Kennung: 2417

Salzburg, 1. November 1913 - 4. November 1913, Brief

Autor*in

  • Strindberg, Friedrich

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Salzburg 1.XI.13.


Liebster Herr Wedekind!

Herzlichsten Dank für die/en/ lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück Wedekind an Friedrich Strindberg, 27.10.1913., der mich zur geeignetsten Zeit antraf, um mich etwas zu heben. Bitte zu entschuldigen wenn mein Dank etwas spät eintrifft, ich erwartete mit steigendem Interesse den leider bis jetzt nicht eingetroffenen „SimsonDer Erstdruck „Simson oder Scham und Eifersucht. Dramatisches Gedicht in drei Akten von Frank Wedekind“ [KSA 7/II, S. 1274] im Verlag von Georg Müller lag vordatiert auf 1914 bereits im Spätsommer als Neuerscheinung vor [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 80, Nr. 215, 16.9.1913, S. 9278]..

Wenn ich etwas vieleichtSchreibversehen, statt: vielleicht. kleinliches schreibe, so tuheStreichung des überzähligen Buchstabens mit Bleistift. ichs, da es doch tiefen Eindruck auf mich machte. Wegen einer kleinen, unritterlichen Rauferei – und dies ist leider manchmal nötig um sich unter | den Kameraden Achtung zu verschaffen – ging es einem unschult/d/igen Pult zu Leibe, das vor Schmerz zusammenbrach. Diesen Tat trug mir den Zorn des Gebieters ein, der meine NachhausefahrtDas Verbot wurde offenbar wieder aufgehoben, wie die von Friedrich Strindberg am 3.11.1913 in Mondsee aufgegebene Postkarte belegt [vgl. Friedrich Strindberg an Frank Wedekind, 3.11.1913]. ins nahe Mondsee verbot. Zu letzterem wurde er auch durch Aufdeckung eines nächtlichen Schmauses veranlag/ß/t, bei dem ich aber gar nicht beteiligt war.

Nun liegt mir an meiner Reise nach Mondsee riesig viel daran. Das Wiedersehen mit der Schwester meiner GroßmamaFriedrich Strindbergs Großtante Melanie Samek war die Zwillingsschwester von Marie Uhl und lebte im oberösterreichischen Klam. Er kannte sie aus seinen Kindertagen, die er im benachbarten Dornach und Saxen verbrachte. freute mich und dann, obwohl ich kaum sehr pietätsvoll veranlagt bin, nämlich von fremden Leichen, die Überreste meines GroßvatersFriedrich Strindbergs Großvater Friedrich Uhl war am 20.1.1906 in Mondsee gestorben. Strindberg bezieht sich hier vermutlich auf den in katholischen Regionen üblichen Brauch, an Allerseelen (2.11.) die Gräber der Verstorbenen zu besuchen. wollte ich noch gerne sehen. Und wie ich leider oft von Extrem ins Extreme falle so lag ich – viel lag mir nie an Religion – jetzt da es sich um Erfüllung eines Wunsches handelte, im Bett und rang unter den quälendsten Empfindungen (im Bett), vergaß all dessen, das mich sonst | nicht nur lebenslustig, sondern lebens,/-/ ich möchte sagen, zukunftsgierig machte und rang nach einstigem, vielleicht still irgendwo vergessennem Glück, oder zu bezeugen, daß ich ein Mensch bin; und nach meiner Überzeugung ist nur der Mensch, der Phantasie und Kunst gepaart mit Lebensmut im Hirn vereinigt hat! Ob ichs hab weiß ich selber nicht; obwohl noch jung, verzweifle ich so oft an mir: ob ich das werden kann, was ich anstrebe. Meine sonst so liebe Großmama ist, ich kann es sagen, ohne undankbar gegen sie zu erscheinnen, leider etwas überreligiös und das ist bei alten Frauen häufig. Auch hat sie, über was ich zwar nicht sprechen, noch weniger schreiben sollte einen ganz sonderbaren Ansicht über manche Dinge. So kam es, daß ich eigentlich bis jetzt außer kurzen Zeiten und die waren voll pochendem Herzen, nie eine Seele hatte der ich vertrauen konnte. So bildete ich meine | Ansichten ziehmlich frei heran. Da ich niemand hatte, dem ich mich ausspechenSchreibversehen, statt: aussprechen. konnteStreichung der ö-Punkte als Sofortkorrektur durch Friedrich Strindberg., hatte ich auch keinen Geist, denn die übrigen waren mir f/v/iel zu viel vom Alltagsrauch beschmutzt als daß mit ihnen zu disputieren wäre. Und ich nahm das Beste ihrer Phantasie, wenn sie solche hatten und speicherte sie bei mir aus/f/Überschreibung mit Bleistift ausgeführt.. Und wenn dann genügend aufgespeichert war, um 20 Kameraden verrückt zu machen dann brach es hervor und da mir jenerSchreibversehen, statt: jenes. Vertrauen fehlte, so suchte ich es mir in den höheren Sphären und wurde still religiös. Spotten war nie mein Fach, auch suchte ich mir nie Ausreden zu Zweifeln, denn mir kamen sie alle nur vor wie neue Beweise alter Abgeschmacktheit. Und das eckelhafteste ist die sachliche Beweisführung! Wollen sie beweisen, was damals gewesen oder nicht! |

2.Nummerierung des zweiten Doppelblattes durch Friedrich Strindberg.


