Lenzburg 22. Sept. 1889.
Mein lieber Bebi!
Du wirst dich wohl ein bischen gewundert haben
über unser langes Stillschweigen, aber wir hatten immer alle Hände voll zu
thun, so daß kaum eines von uns dazu kam einen Brief zu schreiben. Jetzt,
Gottlob ist das Ärgste vorbei, wir haben nur noch Frl MinkDie Wedekind bekannte Dame war seit rund zwei Monaten Pensionsgast auf Schloss Lenzburg [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.1889]. bei uns, die sehr nett
ist und und/s/ sogar hie und da selbst an die Hand geht und hilft. Mamma
war eigentlich ein bischen ungehalten über dich, weßhalb sie dir auch bis jetzt
um so eher nicht geschrieben hat. Hammi und Emma waren nämlich 14 Tage zu Hause,
wobei Emma den armen Jungen gegen unsere Pensionäre„Wedekinds Mutter betrieb nach dem Tod ihres Mannes auf Schloss Lenzburg eine Pension für Feriengäste, um zusätzlich Einkünfte für sich und die Familie zu erzielen, solange das Schloss noch nicht verkauft war.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 136], speziell gegen Frl Mink, die eben mit Mamma auf
sehr gutem Fuße stand, aufhetzte, so daß Hammi einmal herausplatzte und die/er/ Scandal los gieng. Während der
höchsten Spannung | nun kam dein Brief an Hamminicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Armin Wedekind, 19.8.1889. mit deinen sarkastischen Bemerkungen über den Schanzenabbruch„Im Jahr 1889 waren diverse Restaurierungsarbeiten, [...] auch an der Schanze, dem Befestigungswerk auf Schloss Lenzburg, notwendig geworden. Im Zuge dieser Arbeiten beschloss die Gemeinde Lenzburg, den Schlossfelsen wegen eines möglichen Absturzes untersuchen zu lassen“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 149], wobei diese am 26.2.1890 abgeschlossenen Untersuchungen ergaben, ein Abbruch der Schanze sei nötig, was wiederum zum Streit zwischen Emilie Wedekind und der Stadt Lenzburg führte [vgl. ebd.]. Wedekind hat von dem schon vorher zur Debatte stehenden Plan, die Schanze auf Schloss Lenzburg abzureißen, durch einen am 15.8.1889 erhaltenen Brief seiner jüngeren Schwester erfahren [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 11.8.1889]., die dann
Hammi mit größtem Wohlbehagen auftischte und dabei sich dir vollkommen
anschloß, wenngleich er sonst gerade immer bei dir den Grund zu aller Disharmonie zwischen uns und Emma sucht. Emma ist nämlich zu
schlau, sie benutzt jetzt die Zeit da sie in anderen Umständen ist, Hammi gegen
uns zu hetzen soviel wiel möglich, allen alten Kram vor ihrer
VerlobungszeitSie begann im Frühjahr 1888 [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1888] und endete mit der Heirat von Armin Wedekind und Emma Frey am 21.3.1889. her hervorzuholen und uns zum Vorwurf zu machen, natürlich mit
dem sicheren Bewußtsein, daß man aus Rücksicht gegen sie, ihr jede Aufregung
ersparen muß und Hammi demnach alles allein aushalten muß. Er hat mir letzthin,
als ich in Zürich war dermaßen zugesetzt, daß ich ihm meine volle klare Meinung über Emma sagte,
nämlich daß ich sie als eine rafinirte, kluge, berechnete Schlange ha ansehe,
mit der zu conkurieren weder Mamma noch mir
selbst möglich sei. Zwischen Mamma und ihnen ist die Sache dahin gediehen, | daß
Mamma nicht mehr nach Zürich geht und daß uns sehr wahrscheinlich Emma diesen
Winter auch nicht mehr besuchen wird. Bei alle dem dauert mich Hammi unendlich,
denn er ist jetzt auf dem Punkt der Erkenntniß angekommen, und doch gerade
jetzt in der Aussicht, in einigen Monaten Vater zu werdenDas erste Kind von Armin Wedekind und seiner Frau Emma wurde am 9.1.1890 geboren (ein Sohn)., dermaßen von seiner
Frau moralisch geknebelt, daß er sich nicht rühren kann. Er hat mich bei
unserer letzten Unterredung ganz unendlich gedauert denn dabei erkannte ich
erst recht seinen Seelenkampf und seine innere Unbefriedigung. Wir werden jetzt
einen sehr stillen Winter vor uns haben und wenn ich dich in Mammas Sinn um
etwas bitten dürfte, so wäre es, daß du einmal nach Hause kämest. Sie selbst
hat mir zwar verboten dir davon zu schreiben, aber sie würde sich doch
furchtbar darüber freuen, denn sie hat jetzt doch gar Niemand, als mich und ich
selbst habe das Gefühl, daß ich ihr bisweilen ein bischen langweilig, das heißt
eben nicht mehr neu bin, dafür würde ihr ein näherer Verkehr mit dir, dem
geistigen Oberhaupt un|serer Familie sehr gut thun. Zu Weihnachten kommt dann
auch die dicke Emilie, die uns allen wieder sehr viel Spaß machen wird. Von
Doda haben wir schon lange keine Nachrichten mehr, der beste Beweis, daß es ihm
gut geht. Willy und Anna schrieben uns zuletzt von Madeira aus, jetzt werden sie wohl schon an Ort und StelleWilliam Wedekind und seine Frau Anna waren nach Südafrika ausgewandert, wo er sich zunächst als Farmer niederließ; er „machte dann Karriere als Eisenbahnbeamter und vertrat als Schweizer Konsul die Interessen seinen Ursprungslandes.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 19] sein. Es ist
merkwürdig den Contrast zu beobachten zwischen
unseren beiden Ehelpaaren, ich glaube sogar Hammi selbst hat ihn am
allermeisten gefühlt, denn er war an der HochzeitWilliam Wedekind und seine Cousine Anna Kammerer hatten am 25.7.1889 in Zürich geheiratet, bevor sie sich bald darauf auf ihre Reise nach Südafrika begaben. dermaßen in Anna verliebt,
daß Emma immer steifer und unbehalglicher wurde. Anna sah übrigens auch
entzückend aus, sie erinnerte uns alle, an eine HaihnnixeEine Nixe (Wasserjungfrau) in einem Hain (Wäldchen) war im Fin de Siècle ikonographisch ein beliebtes Motiv.! Was nun aus deinen
versprochenen Photographien geworden ist, möchte ich wohl wissen, wenn sie
nicht vorhanden ist, so tröste uns doch recht bald einmal mit dem Original!!
Mit 1000 Grüßen deine
Mieze.