Kennung: 2480

München, 8. August 1912 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Münchner Neueste Nachrichten, (Zeitung)

Inhalt

Hochverehrliche Redaktion! Darf ich Sie höflichst ersuchen, Ihren verehrten Lesern mitteilen zu wollen, daß ich mein Mysterium „Franziska“ vom Münchner LustspielhausDas Lustspielhaus (Direktion: Eugen Robert) war inzwischen umbenannt worden in Kammerspiele (eröffnet am 1.7.1911) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1913, S. 554]. „Franziska“ wurde dort am 30.11.1912 unter der Regie von Eugen Robert mit Frank und Tilly Wedekind in den Hauptrollen uraufgeführt (geschlossene Vorstellung ohne Streichungen) [vgl. KSA 7/II, S. 1156]. zurückgezogen habe, da das Drama behufs Freigabe ohne mein Wissen von der DirektionEugen Robert reagierte auf Wedekinds offenen Brief in einem offenen Brief an die „Münchner Neuesten Nachrichten“ [vgl. KSA 7/II, S. 1180f.; KSA 8, S. 638]. Er lautet: „Sehr verehrte Redaktion! Bevor noch das Münchener Lustspielhaus die Annahme des Mysteriums ‚Franziska‘ ankündigte, glaubte Herr Frank Wedekind der Oeffentlichkeit mitteilen zu müssen, daß er das Werk zurückgezogen hat. Diesen Unterschied im Reklamebedürfnis betone ich nur, weil mir für die tatsächlichen Unrichtigkeiten des Wedekindschen Briefes jede vernünftige Erklärung fehlt. Es ist nämlich unwahr, daß ich die gestrichene Fassung der Franziska ohne Wissen des Dichters der Zensurbehörde eingereicht habe; ich habe lediglich die Streichung des dritten Bildes der Behörde anheimgestellt – und zwar mit wiederholter ausdrücklicher Zustimmung des Herrn Wedekind. Die Striche der Polizeidirektion halte ich persönlich für unwesentlich; von einer Verstümmelung oder Verunstaltung kann keine Rede sein; diese Striche sind nicht annähernd so wichtig, als etwa die, die Herr Wedekind selbst in ‚Oaha‘ vorgenommen hat. Doch über diesen Punkt könnte er anderer Meinung sein – wenn er nicht auch mit diesen Strichen der Franziska einverstanden gewesen wäre. Er hat aber die Striche der Polizeidirektion zur Kenntnis genommen, und hat sich hinterher wochenlang über alle Vorarbeiten der Inszenierung unterrichten lassen. Um ein einziges Beispiel zu nennen: er hat in allen Einzelheiten den Verhandlungen zugestimmt, die ich mit Ferruccio Busoni über die begleitende Musik führte. Ich muß es wiederholen: nachdem Herrn Wedekind sämtliche Striche bekannt waren. Es ist auch kein Wort von den Unstimmigkeiten wahr, die mein angebliches Vorgehen zur Folge haben sollten. Es bestand zwischen ihm und mir bis zur Veröffentlichung seines Briefes nicht die leiseste Differenz. Trotz alledem: wenn Herr Wedekind wünscht, daß sein Werk in der von der Zensurbehörde genehmigten Form nicht zur Aufführung gelangt, so läßt sich mit mir darüber reden. (Nicht in der Oeffentlichkeit; und nicht in diesem Ton; aber immerhin: man hat vor dem Dichter Wedekind auch dann noch Respekt, wenn der Mensch Wedekind einen – wie soll man das nur höflich ausdrücken? – durch eine lenkbare Gedächtnisschwäche überrascht.) Den schroffsten juristischen Standpunkt müßte ich jedoch vertreten, wenn Herr Wedekind der Ueberzeugung sein sollte, daß seine gestrichene Franziska im Münchener Lustspielhaus eine Verstümmelung, in einem anderen Münchener Theater aber ein Kunstwerk sei. In vorzüglicher Hochachtung! Dr. Eugen Robert.“ [Frank Wedekinds „Franziska“. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 65, Nr. 405, 10.8.1912, Morgenblatt, S. 2] in einer völlig verstümmelten, verunstalteten Form der Zensurbehörde eingereicht wurde, die es erst nach Vornahme noch weiterer Verstümmelungen freigab. Leider veranlassen mich die Unstimmigkeiten, die dieses Vorgehen der Direktion zur Folge hatte, mich auch meiner weiteren persönlichen MitwirungDruckfehler, statt: Mitwirkung. bei der AufführungWedekinds „Oaha“ (am 20.12.1911 durch den Neuen Verein in den Münchner Kammerspielen unter der Regie von Eugen Robert mit Wedekind als Georg Sterner in geschlossener Vorstellung uraufgeführt) wurde in einer von Eugen Robert bei der Zensurbehörde eingereichten und genehmigten Fassung, auf die er sich mit Wedekind geeinigt hatte, am 6.8.1912 in den Münchner Kammerspielen erstmals in einer öffentlichen Vorstellung gezeigt (Regie: Eugen Robert; Wedekind spielte Georg Sterner); des vorliegenden offenen Briefs wegen wurde das Stück abgesetzt, dann aber ohne Mitwirkung Wedekinds am 2.10.1912 wieder in den Spielplan aufgenommen [vgl. KSA 8, S. 609]. meines Schwankes „Oaha“ zu enthalten.

