen geschickt: „An Friedrich für Photographien“ [Kontobuch, 20.3.1914]. lassen, und daher danke ich Herrn Wedekind
nochmals! Ich kann aber leider die Photographien erst zu OsternWedekind hatte seinen Sohn vermutlich schon bei dessen Aufenthalt in München über Weihnachten und Silvester 1913 [vgl. Tb] zu einem Osterbesuch eingeladen. Der Ostersonntag fiel auf den 12.4.1914. Friedrich Strindberg besuchte Wedekind am 4. und 5.4.1914. mitbringen, da
ich sie erst Freitags den 3. April – auf Drängen – bekomme. Samstags aber den 4. habe ich im Sinne von
hier abzureisen, aber hoffentlich gelingt es mir von hier direkt, der
freundlichen Einladung folgend, nach München zu dam|pfenumgangssprachlich für das Reisen mit der Bahn oder dem Dampfschiff., was aber das eine n/N/achseitigeSchreibversehen, statt: Nachteilige.
hat, daß ich etwa bis in die letzten Augenblicke nicht total sicher weiß, wann
ich von hier wegkomme! Vielleicht ist es mir möglich den Zug um 9. – benützen,
daß ich in München wieder um 12.20 bin, wenn nicht, so komme ich
höchstwahrscheinlich erst um f 5h an.
Möglich ist aber immerhin noch, daß ich zuerst zu Großmama
fahren muß (wegen irgend einer Kleinigkeit) und dann könnte ich erst Sonntags
1220 kommen. Was sein wird, werde ich Herrn Wedekind nächsten
Sonntag noch genau mitteilen. Daß Herr Wedekind etwa gar in Zürich oder
Stuttgart oder Darmstadt spielenWedekind hatte in der Folgezeit in den genannten Städten lediglich in Stuttgart ein Gastspiel (am Königlichen Hoftheater vom 18. bis 21.4.1914). Friedrich Strindberg begleitet ihn dabei nicht, sein Vater hatte aber anscheinend von einer solchen Möglichkeit geschrieben. und ich sogar mit Herrn Wedekind dort
hinreisen könnte, bereitet mir riesige Freude, sehe ich doch (wieder) einmal das schöne Schwaben oder
gar den Züricher See. Beides bedeuten für mich Freuden, die ich mir vor einem JahreFriedrich Strindberg hatte seinen Vater erst vor einem halben Jahr kennengelernt. Er nahm am 14.9.1913 telefonisch zu ihm in Berlin Kontakt auf und traf sich anschließend dort zwei Tage mit ihm – die erste Begegnung seit Wedekinds Besuchen bei der Mutter Frida Strindberg und dem Säugling in Tutzing im Juli 1898 [vgl. Wedekind an Beate Heine, 19. und 27.7.1898]. nicht
träumen ließ! Überhaupt: das in der Welt h/H/erumkommen zählt bei mir zu
den schönsten Begriffen, die ich kenne.
Und noch dazu mit oder bei Herrn Wedekind! Beides gleich
wert, und doch mir das liebste.
Bei uns gibt es wenig Abwechslung, kaum daß man hört, was
draußen in der Welt Großes & kleines vorgeht, was sich ereignet u. die
übrigen Menschen erregt. Hier behauptet man der Krieg steht vor der Türe, das Kaiserhaus feiert noch
schnell seine Silberhochzeitenim übertragenen Sinne für die Selbstbezogenheit des Herrscherhauses. Die letzte als „Kaiserfest“ aufwendig gefeierte Silberhochzeit des Hauses Habsburg war die zwischen Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth im Jahr 1879. und der Spießbürger genießt seine doppelte
Quantität Bier oder Fusel: ein lauter Zeichen mit großen Vorbedeutungen,
alles deutet auf einen Weltkrieg. Zwischen welchen Mächten aber liegt noch im
Schoße der armen GötterRedensart für: ungewiss sein..
Sonst – noch zu WeihnachtenFriedrich Strindberg hatte seinen Vater in München vom 23.12.1913 bis 1.1.1914 besucht [vgl. Tb]. – war ich dem Genuße des
Alkohols etwas abgeneigt, aber Herr Wedekind werden staunen, wie sehr man sich
ändern kann! Im Sommer litt ich noch oft an verderblichen Seelen- (oder
richtiger Kehlen-)qualen, aber im Winter verdorrte der Gaumen. Nun kann ich (kau d) kaum die enorme Menge Wasser
achten, die ich bei dem hiesigen Gänseweinscherzhaft für: Trinkwasser.zwang ver|schlinge. Im Rauchen habe
ich mich sogar auch entwickelt und statt einer Zigarette begnüge ich mich –
allerdings auch nur hier – mit einer unaesthetischen Pfeife, wie sie bei
uns üblich ist! Nun ja! Ganz abenteuerlustig wird man jetzt im Frühling, der
hier mit jedem Tage
immer mehr und immer schöner zum Ausdruck kommt, jeden Baum sucht man solange
ab, bis man die erste Knospe gefunden, jede Wiese nach Schneeglöcklein oder
blauen Veilchen. Der englische Gartenseit 1789 bestehender großer öffentlicher Park im Nordosten von München am Westufer der Isar. Wedekinds Wohnung in der Prinzregentenstraße 50 befand sich in unmittelbarer Nähe zur Südspitze des Parks. muß ja jetzt auch recht nett sein!
Herzlichen Dank auch nochmals für alles, herzliche Grüße den
lieben Kleinen, Handküsse der gnädigen Frau Gemahlin
in Liebe
Friedrich Strindberg