Kennung: 2200

Aarau, 16. Dezember 1880 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Sutermeister, Moriz

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Aarau, gez. 16 Dec. 1880.


IchDer zukünftige Theologiestudent Moriz Sutermeister bietet einen aus Bibelstellen und literarischen Versatzstücken (Shakespeare, Goethe) zusammenmontierten Text in grobianischer Tradition. M Sutermeister, ein ziemlich festes KalbFestkalb, ein zum Fest geschlachtetes oder zu schlachtendes Kalb; in Anlehnung an Lukas 15 (das Gleichnis vom verlorenen Sohn). zu brechen ( haben mit großer Vergünstigung alldiweil u. sintemalscherzhaft altertümelnd für Begründungen (weil, indem), z.B. in Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“ III/3: „Sintemal und alldieweil“ (so die Narrenfigur Valerio). „Sintemahl“ ist „ein Bindewort, welches einer angeführten Ursache zur Begleitung dienet, und seinen Stand allemahl zu Anfange des Satzes hat, für weil, indem“, es ist „veraltet“ und wird nur noch in „den Kanzelleyen“ gebraucht, „wo man die Wörter […] nicht vielsylbig genug bekommen kann, und daher wohl gar ein sintemahl und alldieweil zusammen setzet, obgleich alle sieben Sylben nichts mehr sagen als weil, indem“ (Adelung 4, 109). u. das Kalb gleich ist den nichts unter Umständen Go chaibe Muni(schweiz.) mehrdeutig, unter anderem: stöhnendes krankes Rindvieh; Tölpel. der Muni sticht(schweiz.) stößt. nicht übrigens bezeuge ich (u. keiner hat ihr Rätsel aufgehellt) das all mein Hab u. Gut, welche der Teufel als echter Windbeutel des Himmels u. der Erde im Höllendampf des spektirlich in den Abgrund des Höllenpfuls stieß des Rauchensteinianschen Jaucheloh/c/hesdas Plumpsklo der Familie Rauchenstein, Frank Wedekind wohnte mit seinem Bruder Armin während der Schuljahre 1879/80 und 1880/81 in Pension bei dem Altphilologen Professor Friedrich Rauchenstein, der ehemals Rektor der Kantonsschule war. Möglicherweise wohnte dort auch Moriz Sutermeister. sich aus dem Urgrund erschloß (Indessen kracht der Oft/e/n) also sagen wir „ja, ja ich esse Kirschen, 200000 Sein u Nichtseinphilosophische Grundbegriffe; ähnlich die berühmte Stelle in Shakespeares „Hamlet“ III/1: „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage“ [Shakspeare’s dramatische Werke, übersetzt von August Wilhelm Schlegel. Dritter Theil. Berlin 1798, S. 232]. und „aber“ sprach EsauSohn des Isaak und der Rebekka, Zwillingsbruder des Jakob, dem er im Tausch für ein Linsengericht das Erstgeborenenrecht abtritt [vgl. Genesis 25].im Anfang war der Sinnin Bezug auf Joh. 1,1 Zitat aus Goethes „Faust I“ (Faust, Im Studierzimmer): „Geschrieben steht: ‚im Anfang war das Wort!‘ / Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort? / Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, / Ich muss es anders übersetzen, / Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. / Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.“ [Goethes Werke (WA), Bd. 14, S. 62f. = V. 1224-1229][“] (vulgo(lat.) gemeinhin genannt. Unsinn) Die unbewußte Intelligenz u. die bewußte Unintelligenz reagirte neutral. Drauf kehrte SaraStammmutter Israels, Frau des Stammvaters Abraham, dem sie den Sohn Isaak gebiert; nach der biblischen Genealogie ist sie die Großmutter von Esau. den Podex(lat.) das Hintere, Gesäß, Popo. u das/er/selbe sprach „Omdie heiligste Silbe im Hinduismus, der Urgrund von allem; hier lautmalerisch: ein Furz.“ u. d. Volk dathmete schwer, tief u. gedehnt wie aus einem Munde. aber wie erstaunte Isidor(griech.) Geschenk der (Göttin) Isis, in der Antike beliebter griechisch-römischer Vorname, den Juden mit den Vornamen Isai oder Isaak den Antisemiten gegenüber verwendeten, um nicht sofort als Juden aufzufallen [vgl. Wörterbuch der Antike. Hg. von Hans Lamer u. Paul Kroh. 10. Aufl. Stuttgart 1995, S. 341]. Hier Anspielung auf Isaak, den einzigen Sohn Abrahams, der ihn auf Gottes Geheiß wie ein Tier auf dem Berg Morija zu opfern bereit ist [vgl. Genesis 22]., das goldene Kalbbiblisches Symbol, das den älteren Stierkult als Götzendienst kritisiert [vgl. Exodus 32,1-29], hier Synonym für Isidor = Isaak. u. AbrahamStammvater Israels, in biblischer Tradition der Vater schlechthin. sprach: vom Gipfel u. Bierstempel, verderbet alle Ihr Völker. u. du Gott, laß mich allein, hier richt ich meine Wirthschaft ein, Concordia(lat.) Eintracht. soll ihr Name sein | wer aber nach mir kommt dem Vermache ich kraft meiner bewußten UnI/i/ntelligenz V einen ungeheuren Furz u. was drum u. dran hängt – Auch über das Gewitter erhob sich der Schädelvgl. in Shakespeares „Hamlet“ die Szene V/1, in der bei Gewitter