Da die Zurücknahme des Stückes aus rein künstlerischen Gründen erfolgte, glaube ich mit ihr in meinem vollen Rechte zu sein.

Indem ich Sie ersuche, den Ausdruck vorzüglichster Hochschätzung entgegennehmen zu wollen
Ihr ergebenster
Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

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Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert. Die Redaktion der „Münchner Neuesten Nachrichten“ versicherte zu diesem Druck, sie habe den „Wedekindschen Brief [...] in der Form, in der er uns zuging“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 65, Nr. 405, 10.8.1912, Morgenblatt, S. 2], veröffentlicht.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Schreibdatum und Schreibort sind durch das Tagebuch belegt. Wedekind hielt am 8.8.1912 die Niederschrift des offenen Briefes fest, den er persönlich überbracht hat: „Schreibe Notizen an die Presse, die ich überbringe“ [Tb].

Erstdruck

Münchner Neueste Nachrichten

Verlag:
München: Knorr und Hirth
Kommentar:
Detaillierter Nachweis: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 65, Nr. 403, 9.8.1912, Morgenblatt, S. 2. – Der offene Brief ist unter der Rubrik „Theater und Musik“ abgedruckt, eingeleitet mit den Worten: „Frank Wedekind schickt uns folgenden Brief:“ (er ist Anführungszeichen wiedergegeben) ‒ Wedekind hat ihn auch der „Münchener Zeitung“ zukommen lassen [vgl. Wedekind an Münchener Zeitung, 8.8.1912], wo er im Wortlaut leicht variiert. Die „Vossische Zeitung“ (Berlin) referierte ihn und brachte ein Zitat unter Hinweis auf die „Münchner Neuesten Nachrichten“ [vgl. Vossische Zeitung, Nr. 404, 10.8.1912, Morgen-Ausgabe, 3. Beilage, S. (10)]. Einen vollständigen Nachdruck des offenen Briefes (den Druckfehler korrigiert) brachte unter Hinweis auf die Quelle das „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ mit einleitenden Worten über Wedekind: „Er liebt das Gewaltige, Grausige, das Unbändige, und er schleudert deshalb Blitz auf Blitz. Wir wissen dies, und doch sind wir manchmal überrascht von seiner Impulsivität. Daß er dem Lustspielhaus, das sein ‚Oaha‘ durchgesetzt, den folgenden Absagebrief in den M.N.N. bereitete, hat auch seine Anhänger erstaunt:“ [Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 79, Nr. 221, 21.9.1912, S. 11084]. ‒ Der Text wurde unter dem Titel „Mein Mysterium Franziska“ ediert [vgl. KSA 5/II, S. 462; KSA 5/III, S. 570f.].
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an (Zeitung) Münchner Neueste Nachrichten, 8.8.1912. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
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Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

28.02.2022 18:51