Sehr geehrter Herr Jeßner!
Wenn Sie eines meiner Stücke anders aufführenWedekind hatte Jessners Inszenierung von „Karl Hetmann, der Zwergriese“ in Königsberg (Premiere: 14.10.1916) nicht gesehen. Der Königsberger Theaterkritiker und Feuilleton-Redakteur Ludwig Goldstein sandte ihm zwischen 16.10. und 5.11.1916 jedoch zwei differenzierte, wohlwollende Rezensionen sowohl des Stückes als auch der Inszenierung [vgl. Ludwig Goldstein: Wedekinds „Karl Hetmann“. Zur Aufführung im Neuen Schauspielhaus. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 480, 12.10.1916, Abendausgabe, S. 2-3; ders.: Neues Schauspielhaus. Wie Jeßner Wedekind inszeniert. Ebd., Nr. 486, 16.10.1916, Abendausgabe, S. 2-3]. Auf dieser Grundlage urteilte Wedekind, seine Bezugnahmen auf Goldsteins Formulierungen sind hier nachgewiesen. Vgl. auch Wedkinds Brief an Goldstein vom 6.11.1916., als wie ich
es geschrieben habe, dann üben Sie dadurch öffentlich am Autor Kritik, indem
Sie sein Verständnis für das Theater und seine Wirkungen in Frage stellen.
Durch diese öffentlich ausgeübte Kritik entheben Sie den Autor jeden
Solidaritätsgefühls mit der von Ihnen veranstalteten Aufführung. Nun handelt es
sich zwischen uns aber um jene StückeSchon Jessners letzte Wedekind-Inszenierung am Thalia-Theater Hamburg, „Der Marquis von Keith“ (Premiere: 25.5.1914) wies, wie auch seine erste Wedekind-Aufführung am Neuen Schauspielhaus in Königsberg, „Karl Hetmann, der Zwergriese“ (Premiere: 14.10.1916), eine stark stilisierende, ausstattungstechnisch sehr reduzierte und deutlich auf das gesprochene Wort konzentrierte Form auf. Keith und Hetmann, von denen jedes über
100 Mal seine durchaus harmonische künstlerische Wirkung in der von mir
vorgeschriebenen Form bewiesen hat. Wenn Sie Aenderungen an meinen Werken
vornehmen, ohne mein Einverständnis dafür einzuholen, so steht es mir wol auch
frei, mich ohne Ihr Einverständnis über diese Aenderungen privatim zu äußernWedekind hatte Ludwig Goldstein am 6.11.1916 für dessen Rezensionen des Stückes und der Aufführung gedankt und diesem seine Kritik an Jessners Inszenierung mitgeteilt. Offenbar berichtete Goldstein Jessner in Königsberg hiervon, woraufhin dieser Wedekind seinen nur auszugsweise überlieferten Brief vom 16.11.1916 sandte. Die Stelle lässt erkennen, dass Wedekind seine Kritik zwar Goldstein, nicht aber Jessner mitgeteilt hatte.,
nachdem ich der Aufführung wegen öffentlich verhöhntnicht ermittelt. worden bin. Wenn Sie in
meinen Stücken die vorgeschriebenen Dekorationen weglassenIn seiner Rezension schrieb Goldstein, Jessner habe „auf jede umständliche Ausstattung verzichtet [...]. Kaum eine Spur unseres modernen Theaters mit seinen plastischen Dekorationen!“ [Ludwig Goldstein: Neues Schauspielhaus. Wie Jeßner Wedekind inszeniert. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 486, 16.10.1916, Abendausgabe, S. 2]. Wedekind nahm in seinem Brief an Goldstein vom 6.11.1916 hierauf Bezug. Jessner dürfte dies durch Goldstein erfahren haben, er verteidigte sich in seinem Brief vom 16.11.1916. oder durch andere
ersetzen, dann nehmen Sie ihnen die Möglichkeit, ihre Aufgabe zu erfüllen, die
im Keith darin besteht, wirkliches Leben zu gestalten, im Hetmann darin,
wirkliches Leben vorzutäuschen. Mich stellen Sie dem Publikum als einen Autor dar,
der darauf ausgeht, abstrakte TheorienIn seiner Rezension schrieb Goldstein: „dieses höhere Kasperltheater soll gar nicht ein Wirklichkeits-, sondern ein reines Ideenspiel sein“ [Ludwig Goldstein: Neues Schauspielhaus. Wie Jeßner Wedekind inszeniert. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 486, 16.10.1916, Abendausgabe, S. 2]. Schon in seinem Vorab-Artikel formulierte er: „Jeßner wird [...] dem Stück nicht verstandesmäßig, sondern rein künstlerisch beikommen und dementsprechend nur das Ideenspiel betonen.“ [Ludwig Goldstein: Wedekinds „Karl Hetmann“. Zur Aufführung im Neuen Schauspielhaus. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 480, 12.10.1916, Abendausgabe, S. 2]. auf die Bühne zu bringen, was meinen
künstlerischen Absichten direkt widerspricht und meiner Ueberzeugung nach mit
dramatischer Kunst nichts zu thun hat. Durch einen ausnahmsweise glücklichen
Zufall hatte ich vor kurzemAm 26.10.1916 fand eine einmalige geschlossene Aufführung von „Tod und Teufel“ in der Bonbonniere in München statt, bei der Wedekind mitspielte. in München Gelegenheit, auch für meinen Einakter
Tod und Teufel den Beweis zu erbringen, daß ich darin dramatisch, künstlerisch
und absolut bühnenwirksam gestaltet habe. Umsoweniger kann ich mich darüber
freuen, wenn Stücke wie Keith und Hetmann, für die ich diesen Beweis seit zwölf
und mehr JahrenDie Uraufführung des „Marquis von Keith“ fand am 11.10.1901 am Berliner Residenztheater statt, die Uraufführung von „Hidalla“ am 18.2.1905 am Schauspielhaus München. an unzähligen Bühnen erbracht habe, wieder auf den „rein
geistigen GehaltIn seinem lediglich auszugsweise überlieferten Brief vom 16.11.1916 schrieb Jessner vom „ideelle[n] Gehalt Ihres Werkes“.“ hin gespielt werden, den ich ihnen ja deshalb nicht
abstreiten will.