Kennung: 2125

Lenzburg, 30. März 1904 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Erika (Mieze)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Lenzburg 30. März 1904


Mein lieber Frank.

Gestern Vormittag habe ich eine Depesche an dichnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Erika Wedekind an Frank Wedekind, 29.3.1904. geschich/k/t mit einer Anfrage nach Mati, die seit gestern VormittagWedekind notierte am 29.3.1904 im Tagebuch: „Mati kommt nach München.“ Er hielt dann die Abreise der jüngsten Schwester am 2.4.1904 fest: „Mati fährt nach Lenzburg“, am 4.4.1904 die erneute Ankunft: „Mati kommt nach München zurück.“ in München sein soll und da ich wir bis heute noch keine Nach Antwort von dir haben, so ist es wohl besser, wenn ich dir schreibe und einige Aufklärungen über Mati’s Reise nach München gebe. Es wäre für Mamma und mich eine wahre Erlösung, wenn du, vorausgesetzt, daß du überhaupt gegenwärtig in München bist, uns bald Nachrichten über Mati geben wolltest. Am letzten Freitagam 25.3.1904. | kam ich mit Eva auf eine Woche hierher zu Besuch. Mati wollte eigentlich schon vorher nach PettighofenEmilie (Mati) Wedekind war von 1899 bis 1902 in Pettighofen bei einer Unternehmerfamilie als Hauslehrerin und Hausdame tätig gewesen [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 323], die sie später besuchte. fahren, blieb dann aber, aus Rücksicht für uns und um Mamma zu helfen noch zu Hause. Ich fand hörte nun vom ersten Augenblick meiner Ankunft an, von allen Seiten besonders aber von Sophie HämmerliSophie Marti war seit 1890 mit dem Lenzburger Arzt Max Haemmerli verheiratet., daß sich Mati den ganzen Winter nur mit dummen, unpassenden Liebesgeschichten abgegeben, die im gegenwärtigen Moment einen Grad angenommen, der es nöthig machte Mati so schnell wie möglich in eine andere Umgebung zu bringen, und vor allen Dingen sie zu einer anstrengenden, sie vollständig ausfüllenden Thätigkeit zu zwingen. Als ich Mati selbst die Tage über beobachtete fand ich sie in ihrem ganzen Wesen so verändert, | daß mir Himmel Angst wurde. Sie interessierte sich für gar nichts mehr jede Thätigkeit jede Handreichung für Eva oder mich schien ihr et im höchsten Grade wiederwärtig, sie selbst schien beständig abwesend und vollständig absorbiert von diesen, wenn auch nicht schlechten so doch furchtbar unwürdigen Liebesabenteuern. Als am Sonntag mir auch Armin erzählte, daß er de von diesen Sachen auch in Zürich gehört hatte, und mir Sophie Hämmerli mittheilte, daß sie es für ihre Pflicht halte, mir die ganze Sache mitzutheilen, da sie jetzt nichts mehr mit der Angelegenheit zu thun haben wolle, so fieng ich mit Mati an zu sprechen. Am Montag früh sprach ich erst sehr ruhig mit ihr, fand sie aber sehr abweisend und durchaus nicht geneigt mich ins Vertrauen zu ziehen und mir zu sagen, was sie sich eigentlich bei den Geschichten denkt. Abends | fing ich noch einmal davon an und jetzt allerdings etwas heftiger und eindringlicher, jetzt wurde sie ganz verstockt, verweigerte mir jede Auskunft und lief in Zorn und Bosheit hinter unserem Rücken ohne irgend ein Gepäck zum Hause hinaus. Ich hatte nämlich von ihr verlangt, sie solle mir das Versprechen geben, sowohl mit dem dummen 19. jährigen Paul Hämmerli, wie mit dem Doktor Gabler jeden Verkehr abzubrechen, dies Versprechen verweigerte sie mir offen heraus; worauf ich ihr sagte, daß ich unter diesen Umständen nicht weiter mit ihr verkehren könne. Als wir nun bemerkten, daß sie sich da im höchsten Zorn davongeschlichen, waren wir beide zwölf Stunden lange in der denkbar aufgeregtesten Stimmung. Sie ist ja eine so heftige undisciplinierte und mir so fremd gewordene Natur, daß ich beständig glaubte sie hätte sich was angethan. Ich lief Nachts um 12 zum Doktor Hämmerli | und fragte dort nach hier. Dieser gieng zu ihrem Vertrauten dem Doktor Gabler und unterdessen durchsuchte ich beide Bahnhöfe. Mamma und ich verbrachten wohl eine schauderhafte Nacht bis gestern Vormittag eineSchreibversehen, statt: ein. Telegrammnicht überliefert; ob Frank Wedekind oder Emilie (Mati) Wedekind das verschollene Telegramm nach Lenzburg aufgegeben hat, ist unklar. eintraf ohne Unterschrift.