Hamlet und ein Totengräber einen Schädel betrachten. – Wetter als Thema war auch anderweitig nahegelegt: Meteorologie stand im Physikunterricht der IV. Klasse, die Moriz Sutermeister besuchte, auf dem Stundenplan. dar. Aber die Vernunft hat 0 die Epochen mit einer Geschwindigkeit von 0,5.Die Filtergeschwindigkeit zur mechanischen Trennung von Stoffen wird in Meter pro Stunde (Einheit m/h) berechnet. Bei einem Wert von 0,5 m/h spricht man von Langfiltration. – Im Chemieunterricht hatte die IV. Klasse im Sommer „Trennungsmethoden der wichtigsten Elemente“ durchgenommen [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule (Schuljahr 1880/81) 1881, S. 19]. abfiltrirt, jenen Tag des Zorns, jenen – Die drei Anfangsverse des mittelalterlichen Hymnus „Dies irae dies illa“ nach der Übersetzung des Schweizer Dichters Johann Jakob Reithard sind, durch Texteinschübe anderer Provenienz voneinander getrennt, zitiert nach dem Religionslehrbuch der II. Klasse der Kantonsschule Aarau: „Jenen Tag des Zornes, jenen, / Den Sybill und David nennen, / Wird die Welt zu Staub verbrennen“ [Bernhard Spiegel: Geschichte der christlichen Kirche. Ein Lehrbuch für höhere Lehranstalten, wie auch zum Gebrauch für Gebildete. Leipzig 1863, S. 50f.]. – Das aus 20 Strophen bestehende Requiem über das jüngste Gericht war über Jahrhunderte fester liturgischer Bestandteil der römisch-katholischen Totenmesse.aber hier ist sie nicht in ihrer Unbegrenztheit, denn sie SibillSibylle von Erythrai, heidnische Prophetin, eine der 10 Sibyllen. u. Davidbiblischer König Israels. nennen und Absalon schindet die Geigenmit Anklang an Absalom, König Davids Lieblingssohn, der sich gegen seinen Vater auflehnte, was tödlich endete [vgl. 2. Samuel 13-18], wohl Anspielung auf Ludwig Uhlands dramatisches Gedichtfragment „Das Ständchen“, in dem in einem Streitgespräch zwischen Junker David und seinem Bedienten Absalon über das Geigenspiel jener Absalon das Instrument zerstört: „Er schleudert die Geige an die Mauer.“ [Ludwig Uhland. Gedichte. Stuttgart 1859, S. 168]. Er lebe hoch! Wird d. WeldSchreibversehen, statt: Welt. zu Staub verbrennen, keiner kann mich von ihr trennenzusammen mit dem vorhergehenden Satz möglicherweise Anlehnung an das Kirchenlied „Herr ich glaube, Herr ich hoffe“, 5. Strophe: „Nichts soll mich von dir mehr trennen, droht die Welt mich zu verbrennen.“ [Carl Lütkenhaus: Katholisches Gebeth- und Gesangbuch insbesondere zu Gebrauche bei dem öffentlichen Gottesdienste (...). Münster 1842, S. 251]. Das AndereDas andere berühmte Gedicht der Gotik neben dem „Dies irae“ ist das von Jacoponus da Todi verfasste ebenfalls 20 Strophen umfassende Gedicht „Stabat mater dolorosa“ von der schmerzerfüllten Mutter Jesu am Kreuz. Beide Gedichte haben Eingang in Goethes „Faust I“ gefunden [vgl. „Zwinger“, V. 3587-3619; „Dom“, V. 3798-3799]. – Fortsetzung der durch Einschübe unterbrochenen Zitation aus dem Religionslehrbuch der II. Klasse der Kantonsschule Aarau: „Das andere ist von Jacoponus († 1306) und hat den Tod Christi zum Gegenstande. Es beginnt: Mutter, ach, du kummerbleiche“ [Bernhard Spiegel: Geschichte der christlichen Kirche. Ein Lehrbuch für höhere Lehranstalten, wie auch zum Gebrauch für Gebildete. Leipzig 1863, S. 50]. ist von Jakobonus. Aber meine Stunde geht ins Himmelblau mit PerserkerwuthBerserkerwut, nach den Berserkern, den im Blutrausch kämpfenden Kriegern aus der altnordischen Mythologie. u. hat den Tod Christi zum Gegenstande, übrigens hab ich keine 10meilenstiefelnach Märchen der Romantik Zauberstiefel, in denen mit jedem Schritt 10 Meilen zurückgelegt werden kann.. E Es beginnt die schaurige Komödie „Eboliwohl die Prinzessin von Eboli, die intrigante Hofdame in Friedrich Schillers Drama „Dom Karlos“ (1787)., bewahre deine Brust vor Unheimlichkeit, Mutter, ach, du kummerbleichedas „Stabat mater dolorosa“ in der Übersetzung von Moritz Alexander Zille: „Mutter, ach du kummerbleiche, / Schmerzbeladne, thränenreiche, / Die am Kreuz des Sohnes steht! / Durch die Seele voller Klagen, / Die dein Mutterherz zernagen, / Jetzt das Schwert zerschneidend geht!)“, dem in Spiegels Lehrbuch der Satz „Es ist aber leicht erklärlich,“ folgt [Bernhard Spiegel: Geschichte der christlichen Kirche. Ein Lehrbuch für höhere Lehranstalten, wie auch zum Gebrauch für Gebildete. Leipzig 1863, S. 50]. in corpore(lat.) im Körper, im Ganzen.. Es ist aber leicht erklärlich. Daß ich dir demnach nichts destoweniger ziemlich gleichgültig u. aufopferungsfähig folgende Artikel |Textabbruch in der Zeile; kein Übergang nach dem Seitenumbruch von Seite 2 (Blatt 1) zur Seite 3 (Blatt 2).

