Kennung: 2165

Lenzburg, 22. Juli 1904 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Emilie (Mati)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Lenzburg 22. Juli 1904


Mein lieber Frank,

ich wünsche Dir zu Deinem GeburtstagWedekinds 30. Geburtstag am 24.7.1904. noch viel mehr Glück als Du in der letzten Zeit schon hattest. Das sind ja herrliche RecensionenEs dürfte sich um Rezensionen der „Erdgeist“-Vorstellung vom 24.6.1904 im Rahmen eines Gastspiel des Berliner Kleinen und Neuen Theaters am Münchner Volkstheater gehandelt haben, das Wedekind im Tagebuch notierte: „Abends Erdgeist.“ Hanns von Gumppenberg resümierte: „Im Volkstheater wurde Wedekinds ‚Erdgeist‘ in der vortrefflichen Wiedergabe durch das Ensemble des Kleinen und Neuen Theaters mit starkem, zuletzt stürmischem Beifall aufgenommen. Mit und nach den Darstellern erntete auch Wedekind selbst zahlreiche Hervorrufe. (Bericht folgt.)“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 293, 25.6.1904, Morgenblatt, S. 4] In einer Kritik heißt es: „Das Berliner Ensemble schuldete uns ein Stück von Wedekind, es hat uns den ‚Erdgeist‘ gebracht. [...] Wedekind als Zeiterscheinung ist unschätzbar; er faßt, wie in einem Hohlspiegel, viel vom besten Haß und viel von der besten Sehnsucht unserer Zeit in sich zusammen. Ich habe nur Achtung vor dem sonderbaren Ernste, mit dem er seine Grotesken erfüllt. Er hat nie auch nur eine Zeile Kitsch geschrieben. Das ehrt ihn. Wenn er dem sentimentalen und süßlichen Ungeschmacke Zugeständnisse machen würde, könnte er ein reicher Mann sein.“ [Münchener Volkstheater. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 107, Nr. 284, 26.6.1904, S. 1-2] die Frau LotteDie Rezensionen dürfte die mit Wedekind befreundete Lotte Dreßler von München nach Lenzburg geschickt haben. mir geschickt hat und es muß doch eine große Genugtuung für Dich sein, daß das Publikum anfängt Dich zu kapieren.

Hidalla habe ich einmal gelesen, möchte | aber nichts darüber sagen, bevor ich es nicht ein zweites mal gelesen habe. Übrigens wird Dir wohl auch nicht sehr viel an meinem Urteil liegen. Meine AngelegenheitenEmilie (Mati) Wedekinds Tätigkeit als Schauspielerin; sie trat im Sommertheater in Baden auf [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 219f.], das war das Stadt- und Casinotheater in Baden im Kanton Aargau (Spielzeit: 15.5.1904 bis 30.9.1904) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 266]. hier haben einen kleinen Unterbruch erlitten, d.h. nur das Auftreten. Die Direktion wechselteDirektor des Stadt- und Casinotheaters in Baden war nun Heinrich Hagin, zugleich Direktor des Stadttheaters in Würzburg und der Sommertheater in Baden-Baden und Karlsruhe [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 266]; davor war Oscar Moor-Schletterer Direktor des Stadt- und Casinotheaters in Baden [vgl. Neuer Theater-Almanach 1904, S. 221]. vor einigen Wochen. Es gab da Streitigkeiten unter den Leuten, mit denen ich Gott sei Dank nichts zu tun hatte. Nun mußte ich aber dem neuen Direktor meine Wünsche und Absichten auch wieder plausibel | machen. Erst wollte er nicht so recht drauf eingehen, aber schließlich versprach er mir doch, mich wenigstens alle 14 Tage auftreten zu lassen. Die Rollen kann ich mir da natürlich nicht auswählen. Aber das ist für den Anfang ja auch nicht wesentlich. Dazwischen habe ich nun die Marikkeweibliche Hauptfigur in Hermann Sudermanns Schauspiel „Johannisfeuer“ (1900). Johannisfeuer studiert und bin jetzt am ZapfenstreichEmilie (Mati) Wedekind lernte die Rolle des Klärchen Volkhardt aus Franz Adam Beyerleins Drama „Zapfenstreich“ (1903), eine der Neuheiten des Stadt- und Casinotheaters in Baden [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 266]. Diese Rolle hatte bei der Inszenierung des Stücks im Münchner Schauspielhaus Lili Marberg gespielt, gleich nach der Premiere (9.1.1904) von der Kritik gelobt: „Fräulein Marberg veranschaulichte das verführte Wachtmeister-Klärchen so lebenswarm als möglich“ [Hanns v. Gumppenberg: Zapfenstreich. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 15, 12.1.1904, Vorabendblatt, S. 1]; „Lili Marberg gab das ‚Klärchen‘ mit gutem Gelingen und feinem künstlerischem Verständnis. Sie verkörperte diese an und für sich schwierige Rolle in der trefflichsten Weise.“ [Münchener Ratschkathl, Jg. 16, Nr. 4, 13.1.1904, S. (5)] Frank Wedekind notierte „Zapfenstreich“ [Tb] am 18.4.1904 – er sah Lili Marberg (und Emil Lind in der Rolle des Major Paschke) in der Vorstellung an diesem Abend [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 181, 18.4.1904, Generalanzeiger, S. 3], gemeinsam mit seiner Schwester Mati (sie war vom 29.3.1904 bis 9.5.1904 bei ihm in München)., wobei mir natürlich immer Lilli Marberg vorschweebt.

