Mondsee 17.2.14.
Lieber
Herr Wedekind!
Danke herzlichst für den lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Friedrich Strindberg, 13.2.1914.. Ich bin heute bei
Großmama in Mondsee, schon seit Samstag. Heute, Mitt Dienstag (woch) gehts wieder abFriedrich Strindberg besuchte als Internatsschüler die Lehr- und Erziehungsanstalt für Schüler der Mittelschulen von Josef Tschurtschenthaler in Salzburg..
Ich erzählte wohl schon seinerzeit Herrn Wedekind von meinem
BriefFriedrich Strindbergs Brief an Richard Dehmel und dessen Antwortschreiben sind nicht nachgewiesen. an Dehmel, der nun auch Wirk wirklich Sonntag (8.2.) abging. Schon
Donnerstag erhielt ich eine
entsetzlich freundliche Antwort, über die ich ungemein erfreut war.
Mit der PrüfungNeben der obligatorischen „Prüfung am Schlusse des Schuljahres“ sah der „Erlaß des Leiters des Ministeriums für Kultus und Unterricht vom 2. Jänner 1909, Z. 51190 ex 1908, an alle Landesschulbehörden, betreffend die Prüfungen der Privatisten an Mittelschulen“ vor, „auf Wunsch der Eltern oder Vormünder die Privatisten allenfalls auch am Schlusse des ersten Semesters zu einer Prüfung über den Lehrstoff dieses Semesters zuzulassen“ [Verordnungsblatt für den Dienstbereich des k. k. Ministeriums für Kultus und Unterricht. Jg. 1909, Stück 2, Nr. 2, Wien 1909, S. 32], um so ein Zwischenzeugnis zu erhalten. ists nichts geworden; S/s/ie hat gar
keinen Einfluß auf MaturaReifeprüfung nach einer höheren Schulausbildung, die ein Hochschulstudium ermöglicht. oder Universitätsstudium und ist nichts anders | als
ein Examen über den Semesterstoff, nach dessen Ausgang wir ein entsprechendes
Zeugnis erhalten. Nun aber genügt nach neuen Vorschriften, die mir zu
WeihnachtenFriedrich Strindberg hatte Wedekind vom 23.12.1913 bis 1.4.1914 in München besucht [vgl. Tb]. Seither war die Vorbereitung auf die bevorstehende Semesterprüfung wiederholt Gegenstand seiner Briefe [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 11.1.1914 oder 18.1.1914]. noch
unbekannt waren, die Prüfung am Jahresschlusses.
Zu Ostern haben wir die 2. Woche im April ungefächr
frei. Näheres wird leider erst später bekannt gegeben.
Welch ungeheure Entwicklung ich zu Weihnachten durchgemacht
habe, davon zeugt ein kleines Stücklein, das ich schrieb. Herrn Wedekinds RatFriedrich Strindberg hatte Wedekind am 26.12.1913 in München sein Theaterstück „Triton“ vorgelesen und offenbar von Wedekind die Empfehlung bekommen, an dem Stück vorläufig nicht weiterzuarbeiten [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 2.1.1914].
gemäß „Triton“ (den „Schmachtfezen“Schreibversehen, statt: Schmachtfetzen; rührseliges Werk. wie ihn ein scharfer Beurteiler nannte) liegen zu lassen
und an nichts so Großem mehr mich zu versuchen, schrieb ich ein kleines
Stücklein „Menschentumrecht.“, wie man | es heute nannte.
Eine unnatürliche Geschichte von einem Mann der so ist wie er „sein soll“, von
seiner 2. Frau die eben nicht so ist, wie sie „sein soll“,
von seinem Sohn, dessen Jugend 20
J. natürlicherweise
zwischen die Ehegatten tritt und die Frau ihrem Mann entreißt, nur weil es ihm
eben in seiner hi/y/sterischen LauneNicht nachvollziehbare Stimmungswechsel und unmotivierte Handlungen zählten zum zeitgenössischen Krankheitsverständnis der Hysterie. gelegen ist; der Mann, sein Vater
erleidet nun Schlag auf Schlag: sein Liebchen, eine unnatürlichehier: unehelich geborene. Kellnerin
fühlt sich seinetwegen „in anderen Umständen“verhüllend für: schwanger sein. Franziska im gleichnamigen Drama zu Beginn der 4. Szene im 3. Bild des 2. Aktes zu Veit Kunz: „Jetzt ist es aber allerhöchste Zeit, daß ich dir etwas gestehe. Ich bin in anderen Umständen.“ [KSA 7/I, S. 259], wie es in „Franziska“ heißt. Er
ist in der Weinstube
(als deren Urbild ich die TorgglstubeDie Torggelstube, ein Stammlokal Wedekinds, besuchte Friedrich Strindberg mehrfach mit seinem Vater während seines München-Aufenthalts Ende 1913, erstmals am 25.12.1913: „Dann T.St. mit Fritz und Mühsam“ [Tb]. nahm) und feiert Silvester, als er von
dem Streich seiner Frau Kenntnis erhält; da er zu hauseösterreichisch für: nach Hause. kommt bricht sein Sohn
Knorpel vonund
Knorpel von seinem RückkratSchreibversehen, statt: Rückgrat., | bis ihn der Selbstmord der entsetzlich „alten“
Kellnerin das Messer in den Bauch stößt. Seine Frau und sein Sohn leben von da
an zusammen und der letzte von den 5 Akten schildert ihren Untergang. Nun zog ich für die Frau,
die an allem möglichen und unmöglichen leidet (sie ist infiziertmit einer Geschlechtskrankheit angesteckt; zeitgenössisch verbreitet waren v.a. Gonorrhö und Syphilis., da sie für
ihren Stiefsohn = 2. Gatten erwerben mußte) d einen symbolischen Tod vor
und wagte in einem Vergleich den Gegensatz zwischen Jugendsturm und
Wirklichkeit anzudeuten, indem ich eine Hexenbande einführte; auf der Bühne
sollte es ungeheuer wirken, allein schon wegen der Gestalten, die wild &. toll um die tote Frau
einen Cancanin französischen Varietés von Frauen mit Beinwurf und Sprung dargebotener erotisch konnotierter Tanz im schnellen 2/4-Takt. tanzen; Jugend!).