In dennen(schweiz.); gemeint ist: Indessen. bei aller Innigkeit des Gemüthes der praktische Satz doch gilt: Du kannst wenn doch du willst.Redewendung nach Matthäus 8,2 und Markus 1,40. Nun war dies auch ge bis gegen Ende des 11. Jahrhunders/t/s nicht schwer möglich gewesen mo einen Jesuitischen Misthaufen in der 7. Potenz Blumengrüße in die Welt hinaus (ach herjeses) zu bierfritzenstudentisch für: pupsen, furzen.. Schluß Das Talent dagegen bildet sich in der Stillevgl. Goethes „Torquato Tasso“ (1807) I/2: „Es bildet ein Talent sich in der Stille, / Sich ein Charakter in dem Strom der Welt.“ [Goethes Werke (WA), Bd. 10, S. 117], aber der blausäurige Geist findet sich nur im Strom des Erdendrecks in harmonischer Unordnung


Leise lächelt dem die FreudeZitat aus Nikolaus Lenaus Gedicht „Die Gewitternacht“ (1832).
der dies Testament empfangen
Und dem ob den schönen Tönen
das verliebte Herz nicht bangt

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 17,5 x 21,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf Seite 2 befindet sich am unteren Rand (um 180 Grad gedreht) das Ende eines Textes von Wedekinds Hand: „gen und da es unnathürlich wäre, anzunehmen das Meer sei früher so hoch gestanden so folgt aus dieser Beobachtung der Schluß, daß die Alpen ehedem entweder gar keine oder doch niedrige Gebirge waren und sich erst nach u. nach zu ihrer jetzigen Größe erhoben haben.“ Es dürfte sich um ein Fragment handeln, dem ein Mittelstück fehlt, da der Text auf Seite 2 (Blatt 1) mitten im Satz abbricht und weder in grammatischem noch inhaltlichem Zusammenhang mit dem Beginn der Seite 3 (Blatt 2) steht. Auf Seite 4 ist mit Bleistift die Jahreszahl „1881“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 168
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Moriz Sutermeister an Frank Wedekind, 16.12.1880. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

07.12.2021 15:16