Gut kann nur e/E/ines sein: Das Zweifeln wenn man die Wahrheit vor Augen liegen hältSchreibversehen, statt: vor Augen hält (oder: vor Augen liegen hat)., denn so LessingWie zuvor schon [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 12.10.1913] bezieht sich Friedrich Strindberg hier auf eine Stelle in Lessings theologiekritischen Schriften: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke, und sagte: Vater, gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“ [Gotthold Ephraim Lessing: Eine Duplik. Braunschweig 1778, S. 11].: Und wenn du alle Wahrheit in der R/r/echten, und das Streben nach Wahrheit mit dem Zusatze auf immer zu irren, in der linken, ich griffe freudig nach der Linken, denn die echte Wahrheit, Vater, ist ja doch nur für Dich allein.

Und wenn auch die Wunder Tatsachen sind, darf ich, ein Mensch, sie nie sehen und soll ich mich zwingen doch zu glauben?

Leider Gottes habe ich mich jetzt in ein Gebiet verirrt, in das ich leicht hineingerate und nur schwer mehr heraus. So ist mir das Lernen in der Schule nur die Quelle zu kleinen Privatstudien, denen meistens kleine Abhandlungen entspringen. So jetzt: „Zarathustra und Hellasnicht überliefertes Manuskript.“ ein Vergleich beider Religionen als Basis der Pantheismus. | Selten findet man in der alten Literatur moderne Epen. Doch ein solches fand ich im A/a/ngelsächsischen Beowulfepisches Heldengedicht in angelsächsischen Stabreimen aus dem 8. Jahrhundert. , (Übersetz. von HerzWilhelm Hertz übersetzte 1883 unter dem Titel „Beowulfs Tod“ das Ende des Beowulf-Epos in Stabreimen [vgl. Wilhelm Hertz: Gesammelte Dichtungen. Stuttgart 1900, S. 467-477].). Eine ausgezeichnete Darstellung der FieberglutBeowulf stirbt an den Folgen eines giftigen Drachenbisses (V. 2818 f.). des Königs in Stabreimen nahe dem Schluß lockte mich zur näheren Betrachtung.


4/XI.

Nun war ich bei Großmama, die ungeheuren Gefallen an der „Zensur“ fand.

Heute bin ich wieder da, zerknirscht. Hier fiel ein kleiner Vorfall vor, der die Gefühle des Herrn Dir. unserer Anstalt tief verletzte „. Ein Gebrauch von manchen nicht salonfähigen Wörtern bei einem Spiel abends nach Tisch, dessen Anstifter ich war! Deswegen, wenn sich meine Kollegen in „diverse Sachen“ verirren muß | ich doch nicht der Verführer sein, für den mich unser Direktor haltet!

Wie lange meines Bleibens hier sein wird stellte er gestern abend nach meiner Ankunft in Frage! Was dann von mit mir geschehen wird – ich weiß es nicht!!! Wohin mich dann meine ratlose Großmama stecken wird – Gute Nacht – ! Ich wahr wohl nie etwas andres, als ein Spielball für die sowohl äußeren, als inneren Gewalten. Bin neugierig, wenn auch mir einmal das Glück lächelt – Bis jetzt noch nie. Was dann mit mir geschehen wird, S/W/ohin sie mich wieder werfen – .

Viele Grüße
Ihr dankschuldiger Fritz.


P.S.

Bitte k/d/en „Simson“ bei diesen Verhältnissen nicht zu schicken! Viele Handküsse an die gnädige Frau Gemahlin, Grüße an die lieben Töchter!

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Mischschrift (Kurrent und lateinische Schrift).
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 17 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Das Papier trägt diagonal das Wasserzeichen „Star Mill“ mit Emblem. Zwei Korrekturen wurden mit Bleistift ausgeführt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Etappenbrief, geschrieben am 1. und 4.11.1913 in Salzburg; dazwischen besuchte Friedrich Strindberg Mondsee und schrieb von dort eine Postkarte [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 3.11.1913].

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 165a
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Friedrich Strindberg an Frank Wedekind, 1.11.1913 - 4.11.1913. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

21.12.2023 11:23