Kennung: 23

Lenzburg, 23. Juli 1884 (Mittwoch), Postkarte

Autor*in

  • Greyerz, Minna von

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Zu Deinem frohen Wiegenfeste
Wünscht „SturmwindMinna von Greyerz' romantisch-poetischer Beiname im Lenzburger Freundschaftsbund "Fidelitas"." Dir das Allerbeste!
Zwar bist Du gar nicht ritterlich
Verdientest keinen Gruß von „mich".
Im Gegentheil es ist recht schnöde,
Daß Du so stumm bleibst oder blöde.
Herunter möcht' ich Dir kapiteln,
Allein was helfen solche Mitteln?
Und nochVermutlich stand geschrieben: "noch". dazu am Jahrestage
Hört man nicht gern der Freundschaft Klage.
Drum will den Vorwurf ich verkürzen
Und mich in die Erzählung stürzen:
Das Buch von KoeberGemeint ist sehr wahrscheinlich Raphael von Koebers Publikation "Das philosophische System Eduard von Hartmann's" (1884). ist gekommen
Und wurde freudigst aufgenommen.
An „Tante P.Die sog. philosophische Tante Olga Plümacher." schrieb ich dann wieder
Ne' Dankepistel sofort nieder;
Bald darf ich ihren Brief erwarten
Ich freu' mich drauf ganz – außer Arten.
Das Jugendfest Das Lenzburger Jugendfest findet heutzutage am zweiten Freitag im Juli statt. Es ging hervor aus den Feierlichkeiten des Lenzburger Kadettenkorps. Die kirchliche Feier umfasste Musikaufführungen; außerdem wurden Festreden gehalten. Einen der Höhepunkte bildete der Festzug durch die Stadt. Das Nachmittagsprogramm bestritten die Kadetten: Ein weiterer Höhepunkt des Festes war und ist die spektakulär nachgespielte ruhmreiche Verteidigung Lenzburgs während des Sonderbundkrieges. Die Schuljugend sang und tanzte, und natürlich wurde auch Essen und Trinken angeboten. Vergleiche Neuenschwander Band 3 (1994), S. 372ff. verlief gelungen,
Ich selbst hab' tüchtig mitgesungen
Bin stramm gelaufen mit den Jungen
Und hab' sogar noch Lob errungen
Von einem dicken, liebenZunächst gestrichen, anschließend wurde die Streichung wieder aufgehoben. rothen Herrn
Doch mehr verrathe ich nicht gern.
Beleuchtung blau, gelb, grün und roth
Frau JahnZwischen der Familie Wedekind und der Apothekerfamilie Jahn bestanden freundliche Kontakte. Nach dem Tod ihres Mannes Victor Jahn (1837-1882) führte Bertha Jahn (geb. Ringier, 1839-1894) die Löwenapotheke weiter und stellte als Gehilfen den Pharmazeuten Adolf Spilker ein. Die Kinder beider Familien kannten sich über den gemeinsamen Besuch der Lenzburger Bezirksschule. Spätestens seit 1884 entstand zwischen Franklin Wedekind und Bertha Jahn, die literarisch sehr interessiert war und selbst Gedichte verfasste, ein freundschaftliches Verhältnis, in dem Bertha Jahn die Rolle der kunstsinnigen Vertrauten zukam, welcher der junge Poet sein aus Gedichten und Prosaskizzen bestehendes Heft „Memorabilia“ (s. STA 1/I, S. 776) sowie die Gedichtsammlungen „Poesie“ und „Stunden der Andacht“ zur Kritik überließ (s. STA 1/I, S. 792 u. S. 798). Ab September 1884 nahm ihre Freundschaft – nach dem Muster „Die Herrin und ihr Page“ – den leidenschaftlichen Charakter einer idealisierten Liebesbeziehung an, die in den „Kraterliedern“ von Bertha Jahn und Franklin Wedekind ihren poetischen Ausdruck fand, s. STA 1/I, S. 781 u. 788. im Städtchen uns dann bot.
Nachdem die Lichter ausgegangen,
Zwölf Paärchen sich im Tanz noch schwangen,
Bis daß die Glocke 2 Uhr schlug,
Dann hatten endlich sie genug.
Ach, leider war ich nicht dabei,
Es bricht mir fast das Herz entzwei!
Und dennoch bin ich wolgemut,
Es ist dochSchaden durch Lochung: "ch" vermutlich stand geschrieben "doch". Manches schön u gut.
Noch viel wüßt' ich Dir zu erzählen,
Allein, die Zeit läßt sich nicht stehlen.
Verzeih' mir nunmehr meine KnittelIn Lyrik, Epik und Dramatik angewandtes Versmaß; wie das Beispiel zeigt, ein Reimpaarvers, in der Regel drei- oder vierhebig (Betonung); im Übrigen das wichtigste Versmaß der frühneuhochdeutschen Dichtung.
Humor erscheint selten oder und nur „little“,
Wohlan, erfreue Du mich wieder
Mit einem Deiner Heldenlieder
Und sei gegrüßt viel tausend Mal
Von wem, – ist Dir wol ganz egal. – /
                                                 23.VII 1884. Lenzburg.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 1 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Adresse: lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 14,5 cm x 9,5 cm. Klein-Oktav. Gelocht. Querformat.
Schreibraum:
Rückseite der Postkarte längsseitig beschrieben, Datumszeile am rechten Seitenrand quer eingetragen.
Sonstiges:
Briefgedicht.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Die Postkarte wurde Frank Wedekind sehr wahrscheinlich am 24.7.1884 an seine Lausanner Adresse zugestellt.

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
388-389
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek. Monacensia (München) et Minna von Greyerz

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
089 419472-13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 56
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Familie Rudolf Bertschinger, Lenzburg, und dem Literaturarchiv der Monacensia, München, für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Minna von Greyerz an Frank Wedekind, 23.7.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (08.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Prof. Dr. Hartmut Vincon

Zuletzt aktualisiert

07.08.2023 11:42