LindchenEmil Lind, in München Schauspieler am Theater am Gärtnerplatz und am Münchner Schauspielhaus [vgl. Neuer Theater-Almanach 1904, S. 441], ist an das Deutsche Theater in Berlin gegangen; seine Adresse in Berlin war Marienstraße 16 [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 285]. schickte mir ein reizendes Album | von München; wenn ich wüßte wo er ist, würde ich mich dafür bedanken. Er wollte doch selbst auf einer Rundfahrt hier durchkommen, aber ich denke Du hast ihm gesagt, daß es jetzt gerade hier nicht ganz geheuer ist.

Mama sagte heute m/M/orgen, sie werde Dir auch gratulieren und jetzt, da ich sie darauf/an/ erinnere sagt sie, sie tut es innerlich. Im übrigen hat sie sich über mein Schicksal so ziemlich beruhigt. Zum Überfluß | hat sie die alte LinaHausangestellte bei Emilie Wedekind im Steinbrüchli. nun so gemaßgeregelt, daß sie gekündigt hat und ich vom 9. August an Mädchen für alles sein werde. Ich hoffe aber auch nächste Saison Engagement nach Würzburg oder Heidelberg zu bekommen und so der Langeweile zu enttrinnen.

Otti Bertschinger läßt Dich grüßen. Er bedauert sehr, daß Du nicht hier bist. Du willst wohl zu Miezes Gastspiel in München sein. Sie war auf der Durchreise nach Flims einige | Tage auf dem neuen Dolder in ZürichIn der Presse war wenige Wochen zuvor erwähnt, dass Erika Wedekind „zur Zeit im Dolder Grand Hotel in den Ferien weilt“ [Zürcherische Freitagszeitung, Nr. 28, 8.7.1904, Beilage, S. (1)]., wohin sie auch Mama beschied. So hatten sie und Armin Gelegenheit sich auszusprechen. Mieze scheint nach allen Seiten Ordnung geschafft zu haben. Auch Emmi Emma Wedekind (geb. Frey), Gattin Armin Wedekinds.hat offenbar ihr Teil abgekriegt, weil sie 6 Wochen lang an einem kranken Bein im Bett gelegen war und nachher besser aussah denn je, was umso unerhörter war, da Hammi nach allen Seiten Jammerbriefe über ihren | elenden Zustand geschrieben hatte. ‒‒‒

Ich danke Dir auch noch für Deine lieben aufmunternden Kartennicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Frank Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 11.6.1904; Frank Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 21.7.1904.. Jedes Wort tut einem in solcher Zeit gut.

Und nun leb’ wohl lieber Frank und sei aufs herzlichste begrüßt von deiner tr. Schwester
Mati.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Lenzburg
    22. Juli 1904 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 308
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 22.7.1904. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

02.10.2021 09:51