Um aber ganz offen meine Meinung zu skizzieren (nur in so
feinen Strichen, |
2.
daß man sie kaum sieht), ist der Ausgang Ironie. Die Frau
schleppt sich trotz
ihrer entsetzlichen Schmerzen zur Flasche in der andern Matratzengruftdurch Heinrich Heine im Nachwort zu seiner Gedichtsammlung „Romanzero“ (1851) geprägte Bezeichnung für ein jahrelanges Krankenlager.ecke und
endet dabei, der Mann (Sohn) übergibt sich den Richtern, nachdem ein Dialog mit
der toten Frau vorhergegangen ist und er einsieht, daß er etwa so, wenn auch
auf herostratische Weisein französischen Varietés von Frauen mit Beinwurf und Sprung dargebotener erotisch konnotierter Tanz im schnellen 2/4-Takt. berühmt werden könne.
Obwohl die natural. Bühnentechnik den Monolog verwarfIn der Dramaturgie des Naturalismus war der Bühnenmonolog verpönt. Alfred Kerr nannte in seiner Beschreibung der „Technik des realistischen Dramas“ an erster Stelle den „Wegfall des Monologs“ und konstatierte: „das Ersatzmittel ist die Pantomime“ [Alfred Kerr: Das neue Drama. Berlin 1905, S. 296]. , habe ich ihn
angewendet, ja er
füllt eine ganze Szene aus. Das Theater darf doch nicht zur Pantomime
herabsinken: dazu ist das KinoDer Tonfilm entstand erst in den 1920er Jahren. Bis dahin galt die Sprachlosigkeit des Films als entscheidendes Differenzkriterium zum Theater.. –
Auch habe ich mich entsetzlich von leeren Worten gehütet,
von denen es im „Triton“ | wimmelt. Das ganze sieht schrecklich ernst aus! Nach
Herrn Wedekinds Rat muß man vor dem Schildern erleben. Unreif wäre es sehr,
wenn es unwahrscheinlich wäre, sei es in Wort oder Tat. Doch ich tat nichts anderes, als aus
den Charakteren Konsequenzen zu ziehen und aus diesen wieder nur die Schläge
heraus zu holen. Um nicht in eine (unn) widernatürliche Situation zu verfallen, wählte ich eine
feste Grundlage, auf der ich aufbaute, die aber nichts andres ist, als eine
undeutliche Photographie, die Herr Wedekind leicht erkennen werden und
darum bitte ich mir
nicht deshalb zu zürnen!
Um ja nicht auf falsche Fährte zu kommen, nahm ich sogar (wie) nach altem Goethe-BeispielVor allem in seinen frühen Werken hat Johann Wolfgang Goethe die Figurenrede mit sprachlichen Eigenheiten der realen bzw. historischen Personen gestaltet, die ihm als Vorbilder dienten, und verwendete Redewendungen, Regionalismen und Mundart; prominent vor allem im „Götz von Berlichingen“ (1773) und in „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774). von
den Personen, | die ich mir verkörpert dachte, Redewendungen, ich verschonte
niemandDie genannten Personen hatte Friedrich Strindberg kurz zuvor während seines Weihnachtsaufenthalts vom 23.12.1913 bis 1.1.1914 bei Wedekind in München kennengelernt [vgl. Tb]. (auch nicht Herrn Dr. Friedenthal, nicht Frl. Marion, nicht H. Mühsam, der bei mir g/G/raulich heißt und nicht Herrn v.
Gumpenberg); mein gutes Gedächtnis half mir fi viel und dies kleine
Stücklein ist insgesamt so groß wie „Triton“
aber viel knapper, viel mehr Handlung und eigentlich sind es
nur 5 kleine Arbeiten, denn sie hängen ziehmlich lose zusammen und
könnten als Einakter auch existieren.
Zum
Schluß bitte ich Herrn Wedekind mir diese Verkörperungen nicht übel zu nehmen,
es geschah doch schließlich mehr unbewußt als bewußt und ich bin bereit sie,
wenn es sein sollte, auszumerzen. Jeden|falls freue ich mich darauf dies
Werklein, wenn es möglich wäre, zu Ostern vorzulesenWedekind notierte am 5.4.1914 im Tagebuch: „Er liest mir sein Drama ‚Menschenrecht‘ vor.“ Friedrich Strindberg hatte seinen Vater am Wochenende vor Ostern in München besucht., es sei ja von vollem
Herzen Herrn Wedekind gewidmet!
Großmama bittet mich Herrn Wedekind die besten, herzlichsten
Grüße zu übermitteln und herzliche Empfehlungen an dieder gnädigsten Frau. Sie würde sich sehr freuen, wenn Herr
Wedekind heuer im Sommer in den Monaten Juli August bis zu Mitte September sie besuchenÜber einen Besuch Wedekinds in Mondsee ist nichts bekannt. wollten auf eine Zeit lang mit der gnädigsten
Frau.
Herzliche Grüße,
bitte der gnädigen Frau die besten Handküsse zu vermitteln so wie den Kindern
die besten Grüße
in dauernder Liebe
Friedrich Strindberg