Mati München, Brief folgt.

Da ich nicht wußte, ob diese Depesche von Mati oder dir war, so telegraphierte ich an dich. Gestern Abend kam dann Armin von Zürich um Mamma und mich etwas zu beruhigen. Wir alle dachten, wir würden nun heute früh den angekündigten Brief bekommen, aber bis jetzt ist noch nichts da. Da Mati nun auch gar nichts mit hat und wir auch nicht wissen ob sie bei dir oder allein in München ist sind wir in furchtbarer Sorge. Mati hatte die Absicht in 8 Tagen nach Dresden zu kommen aber nachdem sie mir jedes | Vertrauen und jeden Antheil an ihr verweigert und sich gegen Mamma und mich so furchtbar roh benommen hat, ist es mir unmöglich, sie in der nächsten Zeit wiederzusehen. Ich habe die feste Ueberzeugung, daß Mati wenn sie ihre jetzige Lebensweise weiterführt und sie in aller kürzester Zeit zu Grunde geht in Folge ihrer Veranlagung und ihrer Faulheit und Schwäche. Sie muß absolut ein anderes Leben anfangen und arbeiten so viel sie im Stande ist um aus diesem Sumpf herauszukommen. Ich kann dir nicht sagen wie entsetzlich weh mir diese Erkenntniß von ihrem Wesen gethan hat, und beschwöre dich, sie mit Strenge und Energie auf einen anderen Weg zu leiten. Sie sollte meiner Ansicht nach, so bald umgehend nach Hause kommen, Mamma um Verzeihung | bitten, ihre Sachen packen nach Pettighofen fahren und sich von dort aus eine Stelle suchen, in der sie ihr wieder einmal alle ihre geistigen und körperlichen Kräfte vollständig aufbrauchen anspannen muß. Sie ist in einer Weise unter dem Einfluß schlechter und schwacher Menschen, versumpft, daß kein Tag zu verlieren ist um sie zu retten.

Leider steht sie noch dazu auf dem bornierten Standpunkt, daß sie ein freier selbstständiger Mensch sei und N niemandem Rechenschaft schuldig sei. Wenn man sie von dieser Ansicht w/d/ie für ihren geistig und körperlich faulen und schwachen Menschen eben geradezu verderblich ist nicht zurückkommt, so ist es eine furchtbare schwere Aufgabe einen sie zu einem anderen Leben zu bringen. ich hoffe mein lieber | Frank, daß du meine und Mammas Herzensangst verstehst und da du doch einen großen Einfluß auf Mati hast sie zu anderen Ueberzeugungen bringen kannst.

Indem ich hoffe recht bald von dir zu hören grüßt dich
in Liebe
deine Schwester
Mieze.


Natürlich will ich wenn meine Hülfe nöthig ist in der Angelegenheit Mati eine Stelle zu suchen und eine Lebensstellung zu verschaffen gerne alles thun, was gethan werden kann, nur wiedersehen kann ich Mati in der nächsten Zeit nicht

Ich bin bis Sonnabend früh hier, dann von Sonnabend bis Montagvom 2. bis 4.4.1904. abend in Basel Lothringer Strasse 7. und Dienstag früh wieder in Dresden.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Lenzburg
    30. März 1904 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 311
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Erika (Mieze) Wedekind an Frank Wedekind, 30.3.1904. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

19.03.2024 13:31